Hätte man es wissen können? Und wenn ja: seit wann? 2005 vielleicht, als Wladimir Putin den Zusammenbruch der Sowjetunion als «grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts» beklagte. Oder erst, seit er 2014 die Krim annektieren liess? Sind die Brutalität seiner Soldaten in der Ukraine, die gezielte Zerstörung ziviler Infrastruktur oder die antiwestliche Lügenpropaganda russischer Medien überraschend oder waren sie absehbar?
Antworten bieten Galia Ackerman und Stéphane Courtois mit der jetzt im Piper-Verlag erschienenen Sammlung «Schwarzbuch Putin». Was die französisch-russische Schriftstellerin und Historikerin und ihr französischer Kollege mit Unterstützung weiterer angesehener Russlandexperten über Putins Weg aus einfachen Verhältnissen in Leningrad zum Kreml-Herrscher in Moskau zusammengetragen und analysiert haben, ist auch die Biografie eines ebenso gnadenlosen wie entschlossenen Machtmenschen. Zudem gehen sie der Frage nach, ob der Ukraine-Krieg vermeidbar gewesen wäre und wie es nach dieser «Zeitenwende» weitergehen wird.
Geheimdienste für die Machtsicherung
Als 1997 Courtois’ Aufsatzsammlung «Schwarzbuch des Kommunismus» erschien, wirkte sie für viele wie ein Augenöffner. Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit der sogenannten kommunistischen Weltbewegung wurde klarer als je zuvor. Das «Schwarzbuch Putin» vermittelt nun das Bild eines Mannes, dessen Geisteshaltung nicht auf kommunistischen Idealen, sondern auf dem Verhaltens- und Ehrenkodex des KGB beruht. Mit eiskalter Berechnung soll Putin über Jahre hinweg den sowjetischen Geheimdienst und dessen Nachfolger FSB zu einer machtvollen Truppe von Gefolgsleuten in sämtlichen irgendwie wichtigen Positionen von Staat und Gesellschaft ausgebaut haben. Mit nur einem Sinn und Zweck: die Machtsicherung für Wladimir Putin.
Die Autoren gehen auf eine immer noch verbreitete Interpretation der politischen Entwicklung Putins ein, wonach dieser anfangs dem freien Westen gegenüber positiv eingestellt gewesen sei, sich dann aber – vor allem aufgrund der «Expansion» der Nato – hintergangen und erniedrigt fühlte. Laut «Schwarzbuch» war Putins relativ kooperative Haltung dem Westen gegenüber pragmatische Heuchelei. Sie sei vor allem von der Notwendigkeit bestimmt gewesen, zunächst innere Probleme zu lösen – die Macht der Oligarchen zu begrenzen, ihr Vermögen umzuleiten, die Bürgerrechte einzuschränken und die Opposition ausschalten, den Regionen die Autonomie zu nehmen, den brutal geführten Krieg in Tschetschenien zu gewinnen. Und währenddessen international nicht in Ungnade zu fallen.
Wie sehr und wie bereitwillig sich vor allem deutsche Politiker von Gerhard Schröder bis Angela Merkel von Putins Charmeoffensive in Richtung Europa in den 2000er Jahren einlullen liessen, kommt nicht zu kurz. Und dabei natürlich auch nicht, wie sich die Energiepartnerschaft Russlands mit Deutschland zum Erpressungsinstrument entwickeln konnte.
Zurück zur geopolitischen Sowjetgrösse
Wer vom «Schwarzbuch Putin» Enthüllungen erwartet, wird enttäuscht. So gut wie alle verwendeten Fakten und Zitate waren jeweils öffentlich verfügbar. Das macht es allerdings umso erstaunlicher, dass politisch Verantwortliche im Westen, namentlich in Deutschland, nicht längst die Notbremse gezogen hatten und es anscheinend erst der Aggression gegen die Ukraine bedurfte, um aus Träumen von einem guten Verhältnis zu Putins Russland zu erwachen.
«Putins Ambitionen enden nicht an den traditionellen Grenzen des früheren Sowjetreichs, sondern scheinen weltumspannend zu sein», warnen die Autoren. «Sie stehen allerdings nicht immer unter dem Banner der Eroberung – für den armen russischen Staat alles in allem unmöglich –, sondern vielmehr unter dem Banner der Zerstörung jeglicher Ordnung und, um es deutlich zu sagen, des Verbrechens.»
Zu Putins gefährlichsten «Wahnideen» gehört demnach die Wiederherstellung der geopolitischen Grösse der Sowjetunion. Welche Schlussfolgerung ist laut «Schwarzbuch» zu ziehen? «Eine Rückkehr zum Vorkriegsverhältnis zu Russland darf nicht infrage kommen, weil das nicht wirksam wäre, nicht einmal garniert mit nationaler Reue und einer harten Bestrafung der Schuldigen (Behörden, Streitkräfte, Propagandisten usw.). Nur dynamische neue Kräfte, die bereit sind, dem Sowjetismus und der Machtkontrolle durch den KGB/FSB ein Ende zu setzen, können Russland und sein Volk vor den Chimären einer blutigen Vergangenheit retten.»
Galia Ackermann und Stéphane Courtois (Hrsg.): «Schwarzbuch Putin», Piper Verlag, 2023, 512 Seiten.