Ob Donald Trump oder Joe Biden die US-Wahl gewinnen wird? Ich bin Wissenschaftler, kein Wahrsager. Deshalb traue ich mir keine Prognose zu. Es gibt Erkenntnisse der Medienforschung, die Zweifel am sicheren Sieg von Biden nähren – auch wenn die Demoskopen und viele Journalisten seit Wochen, wie schon vor vier Jahren, einen Sieg der Demokraten prognostizieren.
Für Trump spricht schlichtweg dessen Omnipräsenz in den Medien. Zu ihr verhelfen ihm nicht zuletzt immer wieder Journalisten, wenn sie seine erlogenen und häufig absurden Tweets weiterverbreiten – oftmals lustvoll und hämisch, aber stets Aufmerksamkeit generierend und garantierend.
Ob man ausgerechnet in einem riesengrossen, von krasser Spaltung geprägten Land wie den USA Wahlen gewinnen kann, indem man wie Joe Biden möglichst unsichtbar bleibt und darauf hofft, dass sich der Gegner selbst aus dem Rennen katapultiert? Zwei wissenschaftliche Konzepte, die nicht taufrisch, aber weiterhin valide sind, sprechen dagegen.
Auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten
Der Wiener Sozialforscher Georg Franck hat seine „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ soeben in einem neuen Buch weiterentwickelt zu „Vanity Fairs“, sprich: Jahrmärkten der Eitelkeiten. Auf ihnen tummeln sich auch viele von uns Normalbürgern, zum Beispiel auf Instagram, Tiktok, Youtube und Facebook.
Am sichtbarsten tun das aber eben „Influencer“ sowie notorische Selbstdarsteller. Gerade ihnen gelingt es erstaunlich oft, ihre mediale Präsenz und Prominenz auch in Geldeinkommen oder eben in Wählerstimmen zu verwandeln. Donald Trump ist wohl der weltweit sichtbarste von allen.
Die Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann hat mit ihrer „Schweigespirale“ darauf aufmerksam gemacht, dass viele Menschen aus Isolationsfurcht in der Öffentlichkeit und häufig auch gegenüber Demoskopen mit der eigenen Meinung hinterm Berg halten.
Sie fühlen sich von den wortgewaltigen Hütern der veröffentlichten Meinung eingeschüchtert.
Aktivisten für kulturelle Hegemonie
Tatsächlich sehen sich ja viele Medienschaffende inzwischen nicht mehr als Gralshüter unvoreingenommener Wahrheitssuche, sondern – bis in die höheren Ränge der „New York Times“ hinauf – als Aktivisten, die in der Tradition des Philosophen und Kommunistenführers Antonio Gramsci um „kulturelle Hegemonie“ kämpfen und gerne den Eindruck erwecken, sie repräsentierten die „Wahrheit“ und die Mehrheit. So wird die tatsächliche, schweigende Mehrheit verschleiert – und das wiederum erklärt recht schlüssig, weshalb Wahlprognosen und Wahlergebnisse so oft stärker voneinander abweichen als erwartet.
Neben Corona ist in Amerika wohl nichts und niemand in den Medien so allgegenwärtig wie der amtierende Präsident. Wir sollten nicht allzu überrascht sein, falls sich diese Omni- und Dauer- Präsenz auch im Wahlergebnis niederschlägt.
Dieser Artikel erschien auch im Berliner Tagesspiegel.