Etwas wird kommen. Ob es eine blutige Revolution, ein friedlicher Volksaufstand, ein Putsch der Revolutionsgarden oder gar eine ausländische Intervention sein wird, darüber streiten die zahlreichen Oppositionsgruppen im Iran. Vielfältig und bunt sind sie, doch noch lebt jede in ihrer eigenen Welt. Eine landesweite Organisation ist nicht in Sicht.
من اگر ما نشوم تنهایم ، تواگر ما نشوی خویشتنی – «Werde ich nicht Wir, bleibe ich allein. Wirst du nicht Wir, bist du dir selbst»: Diese persischen Verse aus einem 1965 veröffentlichten Gedicht des bekannten Poeten und Juristen Hamid Mossadegh sind ein Paradebeispiel für den Sinnspruch: «Poesie ist das, was ein Gedicht bei seiner Übersetzung verliert.»
Denn bei der Übertragung der Zeilen ins Deutsche gehen nicht nur ihr Klang, ihr Rhythmus und ihre Alliteration verloren. Unübersetzbar sind auch ihr Kolorit, ihre Aura und jene gesellschaftlich-politische Atmosphäre, die diese bekannte Gedichtzeile hervorbrachte und die zwei Jahrzehnte lang das Denken und Handeln einer Generation von linken, rebellischen Intellektuellen im Iran prägte.
Man rezitierte die Verse hymnisch, sang sie, zitierte sie in Flyern, und sie hörten sich dabei an wie eine schicke und zeitgemässe politische Parole. Wie ein Sprichwort, eine Weisheit wiederholte man diese Gedichtzeilen bei fast jeder Ansprache oder Versammlung so lange, bis sich das Wir 1979 in seiner Gänze offenbarte. Bis endlich die Revolution kam und der Schah aus dem Land floh.
Dann verschwand das Gedicht aus der Öffentlichkeit. Und je mehr sich die revolutionäre Macht mit ihrer Robustheit und Brutalität durchsetzte, umso leichter und besser konnte man das Gedicht aus dem Gedächtnis tilgen.
Nun, fast 42 Jahre später, tauchen die Verse langsam wieder auf. Zuletzt waren sie Ende Dezember 2021 bei einer Versammlung mit mehreren tausend Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu hören. Eine dreistündige virtuelle Veranstaltung, zu der sich Menschen aus allen Teilen der Welt, der Iran eingeschlossen, angemeldet hatten.
Gastgeber der Veranstaltung war ein kleiner politischer Zirkel, der sich für eine «säkular-demokratische» Zukunft Irans einsetzt.
Clubhouse ist alles
Dutzende solcher politischen Meetings finden täglich statt, der Social-Media-Plattform Clubhouse sei gedankt. Die Audio-App ersetzt dieser Tage für viele Iraner und Iranerinnen das, was sie in der realen Welt vermissen: Rede- und Versammlungsfreiheit, ein offenes Forum für ernsthaften Gedankenaustausch, einen virtuellen Kommentarplatz für bekannte und weniger bekannte Journalisten oder eine öffentliche Sitzung jener iranischen Oppositionsgruppen, die Transparenz bekunden wollen.
Die App ist inzwischen auch zu einer Kanzel für redegewandte Prediger geworden. Propagandisten aller Couleurs, Mullahs, Musiker oder Komiker starten fast täglich im «House» ihren eigenen «Room». Noch ist das alles möglich, noch wird Clubhouse im Iran geduldet, obwohl Freitagsprediger die Regierung regelmässig auffordern, endlich ein «nationales Internet» zu installieren.
Das Thema der besagten Veranstaltung war das, was viele Iraner im In- und Ausland dieser Tage umtreibt und was man wahrscheinlich in einem einzigen Wort zusammenfassen könnte: Übergang. Gemeint ist damit die schwierige Phase zwischen der Islamischen Republik und der gewünschten Ordnung danach.
Hauptredner war der bekannte Journalist und Soziologe Morad Vaisi. Er kennt sein Metier bestens. Vor 21 Jahren begann er seine Karriere und schrieb für eine Reihe reformorientierter Zeitungen, die damals noch im Iran erscheinen durften.
Der iranisch-irakische Krieg, in dem er seinen Militärdienst ableistete, lässt ihn nicht los. Die drei dicken Bücher, die er über diesen achtjährigen blutigen Waffengang geschrieben hat, lesen sich wie ein historisches Militärdokument. Vaisi gilt als anerkannter Kenner der Militär-und Sicherheitsstruktur der islamischen Republik.
Ungewiss, was kommt
Dass das Bestehende nicht bestehen bleibt, scheint bei dieser und ähnlichen Veranstaltungen, die täglich Tausende besuchen, ebenso Gewissheit zu sein wie die Überzeugung, dass sich diese eigenartige «Republik» nicht reformieren lässt. Wie die Islamische Republik aber genau enden wird, darüber wird in verschiedenen Oppositionsgruppen im In- und Ausland heftig gestritten und spekuliert. Wer oder was das Bestehende hinwegfegen wird, ob eine klassisch-blutige Revolution oder eine ausländische Intervention, ein friedlicher Volksaufstand oder ein Mix aus allem, darüber werden dieser Tage etliche Seiten geschrieben, unzählige Stunden verbracht.
Sogar über einen möglichen Staatsstreich der Revolutionsgarden gegen die herrschende Geistlichkeit wird kontrovers spekuliert und polemisiert. Garden und Geistlichkeit bedingten und brauchten sich gegenseitig, die Revolutionsgarden seien selbst das System; gegen wen sollten sie denn überhaupt putschen, wirft Militärkenner Vaisi ein.
Wie auch immer: Alle glauben, hoffen und wünschen sich einen friedlichen Wechsel, und alle sind gegen Gewalt und Blutvergiessen, so jedenfalls die verbalen und schriftlichen Erklärungen von Oppositionsgruppen. Alle geben an, demokratische Verhältnisse errichten zu wollen, und fast alle streben eine Trennung von Religion und politischer Macht an. Und all das liest man auf geduldigem Papier oder hört man täglich im Clubhouse.
Übergang oder Sturzklippe
Solche Wünsche und Hoffnungen in allen Ehren, doch die kommende Wirklichkeit wird brutal und erbarmungslos sein; darüber sind sich alle einig. Selbst die Mächtigen im Land prophezeien eine harte Zukunft und fordern die Bevölkerung deshalb zu Geduld auf. Am 12. Januar erklärte ein Regierungssprecher, bald werde ein Couponsystem für Brotverteilung eingeführt. Offiziell leben im Iran etwa 70 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.
Wo man auch stehen, welche Perspektive man auch einnehmen mag: Die Wirklichkeit birgt die Potenziale eines Albtraums in sich. Vielfältig sind die Namen dieses dunklen Szenarios: syrische Verhältnisse, Bürgerkrieg oder eine wüste Wirklichkeit, in der jeder versucht, seine Schäfchen ins Trockene zu bringen. Die Vorboten dieser beängstigenden Realität sind schon zu sehen.
Ohne Wegweiser könnte sich der «Übergang» als mörderische Klippe erweisen.
Zahlreich, vielfältig und bunt sind zwar die iranischen Oppositionsgruppen, politischen Zirkel und Think-Tank-Teams. Doch eine effektive Organisation, eine landesweite Partei oder ein Netzwerk, das diese überaus schwierige Phase managt, ist nicht in Sicht.
Die einzige Partei
In der politischen Geschichte der letzten hundert Jahre gab es eine einzige Partei im Iran, die diesen Namen wirklich verdient. Das war die Tudeh-Partei, eine moskauhörige kommunistische Organisation mit allem, was man von Parteien gleichen Typs kennt: Zentralkomitee, Politbüro, Massenorganisationen für alle Teile der Bevölkerung und natürlich der unabdingbare «demokratische Zentralismus». Das Zentralkomitee entwarf den Plan und bestimmte den Weg, auf dem Mitglieder und Sympathisanten zu marschieren hatten. In Wahrheit war die Tudeh nicht viel mehr als eine Filiale des sowjetischen Komintern. Antiimperialismus war für die Partei gleichbedeutend mit der Wahrung der sowjetischen Interessen im Iran.
Und als 1979, auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs, die islamische Republik mit ihrem in jeder Hinsicht spektakulären Antiamerikanismus die Weltbühne betrat, da schien die Tudeh-Partei in ihrem Element zu sein. Plötzlich standen ihr gesamtes Potenzial, ihre jahrzehntelange politische Erfahrung und vor allem ihre offenen und geheimen Kanäle zur Sowjetmacht den neuen Machthabern zur Verfügung. Und sie haben es verstanden, von all dem bestens Gebrauch zu machen.
Genau fünf Jahre lang, länger als jede andere politische Organisation, duldeten sie die kontrollierte Existenz der Tudeh. Und als sie sich ihrer eigenen Kanäle und Verbindungen nach Moskau sicher waren, starteten sie einen gnadenlosen Vernichtungsfeldzug gegen alle Glieder der Partei. Massenhinrichtungen und Folter gehörten ebenso dazu wie öffentliche Geständnisse und Reuebekundungen im Fernsehen.
Putin braucht keine Partei
Die Eliminierung war total, die Tudeh erholte sich nicht mehr davon. Die heutige Existenz der Partei zeigt sich eher in einer Webseite als in einer spürbaren Realität. Und wegen ihrer langen und wirksamen Unterstützung der Mächtigen in der Islamischen Republik steht die Tudeh-Partei auch in der Opposition in Verruf. Und Wladimir Putin benötigt heute für seine Beziehungen zu Ali Chamenei weder eine Partei noch einen Vermittler. Er bestimmt selbst mit, was in Teheran geschieht.
Doch das tragische Schicksal der Tudeh prägt nicht nur die Vergangenheit. Wie eine schwere Last, eine untilgbare Saat des Misstrauens beeinflusst die Geschichte der Partei die Gegenwart der gesamten iranischen Opposition. Deren Bereitschaft zu Kooperation ist immer noch rudimentär. Sehr langsam, unter dem Druck der harten Realität, fangen sie nun an, gemeinsame Foren und Zirkel für eine effektive Zusammenarbeit zu bilden. Bis zu einer einheitlichen Oppositionsfront gegen die Islamische Republik ist es jedoch noch ein sehr weiter Weg. Vieles müssen sie überwinden, um den politischen Kompromiss für die Iranerinnen und Iraner akzeptabel zu machen. Das Wort Kompromiss wird im Persischen mit سازش übersetzt, worunter eher Unterwerfung, Aufgeben oder Dulden verstanden wird als Ausgleich, Mittelweg oder Verständigung.
Vielleicht eine Oppositionsführerin?
Mit einem Alleinanspruch das Licht der Welt zu erblicken und dann langsam in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden, das scheint das Schicksal mancher Vereine und Organisationen zu sein, die in einer Blase von Ideologien und Glaubenssätzen verharren. Dass die Revolution kommen wird, dessen sind sich trotzdem viele linke Gruppen gewiss. Folgenden bekannten Satz Lenins halten sie für eine fast mathematische Gewissheit:
«Eine revolutionäre Situation gibt es dann, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen.»
Die politische Geschichte Irans ist auch die Geschichte von Persönlichkeiten. Historische Wendepunkte der vergangenen hundert Jahre beginnen und enden mit bekannten Personen, mögen sie Reza Pahlevi, Mohammad Mossadegh oder Ruhollah Chomeini heissen. Ohne Vater war in der Vergangenheit ein Vorwärtskommen in dieser paternalistischen Gesellschaft nicht denkbar.
Eine Ironie der Geschichte ist aber, dass sich im heutigen Iran die Frauen zu einer relevanten politischen Grösse entwickelt haben – obwohl die islamische Republik alles Mögliche unternimmt, um sie von der Teilhabe am öffentlichen Leben fernzuhalten. 60 Prozent der Studierenden sind Frauen. 2020 wurde mit der Menschenrechtsanwältin Nasrin Sotoudeh erstmals eine Iranerin mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. 2021 wurde die iranische Menschenrechtsaktivistin Narges Mohammadi für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen – beide sind auch Nicht-Iranern bekannt als politische Gefangene mit anerkannter moralischer Autorität. Die wichtigste reformorientierte Partei, die im Iran noch geduldet wird, wählte Mitte Dezember eine Frau zur Parteichefin; die streng verschlossene Organisation der Volksmujahedin wird ebenfalls von einer Frau geführt. Und Farah Pahlevi, die Witwe des Schahs, geniesst beachtenswertes Ansehen auch jenseits der RoyalistInnen.
Die Beispiele, wie Iranerinnen sich den öffentlichen Raum erkämpfen, liessen sich fortsetzen. Die Zeit hin zu einer bekannten Oppositionsführerin ist nicht mehr lang. Denn zwingend ist es nicht, dass in dieser gefährlichen Phase der Geschichte ein Mann die versprengte iranische Opposition anführt. Doch ob Mann oder Frau: Eine vertrauens- und glaubwürdige Persönlichkeit, die nicht nur von den Oppositionsgruppen, sondern auch von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert wird, ist noch nicht in Sicht.
Bewegungen gebären ihre eigene Persönlichkeiten; Revolutionsführer kommen in der Revolution zur Welt, sagen Optimistinnen. Doch was tun, wenn angesichts der 42-jährigen Herrschaft der Revolutionsmacht viele jegliche Revolution fürchten?
Mit freundlicher Genehmigung von Iran Journal