Die täglichen Nachrichten aus dem Iran und die Meldungen und Geschichten, die in den sozialen Netzwerken der Iraner und Iranerinnen kursieren, treffen einen mittlerweile so schmerzhaft, dass man nicht einmal mehr in der Lage ist, ein Posting zu kommentieren oder aus Verbundenheit ein paar Sätze zu einem Bild zu schreiben. Als ob die Begriffe nicht mehr in der Lage wären, ihren Sinn zu übertragen. Sie kratzen an der Oberfläche und ziehen weiter. Was übrig bleibt, ist Ratlosigkeit. Ein Seufzen. Oder Schimpfworte, die man aus Anstand herunterschluckt.
Den folgenden Text habe ich aus einer solchen Empfindung heraus geschrieben: eine Art Ringen, um der Stummheit zu entkommen. Und vielleicht befinden sich zurzeit viele von uns Iraner und Iranerinnen in einem ähnlichen Zustand. Hin- und hergerissen zwischen der Notwendigkeit einer Stellungnahme, einer Reaktion, und der Ohnmacht, die sich uns aufdrängt.
Den Alltag verbringe ich hier und jetzt. Meine Gedanken aber sind oft woanders, verfolgen jene Ereignisse, die im hiesigen Alltag keine Relevanz finden. Fasste ich mein Empfinden dieser Gegenwart in einem Wort zusammen, lautete dieses: Krise. Die Krise des Iraner- und Iranerinnen-Seins, die Krise des Migranten- und Migrantinnen-Seins, des Flüchtling-Seins, die Krise des Anders-Seins.
Das Bild dieser Empfindung ähnelt einem zerbrochenen Spiegel, scharf und rücksichtslos. Egal, wo ich ihn anfasse – er schneidet und verletzt.
Ich lebe und arbeite in Deutschland und reise berufsbedingt durch Europa. In der Sicherheit und dem Komfort jenes Kontinents, in dem zu leben der Traum Tausender Menschen gewesen ist, die in den vergangenen Jahren und Monaten in dessen umliegenden Gewässern ums Leben gekommen sind – und sicherlich auch weiter auf diese Weise sterben werden. In jenem Kontinent, unter dessen gepflegter Erscheinung Fremdenfeindlichkeit lauert und sich ausbreitet. Mein Zugehörigkeitsgefühl zu diesem Kontinent, das ich mir jahrelang mühsam und zuversichtlich aufgebaut habe, droht zu verschwinden.
Ein Land voller Wunden und Schmerzen
Es sind die Sorgen um den Iran, die mich zur Zeit erschüttern. Wenn ich an meine alte Heimat denke, kommt mir das Bild eines geliebten Körpers in den Sinn, verletzt und hilflos an einen Obduktionstisch gefesselt. Das Leben wird diesem Leib ausgesaugt. Er kann sich nicht befreien.
Ich bin den Menschen im Iran durch ihre Not hindurch weder eine Begleiterin, noch werde ich den Drang los, eben dieses Unmögliche zu sein.
Je bedrohlicher die Krise, desto dringlicher meine Anstrengung, die Lage zu verstehen und mich mit dem Ort zu verbinden, von dem ich ferngeblieben bin. Fast in Hysterie renne ich den offiziellen Nachrichten und den Berichten der Aktivisten und Aktivistinnen hinterher. Häufiger denn je nehme ich Kontakt zu meinen Freunden und Bekannten im Iran auf, um auf dem Laufenden zu sein.
Alles wirkt labil und brüchig, wie kurz vor dem Zerfall. Wenn man überhaupt von einer Gewissheit sprechen kann, dann von jener über die Präsenz einer unerbittlichen Krise, die von allen Seiten zuschlägt, alles überschwemmt und etliche Abgründe freispült. Egal, wie viel Leid und Not man aufzählt: Es gibt immer jenes, das man nicht erwähnt hat.
Diese Zeit scheint wie ein Ungeheuer zu sein, das ununterbrochen Opfer verlangt. Und es birgt Tausende noch erschreckendere Gesichter, die es zeigen könnte.
Die Gefahr der täglichen Wiederholung
Diese Feststellung wirkt noch bitterer, wenn man an die Zukunft denkt. Nicht die abstrakte Zukunft, die noch hoffnungsvoll sein darf, sondern die reale Zukunft, deren Wurzeln in der gegenwärtigen Misere stecken.
Immer mehr Menschen im Iran rutschen in Armut und Elend. Die Lebenskosten steigen stetig, Arbeits- und Obdachlosigkeit wachsen rasant. Die Begriffe, die die Not der Menschen beschreiben sollen, und die Bilder, die daraus entstehen, sind furchterregend. Diese Furcht spürt man jedoch aufgrund der täglichen Wiederholung nicht mehr. Zwischen der Beschreibung der Misere und dem Leben in dieser Misere ist eine Kluft entstanden, die uns nach und nach den Impuls raubt, Anteil an der Not zu nehmen.
Die Worte und Bilder wiederholen sich, wir gewöhnen uns an sie: an die Obdachlosen, an diejenigen, die in Gräben übernachten, an jene, die ausgeraubt worden sind, an die Scharen von Kindern, die den Müll aufwühlen und ihre Beute in Säcken hinter sich herziehen, die grösser sind als sie selbst. An die Telefonnummern derjenigen, die ihre Organe oder ihre Neugeborenen verkaufen, aufgeklebt an jeder Laterne. An Kinderehen. An Bilder von durch Erdbeben oder Überschwemmungen obdachlos gewordenen Menschen. An Bilder verbrannter Wälder und fortschreitender Dürre.
Die Gefahr des Kriegs und die anhaltende Unterdrückung
Die unselige Gefahr des Kriegs liegt in der Luft: Davon ist die Rede wie von einem makabren Gerücht. Das schürt Angst und Wut – und wird zugleich nicht ernst genommen. Ist es die alltägliche Last des Lebens auf den Schultern der Menschen, die die Gefahr des Kriegs so an den Rand drängt? Eine Gefahr, die so nah ist wie noch nie. Wer sich im Heute nicht zurechtfindet, denkt und handelt auch nicht im Sinne des Morgen.
Die Unterdrückung wächst ständig und nimmt immer perfidere Züge an. Unterschiedliche Bereiche des Lebens sind davon betroffen: politische, soziale und wirtschaftliche Proteste, Wasserspiele von Jugendlichen im Park, tanzende Kinder auf dem Schulhof, die locker sitzenden Schleier der Frauen in ihren eigenen Autos. Unterdrückt wird alles – im ganzen Land. Diese Unterdrückung verhindert organisierte Proteste und kennt keine Gnade mit denjenigen, die die totale Vormundschaft des Regimes auch nur ansatzweise in Frage stellen.
Unauflösliche Blockaden und tief sitzende Perspektivlosigkeit lassen Wut, Hass und Enttäuschung entstehen. Wie Termiten fressen diese Gefühle die Menschlichkeit und die Zivilgesellschaft auf.
Die einen schlagen aus dieser Wut und dem Hass politisches Kapital. Mit ihren aufreisserischen Parolen giessen sie Öl ins Feuer und verbreiten Zorn und Rachegelüste, die sich durch die sozialen Netzwerke blitzschnell verbreiten. Die anderen bagatellisieren die Krise und lassen unter dem Motto „Reformierbarkeit des Regimes“ Trugbilder entstehen. Sie warnen andauernd, plädieren für faule Kompromisse und verbreiten Armseligkeit und Heuchelei. Und weder die einen noch die anderen können das Leid dieser Gesellschaft lindern. Sie sind keine Lösung, sondern Bestandteil der Krise.
Makabre Einbrüche
In den vergangenen Wochen wurde noch dreimal in das Haus meiner Eltern in Teheran eingebrochen. Da ein Einbruch über den Hof und durch den Eingang des Hauses kaum möglich ist, nahmen die Täter andere Wege. Das erste Mal kletterten sie mit einem Seil durch ein 80 Zentimeter breites Dachfenster nach unten und gingen auch wieder dort hinaus. Das Dachfenster wurde danach zubetoniert.
Das zweite Mal waren die Einbrecher gerade dabei, das Fenstergitter des Balkons im Obergeschoss zu durchbiegen, als ein Nachbar die Polizei verständigte. Diese kam eine halbe Stunde später. Eine zweite Reihe Gitter wurde danach entlang der Fensterreihe installiert.
Der jüngste Einbruch erfolgte durch ein kleines, vergittertes Fenster neben der Tür zum Dach, das aus dem Mauerwerk herausgerissen wurde. Das Fenster wurde danach zugemauert.
Das Haus, das an die Ideale seiner einstigen Bewohner und an ihren Kampf für die Freiheit erinnern soll, mussten wir mit weiteren Gittern umzäunen, seine Türen mit immer noch mehr Schlössern versperren. Was für ein zynischer Widerspruch.
Screenshots statt Schreiben
Jahrelang habe ich Notizen gemacht, kurze Sätze, um Situationen festzuhalten und zu kommentieren. Mittlerweile mache ich nur noch Screenshots. Die Nachrichten sind so entsetzlich, dass ich auf sie nicht mehr mit Worten reagieren kann. Nur sie selbst können ihren Inhalt wiedergeben. Nur sie selbst sind der Beweis ihrer Existenz.
Einer dieser Screenshots zeigt ein grosses Loch, das mit ein wenig trübem Wasser gefüllt ist. Aus dem Wasser ragen Rohre mit einem Durchmesser von etwa 30 Zentimetern heraus, wie Schläuche eines medizinischen Geräts aus dem Leib eines Kranken. In dem Loch sitzen einige Männer. Ihre Hände und Füse stecken neben den Rohren im Wasser. Die Männer versuchen wahrscheinlich, die Rohre noch tiefer ins Loch zu drücken, um mehr Wasser herauszupumpen. Rund um das Loch sind Traktoren, Geräte und weitere Männer zu sehen. Ein Sinnbild der Apokalypse. Ein für mich symbolisches Bild, wie dem Land das Leben ausgesaugt wird.
„Ein düsterer Abgrund bedroht unsere nationale Existenz.“ Diesen Satz sagte meine Mutter, Parvaneh Forouhar, vor 23 Jahren in ihrem Vortrag bei der jährlichen Sitzung der Stiftung für Iranische Frauenforschung. Zwei Jahre später wurde sie getötet. Und wir befinden uns nach wie vor in dem Abgrund, auf den sie verwies. Vor einigen Wochen habe ich an der diesjährigen Sitzung dieser Stiftung teilgenommen. Die Erinnerungen an meine Mutter und an ihren damaligen Vortrag waren allgegenwärtig. Ich liebe diesen Vortrag, in dem sie die einfache Schönheit ihrer Ideale den Abgründen der Realität entgegenstellt. Er hat mich immer inspiriert, genauso wie sie selbst.
Zweiter Screenshot
Ein weiterer meiner Screenshots zeigt das matschige, nasse Mauerwerk eines Gebäudes in einer von Hochwasser betroffenen Stadt. Auf der Mauer steht in roter Farbe geschrieben: „Dein Lächeln bricht den Stillstand der Stadt. Lache, und ich baue die Stadt neu auf.“
Die suggestive Kraft dieser Verse befreit die Gedanken von der zerstörerischen Realität der Überschwemmung. Der Verfasser schenkt uns durch seine Botschaft einen Lichtstrahl, der uns aufwärmt. Ganz gleich, ob er das Haus und die Stadt wieder aufbauen kann oder nicht – er bewahrt etwas, das wie eine Erscheinung von Güte ist. Wie die Strickereien der zum Tode Verurteilten kurz vor dem Verlust ihres Lebens, die sie für ihre Liebsten herstellen, um die Schönheit festzuhalten.
Vergangenes Jahr während meiner Reise in den Iran besuchte mich an einem Nachmittag eine junge, mir unbekannte Frau. Es war ein Donnerstag: der Tag, an dem ich mein Elternhaus während meiner Aufenthalte in Teheran Besuchern öffne. Die junge Frau schenkte mir ein Buch: die Übersetzung von „Den Terror bezwingen – Der lange Schatten Augusto Pinochets“ von Ariel Dorfman. Das Buch habe sie inspiriert und ihre Hoffnung auf Gerechtigkeit gestärkt, sagte sie mir. Ich sollte wissen, dass sie manchmal an mich denke und meinen Einsatz für Gerechtigkeit schätze. Das Buch solle mich aufmuntern, damit ich nicht aufgebe.
Als sie gehen wollte, fragte ich, was sie beruflich mache. Durch ihren Job verdiene sie gerade mal so viel, dass sie davon sparsam leben könne, sagte sie. Sie sei eine Dichterin. Sie male das Leben in ihren Gedichten. Sie tue ihr Bestes, um eine gute Dichterin zu sein. Die junge Frau sagte, dass jeder von uns seiner Verantwortung mit Leib und Seele, Ehrlichkeit und Standhaftigkeit nachgehen solle. Sie sagte, falls es irgendeinen Ausweg geben sollte, dann eben durch einen solchen Ansatz. Durch diejenigen, die ihre Menschlichkeit bewahrten und nicht aufhörten, sie auch bei den anderen zu suchen.
Als ich nach Deutschland zurückkam, bekam ich das gleiche Buch von einer im Exil lebenden Freundin von einem anderen Ende der Welt geschenkt. Ihre Schwester aus Teheran hatte eine Notiz ins Buch geschrieben: „Mit Dank denen, die die Flamme der Hoffnung auf Gerechtigkeit und Freiheit in ihren Herzen und in den Herzen der Anderen aufbewahren und das kollektive Gewissen des Landes retten.“
In den vergangenen Wochen und Monaten, in denen die Krise wuchert und ihr Unheil treibt, habe ich oft an diese jungen Frauen gedacht und mich an ihren tapferen Haltungen festgehalten. Ich hoffe, dass die Zahl solcher Iranerinnen und Iraner und die Summe ihrer Kräfte gross genug sein werden, um uns durch diese dunklen Zeiten und heil aus ihnen herauszuführen, damit wir dem „düsteren Abgrund“ entkommen können.
Meine Mutter sprach in ihrer Rede vor 23 Jahren von ihrer Hoffnung auf ein „menschliches Zusammensein“. An dieser Hoffnung versuche ich mich festzuhalten. PARASTOU FOROUHAR
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal