Die Armutsbekämpfung schaffe mehr Arme, sowohl in den entwickelten Ländern als auch in der Dritten Welt, konstatiert Zeyer. Ein Gespräch mit dem Autor.
Journal21: René Zeyer, Sie rechnen in Ihrem in dieser Woche auf dem Markt gekommenen Buch mit dem Sozialstaat ab. Also, lassen wir die Armen verhungern, dann ist alles gut.
René Zeyer: Wir lassen sie doch die ganze Zeit verhungern, und nichts ist gut. In Subsahara-Afrika stieg die Zahl der Hungernden in den letzten 20 Jahren von 160 Millionen auf geschätzte 234 Millionen Menschen. Obwohl Multimillionen an Armuts- und Hungerhilfe investiert wurden. Das ist in Wirklichkeit Todeshilfe, keine Lebenshilfe. Und in den entwickelten Staaten verhungert kein Mensch. Aber alle werden durch angebliche Armutsbekämpfung immer ärmer, während es immer mehr Arme gibt. Davor kann man doch nicht die Augen verschliessen.
Armutsbekämpfung schafft Armut, statt sie abzuschaffen, schreiben Sie. Klingt ziemlich vermessen.
Das ist das Ergebnis der Untersuchung aller offiziellen Statistiken und Zahlen, die vorliegen. Sprechen wir von den modernen Sozialstaaten. Da ist eine Hilfsverwaltungsindustrie entstanden. In Deutschland ist sie mit rund 1,5 Millionen festangestellten Mitarbeitern der grösste Arbeitgeber überhaupt, mit einem Jahresumsatz von über 100 Milliarden Euro. Trotz ihren Bemühungen gibt es immer mehr sogenannt «relativ Arme», werden ständig neue «Armutslücken» entdeckt, soll es in der EU inzwischen 120 Millionen Arme geben. Schon 1786 erkannte ein englischer Armutsforscher: «Nie gab es mehr Elend unter den Armen, nie kam mehr Geld zu ihrer Hilfe zusammen. Aber besonders verblüffend ist, dass Armut und Not im selben Mass zunehmen wie die Anstrengungen, den Armen grosszügige Unterstützung zu gewähren.» Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Der Sozialstaat gilt als eine der wichtigsten und edelsten Errungenschaften der aufgeklärten Welt. Und ausgerechnet der soll nun an der Armut schuld sein?
Es geht nicht um Schuldzuweisungen, sondern um Zahlen und Tatsachen. Sozialausgaben machen im Schnitt 50 Prozent eines Staatshaushalts aus. Schon lange vor der Finanzkrise 1 explodierten seit den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts diese Ausgaben, während parallel dazu die Staatsschulden ins Unbezahlbare stiegen. Umverteilung hat Wertschöpfung zur Voraussetzung. Wird die nicht wieder investiert, sondern nur konsumiert, ist sie verloren.
Zum Wirtschafts-ABC gehört die Feststellung, dass die Armen in den Mittelstand gehoben werden sollen, damit sie konsumieren können und so die Wirtschaft antreiben. Sehen Sie das anders?
Nicht nur konsumieren, sondern auch produzieren. «Hartzen» ist in den offiziellen Wortschatz des Duden aufgenommen worden, als Synonym für sich «zu keiner Arbeit, Tätigkeit überwinden». Eine ganze Generation tritt in die Alterunterstützung ein, ohne jemals einer regelmässigen Arbeit nachgegangen zu sein. Das hat mit diesem Wirtschafts-ABC nichts zu tun.
Ist nicht der Sozialstaat Garant dafür, dass viele in schwierigen Zeiten nicht in die Armut abrutschen und wieder die Möglichkeit haben, sich aufzufangen, wieder eine wirtschaftliche Leistung vollbringen und konsumieren können?
Das sollte er sein. Durch die Pervertierung dieser Idee zu einer Rundum-Versorgung, die keinerlei Anreiz gibt, wieder eine wirtschaftliche Leistung zu erbringen, funktioniert das nicht mehr. Es geht längst nicht mehr um eine kurzfristige Überbrückung. Sondern eine wolkige Umschreibung des Begriffs Armut oder Bedürftigkeit, ganze Kataloge von Zusatzleistungen führen dazu, dass nicht schuldlos ins Elend geratenen Menschen aufgeholfen wird. Schauen Sie sich einmal das «individuelle Unterstützungsbudget» der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) an. Das übersteigt schon mal das Durchschnittseinkommen eines wertschöpfenden Menschen. Niemand hat etwas dagegen, dass Alte, Unmündige, Invalide, geistig oder körperlich Behinderte unterstützt werden, das ist doch selbstverständlich. Aber es geht um die Massen, um Millionen, die in entwickelten Staaten Rechte einfordern, aber ihren Verpflichtungen nicht nachgehen.
Eine florierende Hilfsindustrie tabuisiere das Thema, sagen Sie. Jede Kritik werde unterdrückt. Können Sie uns das erklären?
Wer konstatiert, dass selbst nach ihren eigenen Zahlen alle angewendeten Methoden der Armutsbekämpfung in den 400 Jahren, seit es sie gibt, nicht funktionieren und deshalb obsolet sind, begeht einen Tabubruch. Wer sagt, dass die wirksamste Bekämpfung von Armut darin besteht, dass Arme nicht unterstützt werden, von den erwähnten Ausnahmen abgesehen, wer fordert, dass die Mehrzahl der dazu fähigen Armen gezwungen werden muss, wieder Teil der Wertschöpfung zu werden, ist nicht mal gesellschaftsfähig. Die Hilfsindustrie denunziert jeden, der damit an ihrer Existenzgrundlage sägt, als Unmenschen.
Also sind die Armen an den Staatsschulden, der Finanzkrise und der Euro-Krise schuld. Könnte man das Problem nicht umgekehrt sehen? Weil es gewissen Staaten nicht gelungen ist, die Armut zu bekämpfen, steigen die Kosten für die Armutsbekämpfung.
Ich mache im ganzen Buch keine Schuldzuweisung an Arme. Es ist doch selbstverständlich, dass jemand Rechte einfordert und auf Gegenleistungen verzichtet, wenn man ihm das ermöglicht. In den USA gibt es beispielsweise seit Präsident Johnsons Kampf gegen die Armut Anfang der 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts eine Sockelarmut, die sich bis heute in einem Korridor von mindestens 10, maximal 15 Prozent bewegt. Unabhängig von den seither häufig wechselnden Regierungen, mehr oder weniger Armutsbekämpfung, unabhängig von Konjunktur, Wirtschafts- oder Finanzkrisen. Also sind doch wenn schon all die schuld, die nicht einsehen wollen, dass Armutsbekämpfung nicht wirkt.
Die Schweiz ist doch ein schönes Beispiel. Da gelang es, die Armut weitgehend zu bekämpfen und damit die Sozialausgaben, die Ausgaben zur Armutsbekämpfung, niedrig zu halten.
Die Schweiz ist tatsächlich die Insel der Seligen. Obwohl es auch hier Auswüchse gibt, die von der SKOS befördert werden, sorgt die Kleinteiligkeit, die Verknüpfung von Sozialausgaben mit dem auf Gemeindebene zu bestimmenden Steuerfuss dafür, dass nicht völlig das Mass verloren geht, der Staat nicht unter Schulden ächzt wie der Rest Europas.
Es sei Zeit für eine schonungslose Abrechnung und eine Umkehr, bevor die Gesellschaft explodiert, sagen Sie. Was schlagen Sie ganz konkret vor?
Ich bin in erster Linie Diagnostiker, kein Therapeut. Ich konstatiere nur, dass die wahren Staatsschulden, wenn man zukünftige Sozialversprechen wie Renten und Pflegeleistungen einberechnet, unbezahlbar geworden sind. Sie können nur durch eine Inflation oder einen kräftigen Schuldenschnitt abgetragen werden. Die Leidtragenden werden die Armen sein, und die zukünftigen Generationen, auf deren Kosten wir uns unseren Sozialstaat, unsere sinnlose Armutsbekämpfung leisten. Die Erkenntnis dieses unhaltbaren Zustands, das Hören des Tickens der Zeitbombe, wenn das durch mein Buch erreicht wird, habe ich mein Ziel bereits erreicht. Zudem gibt es, basierend auf den beiden Begriffen Handlungssicherheit und Bildung, durchaus einen Königsweg aus der Armut.
Seit bald drei Jahren geben Sie im Journal21 den Regierungen und den Banken die Schuld an der Wirtschaftsmisere, an den wachsenden Staatsschulden. Und jetzt plötzlich sollen die Armen Schuld an der Misere sein?
Ich konstatiere nur, dass die Finanz- und ihrem Gefolge die Wirtschafts- und Eurokrise, die tatsächlich von einem verrückt gewordenen Finanzsystem und verantwortungslosen Regierungen verschuldet wurden, nur noch eine grosse Schippe neuer Schulden auf einen bereits vorher existierenden Berg geworfen hat.
Werden mit Ihrem Modell nicht die Reichen einfach noch reicher und die Armen noch ärmer?
Es gibt, wenn man Weltbankstatistiken vertrauen kann, weltweit bedeutend weniger absolut Arme als noch vor zwanzig Jahren. Das ist aber kein Erfolg der traditionellen Armutsbekämpfung, sondern liegt daran, dass die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Welt, Indien und vor allem China, einen bedeutenden Wirtschaftsaufschwung erlebt haben. Dadurch gibt es auch mehr Reiche. Das wahre Problem besteht aber darin, dass die Mittelschicht, der Kitt jeder Gesellschaft, der Träger der Produktivität und der bedeutendste Steuerzahler, zu verarmen droht. Das kann zur Explosion der ganzen Gesellschaftsordnung führen.
Würden Sie also behaupten, dass es immer Arme und Reiche gibt?
Alleine schon die Definition von relativer Armut, die wird üblicherweise an einem Einkommen gemessen, das 60 Prozent oder weniger des Median-Durchschnittseinkommens beträgt, impliziert das. Nur in einer völlig egalitären Gesellschaft gäbe es diese Gruppen nicht. Ob die sich dann als arm oder reich empfindet, wäre eine Definitionsfrage. Diese Idee widerspricht aber der dynamischen Entwicklung aller bekannten Formen des menschlichen Zusammenlebens.
Wenn es dennoch Arme gebe, „ist das ein Skandal, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, schreiben Sie. Das klingt so ein bisschen, als wollten Sie den Wind aus den Segeln jener nehmen, die sich über Ihre Thesen entrüsten und sie als Unmenschen bezeichnen.
Wenn es Arme gibt, die verhungern, obwohl einwandfrei genügend Nahrungsmittel hergestellt werden können und vorhanden sind, die für eine Ernährung aller Menschen ausreichen, dann ist das ein Skandal. Ich bin tatsächlich kein Unmensch. Genauso wenig wie die afrikanische Wissenschaftlerin Dambisa Moyo, die eine sofortige und ersatzlose Einstellung jeglicher Entwicklungshilfe – oder wie das modern auch immer heisst – für Afrika fordert. Nicht, weil uns menschliches Elend egal wäre. Sondern im Gegenteil: Weil das Todeshilfe ist, nichts nützt, nur schadet.
Sie deuten in Ihrer Streitschrift an, dass man sich über Ihre Thesen entrüsten wird. Man könne die Existenz des lieben Gottes leugnen, man könnte die Gleichheit von Mann und Frau in Frage stellen und abstruse Rassentheorien verbreiten. Alles werde akzeptiert. Aber wenn man den Sinn der Armutsbekämpfung in Frage stelle, begehe man einen letzten Tabu-Bruch und provoziere schäumende moralische Entrüstung. Übertreiben Sie da nicht ein wenig?
Aber nein. Wenn meine Streitschrift nicht einfach mit indigniertem Ignorieren abgestraft wird, werden wir, werde ich das garantiert erleben. Wie es die wenigen anderen Kritiker der sinnlosen Armutsbekämpfung und der hinter ihr stehenden Hilfsindustrie bereits erfahren mussten.
- René Zeyer: Armut ist Diebstahl. Warum die Armen uns alle ruinieren. Campus Verlag, 2013