Jemens sechsmonatiger Waffenstillstand hätte am 2. Oktober 2022 verlängert werden sollen. Doch die beiden Bürgerkriegsparteien, die international anerkannte Regierung, die von einer durch Saudi-Arabien geführten Militärkoalition unterstützt wird, und die mit dem Iran alliierten Huthi-Rebellen konnten oder wollten sich nicht einigen.
Den von der Uno geförderten Friedensverhandlungen zum Trotz dürfte der Stellvertreterkrieg im Süden der Arabischen Halbinsel weitergehen. Nicht zuletzt auch, weil die Führer auf beiden Seiten vom Status quo finanziell profitieren.
Auch die humanitäre Katastrophe im ärmsten Land der arabischen Welt, eine der schlimmsten weltweit, dürfte andauern. Laut Schätzungen des Uno-Entwicklungsprogramms sind bisher mehr als 370’00 Menschen, unter ihnen ungezählte Kinder, an den Folgen des Krieges gestorben, wobei der Mangel an Nahrung, Wasser und Gesundheitsversorgung für fast 60 Prozent der Todesfälle verantwortlich ist.
Krankheiten und Hunger
Drei von vier Jemeniten brauchen heute humanitäre Hilfe und Schutz. Krankheiten wie zum Beispiel die Cholera grassieren, und von einer Bevölkerung, bestehend aus etwa 30 Millionen Menschen, sind vier Millionen im Landesinneren auf der Flucht. Ein Grund für die Misere ist die jahrelange Land-, See- und Luftblockade Jemens, welche die Streitkräfte der Koalition nach Ausbruch des Krieges im September 2014, dem Einmarsch der Huthi in der Hauptstadt Sanaa und der späteren Vertreibung der Regierung unter Abdrabbuh Mansur Hadi verhängt hatten.
Daten, Zahlen und Statistiken sind im Jemen das eine. Sie erlauben einen distanzierten, fast emotionslosen Blick auf das Kriegsgeschehen. Die alltägliche Realität im Lande, die Bomben und die Raketen, sind das andere. Sie zerstören Leben und Existenzen, sie löschen Hoffnungen und Zukunftspläne aus und lassen gebrochene Menschen zurück, die für den Krieg nichts können und zufällig zu dessen Opfern werden.
Bushra al-Maktari
Die 42-jährige jemenitische Autorin und Aktivistin Bushra al-Maktari kämpft unerschrocken gegen das Vergessen und dokumentiert die Stimmen von Betroffenen. Sie erlebte in Sanaa am Donnerstag, dem 26. März 2015, um zwei Uhr nachts, wie die Kampfflugzeuge der Koalition die Hauptstadt zu bombardieren begannen: «Was sich von jenem Morgen in meinem Gedächtnis eingebrannt hat, sind nicht die Explosionen oder der Furcht einflössende Donner von Jets, welche die Schallgrenze durchbrechen, oder meine Angst bezüglich der Flugbahn von Raketen, die Ziele trafen, die weiter weg waren, als ich sehen konnte, oder die Geräusche des Krieges, an die ich mich gewöhnt hatte. Eher war es der Schock, wie der Krieg heraufbeschworen worden war, wie das Leben auf einen Schlag kollabierte – interne Machtkämpfe, die Erniedrigung durch den Hunger, die Demütigung des Ganzen, die verlorenen Träume unserer Generation. Wir sind in die Vorzivilisation zurückgekehrt.»
Sumaiyya Ahmed Saeed
Bushra al-Maktari erzählt die Geschichte von Sumaiyya Ahmed Saeedd aus der Stadt Taiz im Südwesten Jemens. Huthi-Milizionäre beschossen eine Gruppe von Kindern, die vor einem Laden spielten, der ihrem Mann Muhammad Qasim Rashid al-Khadami gehörte. Drei ihrer Kinder starben, der achtjährige Usaid, die sechsjährige Rahma und der zweijährige Ezzedine. Auch ihr 50-jähriger Schwiegervater Ahmed Ali Qasim Rashid a-Khadami sowie mehrere Kinder aus der Nachbarschaft kamen ums Leben.
«Was macht meine Geschichte besonders?», fragt Sumaiyya: «Es ist das Gleiche für Tausende von Frauen, die ihre Kinder im Krieg verloren haben. In jedem Haus dieser Stadt gibt es eine Geschichte, die zur Ruhe gelegt werden will und die niemand wieder wecken soll. Ich bin die ganze Zeit in diesem Raum geblieben, der auf die Gassen hinausgeht, und von diesem Fenster aus habe ich das Quietschen und Schreien der Kinder gehört, Spielkameradinnen und Spielkameraden meiner Kinder, die weiterlebten, als hätte sich nichts verändert. Das Leben um mich herum geht weiter und kümmert sich nicht um mich – um mich, deren Kinder der Krieg genommen und nur die Erinnerung an sie gelassen hat.»
Und sie fährt fort: «Ich besuche meine Kinder auf dem Friedhof, wenn immer ich kann, aber ich bin noch nicht überzeugt, dass sie tot sind. In der Erinnerung zu leben ist schmerzhaft, weil du realisierst, dass sie, was immer du tust, genau das geworden sind – Erinnerungen, aber nicht mehr das wirkliche Leben.»
Ahmad Abdel Hameed Sayf
Bushra al-Maktari dokumentiert die Geschichte von Ahmad Abdel Hameed Sayf aus al-Qutay, einem Dorf im westlichen Gouvernorat Hodeidah. Am 26. Januar 2017 bombardierten Flugzeuge der ausländischen Militärkoalition morgens um 05.40 Uhr das Haus seines Bruders Fahmi Abdel Hameed al-Sayf. Fahmis 30-jährige Frau Asma Abdel Qader Yassin Sharaf und drei ihrer Kinder, der zwölfjährige Muhammad, der dreijährige Malak und die eineinhalbjährige Malakat, wurden beim Angriff getötet. Fahmis und Asmas achtjähriger Sohn Ammar verlor ein Bein. Auch die zehnjährige Nasreen, drei weitere Kinder und zwei Kinder seines Nachbarn Abdel Kareem Abdel Hameed starben.
Ahmad erzählt: «Heute denke ich daran, dass Raketen nicht einfach vom Himmel regnen. Hinter ihnen steckt ein Verstand, ein Schurke, der einen Knopf drückt, um das Ziel zu erfassen – das Haus meines Bruders – und dabei Frauen und Kinder tötet. (…) Schau dich um. Es gibt nichts hier in al-Qutay, gar nichts. Nur ein paar zerstreute Heime armer Familien, eine Reparaturwerkstatt, ein Markt. Keine Militärunterkunft, keine Patrouillen, keine Miliz oder selbst Bewaffnete. Wir haben während Jahren hier gelebt. Wir hatten mit dem Krieg nichts zu tun, wir haben versucht, im Frieden zu leben. Aber dann kamen sie mit ihren Geschossen und töteten die Familie meines Bruders.» Später hiess es, ein Telefonmast der Firma SabanFon, der neben dem bombardierten Haus stand, könnte das Ziel des Luftangriffs gewesen sein.
Ahmad glaubt das nicht. Wäre es so gewesen, meint er, hätte die Koalition sie zum Voraus gewarnt und sie hätten mit ihren Familien in die Wüste fliehen können: «Ich trage die Sorgen meines Bruders mit. Ich betrete das Haus und die Erinnerungen kommen unvermittelt zurück. Ich erinnere mich an die Kinder und die Frau meines Bruders, ihr Lachen, die Geräusche, die sie machten, unser schönes Leben, das wir gemeinsam führten. Ich verfluche die Koalition und alle jene, die mit ihr in unser Land gekommen sind, ich verfluche jede Seite, die im Jemen Menschen ermordet hat. Alle sind sie nur das Eine – Mörder. Wer bringt meinem Bruder Malak, Malakat, Muhammed und Asma zurück? Wer? Sag mir, wer? Wer?»
Sabah Abda Ahmad Fare
Bushra al-Maktari zeichnet auch auf, was ihr Sabah Abda Ahmad Fare aus dem Quartier Erat Hamdan in Sanaa erzählt. Wie am 2. Juni 2015 morgens um 05.30 Uhr Kampflugzeuge der arabischen Koalition ihr Haus zerstörten. Zwei ihrer Kinder starben, die 19-jährige Noura und der fünfjährige Shuhab. Auch zwei Freundinnen ihrer Tochter, Lubna Sultan und Ishraq al-Zaifi, wurden getötet. Im Weitern kamen beim Luftangriff vier Kinder ihrer Nachbarin Qaid al-Atmi ums Leben: Rudaina, Ameera, Abdo und Adeeb. Sabahs Mann hat das Haus während Jahren selbst für die Familie gebaut.
Sabah erzählt: «Kannst du dir das vorstellen? Dein Haus und alles was drin war, einfach weg, das Ganze von der Erde verschluckt. Als ich durch einen Fensterrahmen die Überreste meines Hauses sah, konnte ich nicht mehr sprechen. Ich weiss nicht mehr, wieso ich nicht zusammenbrach, wie ich die wenigen Meter dorthin überquerte, wo das Haus gewesen war und jetzt ein sechs Meter tiefes Loch klaffte. Alle Sachen, an die ich mich erinnere, sind Arme und Beine, das Flugzeug, das über unseren Köpfen kreiste, der überall gegenwärtige Rauch und an mich im Schockzustand, der ich auf die Überreste meines Heims und jenes meiner Nachbarin starrte, das teilweise zerstört war.»
Und sie erinnert sich: «Gesichter huschten an mir vorbei. Arme und Beine, leblose Körper. Mein Sohn Khalid grub seine Geschwister aus. Er hielt einen kleinen Fuss und ich brach zusammen. Es war Shuhabs Bein – ganz bestimmt. Das war nicht nur die Intuition einer Mutter: Ich erkannte die schwarzen Hosen und die Jacke wieder, die ich ihm an jenem Morgen angezogen hatte.»
Sabah beendet ihre Erzählung: «In Gedanken schaue ich ins Herz des Lochs. Ich erinnere mich an das gemeinsame Leben im verschwundenen Haus und an Noura, wie glücklich sie war, wie wertvoll sie war, wie alle sie liebten. Sie hatte noch ihr ganzes Leben vor sich. Ich erinnere mich an Shuhab, wie er im Gang spielte. Ich erinnere mich an ein Leben, das perfekt und ausgefüllt war. Ohne Worte schaue und schaue ich einfach weiter, hinunter ins Loch.»
Fatale Rolle der USA
Schon einen Monat nach Kriegsbeginn hatte die «New York Times» im April 2015 einen Leitartikel unter dem Titel «Katastrophe im Jemen» veröffentlicht. Damals sprach die Statistik von 1’000 getöteten Zivilisten, mehr als 4’000 Verwundeten und 150’000 Vertriebenen. Mit jedem Tag, so das Blatt, steuere der Jemen, eh schon ein schwacher Staat, auf den Kollaps zu.
Ein Teil der Schuld trifft auch die USA. Bereits die Regierung Barack Obamas unterstützte Saudi-Arabien mit Geheimdiensterkenntnissen und taktischen Ratschlägen. Und im vergangenen Sommer hat es US-Präsident Joe Biden bei seinem Besuch in Riad versäumt, das Königreich dazu zu drängen, sich intensiver um einen Frieden im Jemen zu bemühen – nicht eben Ausdruck einer «aktiven, auf Prinzipien beruhenden amerikanischen Führungsrolle» im Nahen Osten, derer sich das Weisse Haus rühmt. «Eine politische Lösung (im Jemen) zu finden, wird nicht leicht sein», hat die «Times» prophezeit: «Vielleicht ist es sogar ein Ding der Unmöglichkeit.»
Quellen: The Guardian, The New York Times, BBC, Council on Foreign Relations, Wikipedia