Erst wurde der Blutrichter Ebrahim Raissi zum Präsidenten des Iran gekürt, dann avancierten Offiziere der Quds-Brigaden der Revolutionsgarden zu Provinzgouverneuren. Sie wollen die kommenden Krisen im Land auf ihre Art lösen, so wie sie es seit dreissig Jahren in nahen und fernen Kriegen und Bürgerkriegen tun. Denn auch sie wissen, dass nichts so bleiben kann, wie es ist. Der mächtigste Mann des Landes tritt dieser Tage kaum öffentlich auf. Das ist nicht allein Corona geschuldet.
Eine Bankrotterklärung als Abschiedsgruss: Eine Woche vor der Amtsübergabe an seinen Nachfolger legte Irans Präsident Hassan Rouhani einem eingeweihten Kreis ein Papier vor, das mit Zahlen und Fakten sachlich darlegt, in welchem Zustand sich das Land befindet. Man könnte es für ein Geständnis halten, für eine Zustandsbeschreibung und zugleich für eine Vorschau, wohin das Land steuert und mit welcher Geschwindigkeit. Die Autoren der Studie sind Experten der iranischen Behörde für Budget und Planung, der wichtigsten Behörde des Iran.
Kurz zusammengefasst: Die Islamische Republik ist spätestens im Sommer 2023 völlig bankrott, heisst es in dem Papier. Die nationale Währung werde rasant an Wert verlieren, der Kurs des US-Dollars könnte sich verzehnfachen und auf 1 zu 300’000 Tuman steigen, die Inflation die 100%-Marke weit überschreiten. Die Prognose über wachsende Armut und steigende Arbeitslosigkeit ist zwar kurz, aber trotzdem sehr beängstigend.
Abwenden liesse sich diese Katastrophe nur, wenn sich die Struktur der iranischen Wirtschaft vollkommen ändern und alle ausländischen Sanktionen aufgehoben würden, meinen die Experten. Dabei schweigen sie über andere existentielle Krisen, die das Leben aller Iraner und Iranerinnen, ja das gesamte Land – jenseits der politischen Ordnung – bedrohen. Sie erwähnen weder die Wasserknappheit noch die Dürre oder andere Umweltprobleme. Selbst die Coronakrise kommt nur am Rande vor.
Rouhani konnte oder wollte in seinem merkwürdigen Abschiedsgruss nicht sagen, dass die Islamische Republik nicht nur ihre irdischen Ziele vollkommen verfehlt hat, sondern auch geistig und religiös völlig bankrott ist.
Es ging nie um den Iran allein
Als sich diese eigenartige Republik vor mehr als 41 Jahren konstituierte, schrieb man in die Präambel ihrer Verfassung Vers 92 aus Sure 21 des Koran: «نَّ هَذِهِ أُمَّتُكُمْ أُمَّةً وَاحِدَةً وَأَنَا رَبُّكُمْ فَاعْبُدُونِ»: «Das ist Eure einheitliche Ummah und ich bin eurer Herr, den ihr zu verehren habt.» Diese Ummah (die Gemeinschaft der Muslime und Musliminnen) werde von einem Imam geführt und trete ständig und weltweit für die islamische Revolution ein, heisst es im zweiten Paragraphen. Die neue Ordnung gründete sich also nicht für das Land und seine Bevölkerung allein. Der Iran und die Iraner und Iranerinnen waren nur Teile eines viel wichtigeren, grösseren Ziels, das man mit aller Macht zu erreichen hatte.
Ayatollah Ruhollah Chomeini, der Gründer dieser Ordnung, hatte für alles, was nach originär iranisch oder vorislamisch klang, nur Häme und Verachtung übrig. Nicht einmal ein Jahr war nach seiner Rückkehr in den Iran vergangen, da erklärte er die Nationale Front und die Anhänger Mossadeghs für Häretiker und Abtrünnige. Der 1953 durch einen von der CIA initiierten Staatsstreich gestürzte Ministerpräsident Mohammed Mossadegh galt und gilt noch heute für alle politischen Gruppen und Strömungen des Landes als nationales Symbol, als irgendwie unantastbar.
Chomeini sah sich tatsächlich als Imam mit einer islamisch-universellen Berufung. Der Iran, seine Potentiale und seine Bevölkerung waren für ihn nur ein Vehikel für seine göttliche Mission – natürlich schiitischer Prägung. Unmittelbar nach seiner Machtübernahme sandte er junge und revolutionäre Missionare in alle Nachbarländer, in denen eine schiitische Gemeinschaft lebte. Die Armee des Irak, jenes Landes, in dem er 16 Jahre als Exilant gelebt hatte, rief Chomeini zur Rebellion auf, was schliesslich zu dem achtjährigen mörderischen Iran-Irak-Krieg führte. Im Libanon liess er unter Schiiten die Hisbollah gründen, die heute zu einem unverzichtbaren Machtfaktor im Nahen Osten geworden ist. Auch im Afghanistan-Krieg während der sowjetischen Besatzung waren seine Kämpfer aktiv, und die Botschaften Irans wurden verpflichtet, weltweit für diese Mission zu werben. Und das, was Chomeini vorhatte, wurde schnell zum Hauptziel jenes Staatswesens, das sich Republik nennt.
Hin zur Islamischen Zivilisation
Seit dem Tod Chomeinis vor 32 Jahren verfolgt der neue Revolutionsführer Ali Chamenei diese Mission noch intensiver, planmässiger und unbarmherziger. In mehreren Grundsatzreden und Schriften legte er genau dar, wo seine «Republik» momentan steht und was sie innen- und aussenpolitisch tun müsse, damit ihre historische Mission Wirklichkeit wird.
Zwei Jahre vor dem Ende von Rouhanis Amtszeit sagte Chamenei in seiner Geburtsstadt Maschhad, wo er alljährlich zum iranischen Neujahr eine Rede hält, man habe auf dem Weg zur islamischen Zivilisation bereits drei Stadien hinter sich: Revolution, Macht und Regierung. Nun müsse man die islamische Gesellschaft realisieren, um dann in die Phase der islamischen Zivilisation einzutreten. Nur so schaffe man die Voraussetzung für das Erscheinen des zwölften Imams. Dieser Imam ist eine Art schiitischer Messias, der vor fast 1’100 Jahren im Alter von fünf Jahren in der Verborgenheit verschwand. Seitdem warten die Schiiten sehnsüchtig auf seine Rückkehr. Dann wird er die Welt mit vollkommener Gerechtigkeit erfüllen. Bis dahin aber sind die Grossayatollahs seine Stellvertreter.
Diese Rede war nur der Anfang. Chamenei wiederholte seine These wieder und wieder, erläuterte bei jeder Gelegenheit die fünf Stadien von der Revolution bis zur Zivilisation und forderte Forschungsinstitute an den Universitäten und schiitische Seminare auf, Workshops und Arbeitsgruppen zu gründen und Studien zu dieser These zu veröffentlichen.
«Nation building» als kolonialistisches Projekt
Und diese Institute schreiben und argumentieren seitdem in ihren dicken Büchern und Expertisen über die islamische Zivilisation als Endziel als Alternative zu „nation building“, das ein westliches, kolonialistisches Projekt sei. Die ganze Kampagne nennt sich «zweiter Schritt der Revolution».
«Ich bin kein Diplomat, kein Staatsmann, ich bin ein Revolutionär»: Diesen Satz wiederholt Chamenei so oft, bis jede und jeder im Land begreift, dass nicht der Staat, nicht das Land oder das Wohl seiner Bevölkerung das Ziel der Herrschaft sei. Die weltweite Revolution hin zur islamischen Zivilisation war und ist die Endstation, alles andere, selbst das Schicksal eines Volkes, erscheint diesem hehren Ziel gegenüber als marginal, banal und irrelevant.
Präsidiale Insolvenzmeldung
Kein Wunder, dass nach einer fast 42-jährigen Herrschaft und dem Einsatz von enormen menschlichen und materiellen Opfern nun die präsidiale Insolvenzerklärung verkündet wird. Jeder dritte Iraner und jede dritte Iranerin wolle das Land verlassen, hat vor kurzem ein Meinungsforschungsinstitut herausgefunden. Auf Instagram berichtet die Deutsche Botschaft in Teheran, im letzten Wintersemester seien 416’000 ausländische Studierende an deutschen Hochschulen zugelassen worden, darunter befänden sich mehr als 11’000 Iraner und Iranerinnen. Die Zahl der Bewerbungen sei viel höher gewesen, doch man habe nicht mehr Visa erteilen können.
Welchen Ausweg sehen die Mächtigen aus dieser Sackgasse, wie wollen sie mit der zunehmenden Unzufriedenheit der über 80 Millionen Iraner umgehen, von denen 70 Prozent nach offiziellen Angaben unter der Armutsgrenze leben? Offenbar mit bewährter und bekannter Methode.
Der Mann der Stunde
Seine Vergangenheit ist bizarr und beängstigend, trotzdem oder gerade deshalb soll er die ungewisse Zukunft managen. Wie die islamische Republik ihre multiplen existenziellen Krisen überstehen, was nach Chameneis Tod geschehen und welche Rolle dann Präsident Raissi spielen soll, über all das und über noch viele andere Unwägbarkeiten wird er an vorderster Front entscheidend mitbestimmen. Der breiten Öffentlichkeit im Westen mag er kein Begriff sein, aber für die Eingeweihten in der Region und die Geheimdienste der Welt ist er ein alter Bekannter. 63 Jahre ist er alt und nennt sich seit der Revolution Ahmad Vahidi. Wie viele andere Mächtige der Islamischen Republik änderte auch er damals seinen nicht allzu vorteilhaft klingenden Nachnamen.
Seit Bestehen der Islamischen Republik ist er ein «Gardist der Revolution». Er gründete und leitete drei Jahre lang den Geheimdienst der Revolutionsgarden. Dann schuf er die Quds-Brigaden, jene Spezialeinheit, die exterritoriale Operationen durchführt. Zehn Jahre war er selbst Chef dieser Truppe. Ihm folgte der berühmt-berüchtigte General Qassem Soleimani, der im Januar 2020 auf Befehl von US-Präsident Donald Trump auf dem Flughafen von Bagdad ermordet wurde. Vahidi gehörte stets dem Kommandostab der Revolutionsgarden an, war Verteidigungsminister unter Präsident Mahmud Ahmadinedschad und ist bei Rüstungseinkäufen und -produktion ein wichtiger Mitentscheider.
In der neuen Regierung verkörpert Vahidi die faktische Macht. Die Liste seiner Zuständigkeiten ist lang: Der General ist Innenminister, Chef des nationalen Sicherheitsrats, Oberbefehlshaber der Streitkräfte für innere Sicherheit und Leiter des Generalstabs für die Coronabekämpfung. Wenige Stunden nachdem das Teheraner Parlament seine Ernennung zum Innenminister fast einstimmig bestätigt hatte, traf eine scharfe Protestnote aus Argentinien ein. Denn Vahidi ist nach Einschätzung der argentinischen Ermittler Drahtzieher des schweren Bombenanschlags 1994 auf das jüdische Gemeindezentrum Amia in Buenos Aires, bei dem 85 Menschen ums Leben kamen. Dass er auf der «Red-Notice-Liste» von Interpol ganz oben rangiert, verdankt er diesem und einigen anderen spektakulären Terrorakten in verschiedenen Ländern der Erde.
Alles Quds-Offiziere
Mit ausreichender Macht ausgestattet, soll er nun im Inneren des Landes die gefährlichen Übergangsklippen zur Post-Chamenei-Ära managen. Ein Zeitabschnitt, dessen beängstigende Vorzeichen längst am dunklen Horizont zu sehen sind. Im zweiten Monat seiner Amtszeit hat Vahidi die Gründung eines neuen mächtigen Geheimdienstes bekanntgegeben, der ihm persönlich untersteht. Damit hat die Islamische Republik nun 17 unterschiedliche Geheimdienste.
Für die ungewisse Zukunft hat der neue Innenminister einen alle Lebensbereiche umfassenden Plan, den er fast wöchentlich bei seinen Reisen durch die Provinzen des Landes vorstellt. Bei diesen Reisen geht es immer um die Vorstellung eines neuen Provinzgouverneurs. Das neueste Kapitel seines «Entwurfs» stellte er am 9. Dezember im Nordosten des Landes vor. Es war ein detaillierter Plan zur Frauenpolitik mit dem Ziel, die «Gefahr des Feminismus» abzuwenden. Am Ende seiner Ausführung resümierte Vahidi: «Wenn die Islamische Republik je bezwungen und zerstört werden sollte, dann an der 'Frauenfront‘.»
Die neuen lokalen Machthaber, bei deren Amtseinführung er jeweils einen Teil seines «Entwurfs» präsentiert, kommen fast alle, wie der Chef selbst, aus den Quds-Brigaden. Sie verkörpern Vahidis Politik und Programm, sie sind mit neuen und notwendigen Befugnissen ausgestattet und können im Bedarfsfall zu Alleinherrschern ihrer Region mutieren.
Das Ende eines Theaters
Schon in den ersten vier Monaten der Präsidentschaft von Raissi ist unverkennbar, dass wir uns in einem neuen Geschichtsabschnitt der Islamischen Republik befinden. Das Zeitalter des Dualismus – hier die gewählte, aber machtlose zivile Regierung, dort die allmächtige Schattenherrschaft der Revolutionsgarden – ist endgültig vorbei: Die Revolutionsgarden haben inzwischen auch die zivile Verwaltung auf fast allen Ebenen des Staates und im ganzen Land übernommen.
Sein oder Nichtsein
Dass aber gerade ihre Quds-Brigaden, jene Einheit, die mit ihrer speziellen Brutalität seit fast 30 Jahren in Kriege und Bürgerkriege sowie in zahlreiche Terroraktionen im nahen und fernen Ausland involviert ist – dass ausgerechnet diese Lieblingstruppe von Ali Chamenei nun die innere Sicherheit übernimmt, sagt viel darüber aus, wie der mächtigste Mann des Landes die bevorstehende Zeit einschätzt und wie er die kommenden Krisen lösen will. Sein persönliches ideologisches Erbe steht zur Disposition. Es geht um Sein oder Nichtsein, um den Fortbestand der Islamischen Republik.
Alljährlich im Dezember legt der iranische Präsident den Haushalt des nächsten persischen Jahres vor, das am 21. März beginnt. Das Budget der Revolutionsgarden soll sich im nächsten Jahr fast verdreifachen, so Raissis Plan, den er am 7. März dem Parlament vorlegte.
Einfältig und ahnungslos
Oft bezeichnet Präsident Raissi seinen Staat als «heilige Ordnung». Man darf bezweifeln, ob der 63-Jährige, der sich Ayatollah («Zeichen Gottes») nennt, in der Lage ist, die Komplexität und Gefährlichkeit der innen- und aussenpolitischen Krisen, die seine Ordnung gefährden, in Gänze zu erfassen. Ein kurzer Blick in seine Biographie und auf seinen Werdegang in der Islamischen Republik zeigt, warum man von ihm kein Konzept erwarten darf. Eine Bildung, die diesen Namen verdient, hat Raissi nie genossen.
Er besuchte nur sechs Jahre lang die Schule. Nach der Volksschule lernte er einige Jahre an Predigerseminaren in verschiedenen Städten des Landes. Als die Revolution ausbrach, war er 21 Jahre alt und wurde sofort Revolutionsrichter. Seine Todesurteile gegen Tausende politische Gefangene in den 1980er Jahren brachten ihm den Titel des «Blutrichters» ein. Vierzig Jahre lang war Raissi in der Justiz dieser merkwürdigen Republik in führenden Postionen, zuletzt als oberster Chef der islamischen Gerichtsbarkeit für das ganze Land.
Seit fast vier Monaten besucht er nun fast wöchentlich als Präsident verschiedene iranische Provinzen. Er sieht überall Probleme, hört sich Klagen an, zu denen er zustimmend nickt und dann mit Versprechungen abreist. Nichts deutet darauf hin, dass er oder sein Team willig oder fähig sind, nach Konzepten und Antworten zu suchen. Im Gegenteil.
Im Haushaltsplan für das nächste Jahr dürfen sich nicht nur die Revolutionsgarden auf eine Verdreifachung ihres Budgets freuen. Auch alle zwölf grossen Propagandainstitutionen, die seit über vierzig Jahren im ganzen Land und in allen Lebensbereichen tätig sind, werden zwischen 40 und 100 Prozent mehr Geld bekommen.
Dafür werden Subventionen für Grundnahrungsmittel und Medikamente gestrichen. Raissi verfügt nicht einmal über das, was eigentlich das Grundkapital eines jeden Mullahs ist, nämlich die Fähigkeit zum Predigen. Er kann nicht einmal jene Texte fehlerfrei lesen, die seine Leute ihm aufgeschrieben haben.
Paramilitärs überall
Begreift Raissi, in welcher Welt er lebt? Oder glaubt er weiterhin an Gewalt als wirksames, erstes und letztes Mittel der Problemlösung? Als ihn ein Journalist auf der ersten Pressekonferenz nach seiner Wahl zum Präsidenten nach den Todesurteilen fragte, die er zu Tausenden verhängt und vollstrecken lassen hatte, antwortete er, man müsse ihm für seine Taten internationale Preise verleihen.
Anfang November traten Innenminister Vahidi und Mohammad Zahraii, Kommandant der paramilitärischen Gruppen, gemeinsam vor die Presse und stellten ihren Plan zur Unterstützung der neuen Regierung vor. Man habe 43’000 Gruppen für den Einsatz im ganzen Land gebildet, hiess es dabei. Diese Freiwilligen würden in 10’283 Ortschaften unterschiedliche Aufgaben übernehmen, erklärte der Kommandant der Paramilitärs und zählte alles auf, was diese Truppen zu tun gedächten: von Wohnungs-, Strassen- und Kanalbau bis zur Unterstützung der Sicherheitskräfte vor Ort. Ihre Haupteinsatzgebiete würden die Grenzprovinzen Kurdistan, Chuzestan und Belutschistan sein.
Massenproteste und Gewalt
Man werde der Konterrevolution und dem Feind nicht erlauben, sich die Unzufriedenheit der Bevölkerung für ihre Ziele zunutze zu machen, ergänzte Innenminister Vahidi. Wie er mit der Verbitterung und dem Widerstand in der Bevölkerung umgehen will, zeigte er wenige Tage später in Isfahan, der drittgrössten Stadt des Landes, Touristenmagnet und einst Wiege des politischen Schiismus. Seit dem 9. November 2021 protestierten dort an jedem Freitag erst Zehntausende, zuletzt Hunderttausende Menschen gegen Wasserknappheit und die desaströse Wasserpolitik der Regierung. Der letzte Freitag im November war zugleich der letzte Tag ihrer Proteste. Die Truppen des Innenministers schossen mit Schrotkugeln in die Menge, Dutzende Protestierende wurden schwer verletzt. Tags darauf verkündete der Befehlshaber der Garden in der Region die Verhaftung von 67 «Unruhestiftern» und das Ende jeglicher Demonstrationen. Nun herrscht dort inoffiziell der Ausnahmezustand.
Die Vorgänge in Isfahan haben gezeigt, dass die Revolutionsgarden entschlossen sind, Proteste mit allen Mitteln zu unterdrücken, wie gross sie auch sein mögen. Im Iran sind nun die Kräfte für die innere Sicherheit zuständig, die fast zehn Jahre lang den blutigen Krieg in Syrien an vorderster Front geführt haben.
Lehrreich, aber beängstigend
Wie die Welt der neu ernannten Gouverneure aussieht, mag die folgende Begebenheit verdeutlichen: Am 23. Oktober stellte Innenminister Vahidi in der Stadt Orumieh vor einer geschlossenen Gesellschaft aus lokalen Machthabern den neuen Provinzgouverneur von Ost-Aserbaidschan vor. Vahidi hat nur Lobesworte für den Neuen, die Zeremonie wird aufgezeichnet. Dann tritt der Auserkorene auf, um sich für so viel Ehrung aus berufenem Munde zu bedanken. Plötzlich springt ein Gast auf und verpasst dem neuen Gouverneur eine Ohrfeige. Nachdem der kurze Tumult vorbei ist, sagt der Geschlagene, diese Szene habe ihn an jene Tage erinnert, als er in Syrien Gefangener der Konterrevolutionäre gewesen sei.
Später wurde bekannt, dass im Hintergrund der Ohrfeige eine Feindschaft unter Genossen von einst stand, denn sowohl der Täter wie auch das Opfer gehörten zu einer Gruppe von 57 hochrangigen Offizieren der Revolutionsgarden, die vor neun Jahren in der syrischen Stadt Homs von der Syrischen Freien Armee gekidnappt worden waren. Für die Freilassung dieser Gefangenen hätte er pro Kopf eine Million US-Dollar zahlen müssen, das Geld sei über das Emirat Katar ausgezahlt worden, offenbarte der damalige Präsident Ahmadinedschad am 31. Juli in der südiranischen Stadt Bushehr im Kreise seiner Anhänger.
Karriere eines Begriffs
Kein Wunder, dass der Begriff «Syrisierung» inzwischen zum festen Bestandteil des politischen Wortschatzes aller Iraner avanciert ist, die sich über die Zukunft des Landes äussern. Wie die Post-Chamenei-Zeit aussehen wird, ist dennoch schwer vorauszusagen. Der Schoss ist hochschwanger, alles kann er gebären. Eins ist sicher: So, wie es ist, kann es nicht bleiben. Es ist ungewiss, wer dem 83-jährigen Chamenei folgen wird, der in der letzten Zeit selten in der Öffentlichkeit zu sehen ist. Gardisten wie der Innenminister Vahidi werden dabei mit Sicherheit das letzte Wort haben. Deshalb versteigen sich viele zu der Aussage, Raissi sei der letzte Präsident der Islamischen Republik, der in bisheriger Form an die Macht kam.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal
Dieser Artikel ist Teil eines Dossiers, in dem das islamische System im Iran und deren Alternativen vorgestellt werden.