Nach Stoffen, die eine dramatisch-musikalische Gestaltung verlangten, hat der Komponist (1809–1847) aber seit früher Jugend und bis kurz vor seinem Tod Ausschau gehalten. Zur Freude seines Vaters Abraham komponierte bereits der 13-jährige Mendelssohn mehrere einaktige Singspiele für den Berliner Familienkreis, darunter das Stück «Die beiden Neffen» – auch bekannt unter dem Namen «Der Onkel aus Boston» (1822) – oder das Singspiel «Die Hochzeit des Comacho», welches im Jahr 1827 sogar eine öffentliche Aufführung im Berliner Schauspielhaus erfuhr. Nach einem Libretto seines Freundes Karl Klingemann schrieb der 20-jährige Komponist das Stück «Die Heimkehr aus der Fremde», das im Dezember 1829 in der Mendelssohn’schen Berliner Villa seine Uraufführung hatte.
Dass Mendelssohn Sinn sowohl für Dramatisches wie für Märchen- und Feenhaftes hatte, beweist seine «Ouvertüre zum Sommernachtstraum», ein genialer Wurf des 17-jährigen Frühreifen, zu der er später, im Jahr 1842, auf Wunsch des preussischen Königs Friedrich Wilhelm IV., eine heute ebenfalls viel gespielte Bühnenmusik hinzufügte. In dieser Lebensphase hat Mendelssohn auch «Schauspielmusiken» zu griechischen Tragödien wie «Antigone» oder «Oedipus in Kolonos» komponiert, die heute gelegentlich wieder zu hören sind. Neugierde am Theater fehlte ihm eigentlich nie.
Die Not mit den Libretti
Doch zur eigentlichen Arbeit an einer voll auskomponierten Oper kam es im kurzen Leben des Komponisten leider nicht. Pläne dazu tauchten zwar immer wieder auf, doch Mendelssohn fand auch mit Hilfe seiner Dichterfreunde nicht jenen Stoff, der ihn hinreichend befriedigte, um diesen für die Opernbühne zu gestalten. Emmanuel Geibel hatte ihn nach einer Aufführung des «Sommernachttraums» gefragt, warum er keine Oper schreibe, worauf Mendelssohn geantwortet haben soll: «Geben Sie mir ein gutes Textbuch und ich werde morgen vier Uhr morgens mit der Komposition beginnen.»
Als Mendelssohn 1844 Jenny Lind (1820–1887), die «schwedische Nachtigall», kennenlernte, blühten seine Opernträume nochmals heftig auf. Es entstand zwischen ihr und ihm eine gegenseitige Verehrung und Bewunderung, die man sich kaum gross genug denken kann. Sie konzertierten mehrfach zusammen, in Leipzig, aber auch beim Niederrheinischen Musikfest in Aachen. 1846 schrieb Mendelssohn ihr einmal: «Wenn es mir nicht gelingen sollte, eine gute Oper jetzt und für Sie zu schreiben, wird es mir wohl nie gelingen.» Er sollte mit seiner Vermutung Recht erhalten.
Zwar gab es eine ganze Reihe von Bemühungen, einen für ihn (und seine Lieblingssängerin Lind) geeigneten Opernstoff zu finden. Ein Thema aus der Zeit der Bauernkriege wurde erwogen («Ritter und Bauer»), eine «Loreley» mit Geibel war im Gespräch, auch die Engländer wünschten von ihm eine Oper. Shakespeares «Der Sturm» nach einem Libretto von Eugène Scribe stand da im Zentrum von Mendelssohns Wünschen. Nichts von all dem kam zustande. Der Grund: Mendelssohn hatte sich für die Komposition seines zweiten Oratoriums (nach «Paulus» 1836) entschieden, welches den Titel «Elias» (1846) tragen sollte. Diese «biblische Oper» sollte seine Arbeitskraft über Jahre fokussieren, alle anderen geplanten Opernprojekte verdrängen und seinen Ruhm als Komponisten «starker, voller Chöre», Ensembles und Arien schliesslich in die ganze weite Welt tragen.
Szenen aus dem Leben eines Propheten
Mendelssohn hielt Oratorien für «halb-opernhaft». Das epische Erzählen bleibt in der Form des Oratoriums ein zentrales Element, das konträr zur direkt-dramatischen und figurenbezogenen Mitteilung auf der Opernbühne steht. Um den bestmöglichen Text für seinen «Elias» hat Mendelssohn richtig ringen müssen, wie der Briefwechsel mit seinen Textlieferanten bezeugt. Er hat sich dann auch mutig über die Ratschläge seiner theologischen und dichterischen Berater hinweggesetzt und ist – was die Auswahl der biblischen Texte betrifft – entschieden auch ganz eigene Wege gegangen.
So entspricht die Textmischung aus den Büchern des Alten Testaments (Buch der Richter, Psalmen, Jesaja) ganz und gar Mendelssohns eigener Vorliebe. Eric Werner, der Mendelssohn-Experte, beschreibt das dem Komponisten vorliegende Libretto als «ein Potpourri von religiöser Fanatik und salbungsvoller Pastorenfrömmigkeit», was Mendelssohn streckenweise fürchterlich missfiel. Er musste nach eigenen dramatischen Zuspitzungen suchen. Das Oratorium ist insofern wirklich mit der beliebten Gattung der Elias-Ikonen aus der Ostkirche verwandt, weil es wie auf der Ikonen-Tafel unterschiedliche Wunderszenen aus dem Leben des Propheten nebeneinander schildert, welche Mendelssohn nun in einen so meditativen wie dramatischen erzählerischen Ablauf zueinander fügt.
Noch vor der Ouvertüre setzt er den Fluch des Propheten über das Volk Israels, das seinem Gott untreu geworden ist. Dieser kündigt eine Dürre und Hungersnot an. Nicht die Baal-Priester sind jene, die Wasser und Tau vom Himmel holen können, nur der Prophet vermag dies, sobald das Volk sich wieder dem gerechten und barmherzigen Gott zuwendet. Wie Elias auch jener ist, der als einziger den entschlafenen Sohn einer verzweifelten Witwe wieder ins Leben zurückholen kann. Zum Höhepunkt des 1. Teils wird Mendelssohns Schilderung des geschenkten Regens durch den wahren Gott, der das durstige Land tränkt.
Im zweiten Teil zieht sich Elias zurück in die Wüste, nachdem er erlebt, wie die Könige, die Gott eingesetzt hat, an ihrem Gott und an dessen Volk schuldig werden. Die Königin ruft gar zum Mord an dem Propheten auf, weil er sich für mächtiger als der König selbst hält. Der jüngere Prophet Obadjah fordert Elias auf, sich vor der Todesgefahr in die Wüste zu retten. Dort wird Mendelssohns Elias die vielleicht schönste «Resignations-Arie» der deutschen Romantik anstimmen.
«Es ist genug»
Auch zornige Propheten können an ihrer Aufgabe und ihrer Berufung zweifeln, verzagt und mutlos werden, sich sogar den Tod wünschen. Elias bittet darum, dass Gott ihm «seine Seele nimmt», er realisiert seine Wirkungslosigkeit einem wankelmütigen Volk gegenüber: «Ich bin nicht besser denn meine Väter». Weiterleben will er so nicht mehr, «denn meine Tage sind vergeblich gewesen». Noch einmal wühlt ihn sein Los auf, denn er hat «geeifert um den Herrn», weil die Kinder Israels den Bund mit ihrem Gott verlassen haben, sie haben «die Altäre zerbrochen» und ihre Propheten «mit dem Schwert erwürgt». Nun trachtet man danach, ihm, dem Eiferer für den wahren Gott, das Leben zu nehmen. Das ist zu viel! Er kann nicht mehr. Nur noch sterben will er.
Mendelssohn hat diese Verzweiflungsklage mit einem wunderbaren Cello-Trauergesang eingeleitet und von diesem umrahmen lassen. Wir hören eine Musik, die gleichsam die letzte Trauer einer lebenslangen Vergeblichkeit ausdrückt, die tiefe Verzweiflung eines Menschen, der glaubt, Gott habe sogar denjenigen, der immer für ihn eingestanden und an ihn gemahnt und erinnert hat, nun auch verlassen. Man darf darüber spekulieren, ob Mendelssohn selbst, der als gläubiger Mensch soviel Zuwendung, Lebensglück und Begabung vom Schicksal empfangen durfte, in seinen letzten Jahren auch Grund hatte, sich manchmal nicht nur als ein von Gott begnadeter Musiker zu fühlen, sondern gelegentlich auch als ein von Gott verlassener.
Wir hören diese magischen Trauertöne in einer Aufnahme, die 2018 während des «Queen Elisabeth-Wettbewerbs» 2018 in Brüssel entstand. Es singt der Bariton Samuel Hasselhorn, es begleitet ihn das Orchester des Opernhauses La Monnaie unter der Leitung von Alain Altinoglu.
Hinzuzufügen ist, dass die Geschichte des Elias auch bei Mendelssohn nicht mit dieser Verzweiflungsarie endet. Wir wissen aus der Bibel, dass Gott sich der Not seines Propheten erbarmte und einen feurigen Wagen schickte, mit welchem der Prophet gegen Himmel fuhr. Mendelssohn wusste diese Begegnung mit dem erbarmenden Gott, der sich den Seinen nicht in Wind und Sturm und Feuer und Regen nähert, sondern am ehesten im leisen Flüstern des Windes, chorisch und symphonisch prachtvoll zu gestalten. Man darf wohl sagen: nicht weniger eindrücklich und triumphal, als es jeder Schluss einer Oper mit einem glücklichen Ausgang hätte sein müssen.