Der Schein trügt. Die Entdeckung des Trugs ist ein Lesevergnügen. Schreibt ein Pfarrer, hier der Protestant William Wolfensberger, aus einem entlegenen Bergtal ein Buch mit dem Titel "Die Glocken von Pralöng", droht ans Herz greifende Erbauungsliteratur. Die Befürchtung weicht der Verwunderung und dann der Neugier, weil sich rechtzeitig, bereits auf dem Buchumschlag, der Hinweis auf ein Nachwort von Iso Camartin findet. Er beherrscht als Schriftsteller die Sprachkunst mit höchster Eleganz und steht nicht im Ruf eines Förderers frommer Schriften. Die Entwarnung erwies sich frei von trügerischem Schein.
Das Unglück der anderen ist das eigene Glück
Die im Buch misslich klingenden Kirchenglocken von Pralöng passen zur Gemeinde und zum Tal. In den Bergbauernfamilien und zwischen ihnen herrschen Neid und Streit. Die Bewohner jeden Dorfes hänseln ihre Nachbarn, bringen sie in Harnisch, ziehen sie über den Tisch und lachen sich beglückt ins Fäustchen, wenn das Unglück andernorts zuschlägt.
Der Friede ist die jeweils kurze und unverhoffte Zeit zwischen Zwietracht und Zerwürfnis. Opfer und Täter, Sieger und Verlierer wechseln im Kreislauf ihre Rollen. Es rumort, kracht und menschelt höllisch in Pralöng, Pranöv, Surom, Valdür und Ursulinendorf.
William Wolfensberger blickt durchbohrend in die Seelen. Er inszeniert die werk- und festtäglichen Hochgefühle und Niederträchtigkeiten realistisch als packende, auch verstörende Geschichte, entlarvt seine Protagonisten, indem er sie genau zeichnet, und pflegt eine bildstarke, mal brennende, mal humorvolle Sprache.
Verehrt und verjagt
Der Autor weiss aus eigener Erfahrung, worüber er schreibt. Er war Pfarrer in der oberen Val Müstair und amtete in Fuldera, das im Buch Pralöng heisst, zugleich als Gemeindepräsident und als Lehrer. Seine Schäfchen verliehen ihm das Recht eines Ehrenbürgers und vertrieben ihn als Wölfchen aus dem Tal. Dort ziehen eben die Unwetter aller Art plötzlich auf.
Die lange Erzählung hält in Atem. Sie spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der 1889 in Zürich geborene und dort als evangelisch-reformierter Pfarrer ordinierte William Wolfensberger versah seine erste Stelle vom Frühjahr 1914 bis Weihnachten 1916 in Fuldera, Tschierv und Lü. Auf Lob und Anerkennung folgten Schimpf und Schande wegen politischer Meinungsverschiedenheiten. Wolfensberger kündigte und liess sich nach Rheineck wählen, wo 1918 "Die Glocken von Pralöng" entstanden. Im gleichen Jahr starb er am 6. Dezember an der Spanischen Grippe.
Der Schriftsteller Jakob Bosshart, der als Rektor des Zürcher Gymnasiums den Maturanden Wolfensberger kannte, veröffentlichte das Prosastück 1919 in einem Sammelband. Jetzt gab Rudolf Probst eine Neuauflage heraus, unterstützt von Peter Kamm und Peter Wolfensberger, dem Grossneffen des Autors, und von der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften.
Kritische, aber menschenfreundliche Beobachtung
Die Anstrengungen, die Erinnerung an den weitgehend vergessenen William Wolfensberger zu wecken und das Augenmerk auf seine Erzählungen, Gedichte und Predigten zu lenken, rechtfertigen sich.
Das Hauptwerk, "Die Glocken von Pralöng", ist die detailliert ausgeführte Skizze eines Romans. Einige Personen wurden umfassend entwickelt, andere in Umrissen charakterisiert. Die Handlung läuft in chronologisch gegliederten Szenen ab.
Obwohl es biografische Gründe gegeben hätte, die Münstertaler vors Jüngste Gericht zu ziehen und abzukanzeln, wählte Wolfensberger zwar die kritische, aber menschenfreundliche Beobachtung. Das Ergebnis besitzt die Qualitäten einer zeitgeschichtlichen Dokumentation, die uns die Strategien fürs Leben, Zusammenleben und Überleben erhellt und die wirtschaftlichen Bedingungen in ihrer bedrohlichen Härte beleuchtet.
Wolfensberger wagte mit literarischen Mitteln die unbequeme, ihm als zwingend erscheinende aktuelle Auseinandersetzung. Es gelang ihm der Kontrapunkt zur Idyllisierung eines Bergtals, dessen landschaftliche Schönheit zum Irrtum verleitet, auch mit den Fähigkeiten und Möglichkeiten zur Bewältigung existenzieller Probleme sei alles zum Besten bestellt. Die Glocken Pralöngs läuten auch uns ins Gewissen, weil uns die Herrlichkeit einer einzigen Bergkette die Wahrnehmung des ganzen Alpenraums verkitscht.
Spannendes Buch einer spannenden Persönlichkeit
Aufschlussreich liest sich das Nachwort "Münstertal ist überall" von Iso Camartin. Er ordnet das Buch literaturhistorisch ein und würdigt das Genre der Dorfgeschichten mit Bezug auf Jeremias Gotthelf, Gottfried Keller, Charles-Ferdinand Ramuz, Plinio Martini und Cla Biert.
William Wolfensberger gewinnt als Pfarrer und Schriftsteller spannende Konturen. Er wurde, bringt es Camartin auf den Punkt, wegen der Zumutungen und Enttäuschungen halb irre und richtete sich immer wieder auf aus Pflicht- und Sendungsbewusstsein.
Die Erzählung auf 117 Seiten verfasste ein über den Ofenpass Zugezogener. Er kam den Einheimischen näher als sie ihm, verstand sie besser und brachte ihnen die grössere Wertschätzung entgegen. Der Band endet mit dem Glockengeläut "Bing … bäng … rumpp … bängbäng … bing …". Ein Nachhall bis in die Gegenwart.
William Wolfensberger, "Die Glocken von Pralöng", mit einem Nachwort von Iso Camartin, herausgegeben von Rudolf Probst, Chronos Verlag, Zürich 2016