Am Sonntag wählt Tunesien seinen ersten Präsidenten unter der neuen Verfassung, die das Land Ende 2013 verabschiedet hat. Es stehen 23 Kandidaten im Rennen. Unter ihnen eine einzige Frau, die Richterin Kalthoum Kannou. Meinungsumfragen sind seit dem Beginn der Wahlperiode verboten. Doch Kaid Essebsi, der 87jährige Chef der Partei Nida Tunes (Ruf, Stimme Tunesiens), gilt als der aussichtsreichste Kandidat.
Nida Tunes hat vor einem Monat die Parlamentswahlen gewonnen. Die Partei erhielt 85 Parlamentssitze von 217. Die zweite Partei in den Parlamentswahlen war an-Nahda, die Partei der demokratischen Muslime, die zuvor, in dem provisorischen Parlament – das auch als Verfassungsversammlung diente – die Mehrheit besessen hatte. An-Nahda hat in dem neuen Parlament 69 Sitze inne.
Präsident mit exekutiven Befugnissen
Eine Regierung ist noch nicht gebildet. Angesichts der Resultate der Parlamentswahlen muss es eine Koalitionsregierung werden, da keine Partei die absolute Mehrheit besitzt. Doch die Politiker warten auf die Resultate der Präsidentenwahl, bevor sie zur Koalitionsbildung schreiten.
Tunesien hat ein «semipräsidiales» Regierungssystem. Das heisst, es wird einen Ministerpräsidenten geben, der die Regierung führt, aber der Präsident wird für Aussenpolitik und Sicherheit über exekutive Macht verfügen. Deshalb wird er es sein, der den Aussen-, den Innen- und den Verteidigungsminister bestimmen wird.
Viel Vorsicht und Taktik
An-Nahda, die zweite Partei im Parlament, hat beschlossen, sie wolle sich nicht um die Präsidentschaft bewerben. Parteiführer Ghannouchi sagte, an-Nahda wolle vermeiden, dass einmal mehr «die Säkularisten» gegen «die Muslime» aufträten und das Land weiter spalteten. Die Partei hatte ursprünglich geplant, zusammen mit anderen Parteien einen Gegenkandidaten gegen Essebsi zu unterstützen. Doch an-Nahda konnte sich auf keinen gemeinsamen Kandidaten mit anderen Parteien einigen. Deshalb gibt die Partei nun ihren Wählern keinerlei Wahlempfehlung.
Der bisherige Präsident der Übergangsregierung, Mouncef Marzouki, kann als der Zweitplatzierte unter den aussichtsreichsten Bewerbern gelten. Er ist Arzt, ein altbewährter Kämpfer für Menschenrechte und war ein zäher Gegner des 2011 durch die Revolution Tunesiens abgesetzten Diktators und Staatschefs Ben Ali. Dem Vernehmen nach hat Marzouki die Parteifürung von an-Nahda darum ersucht, ihn nicht offiziell zu unterstützen. Er wolle die Wahl nicht als der «inoffizielle Kandidat von an-Nahda» bestreiten – wohl aus ideologischen und aus taktischen Gründen.
Gegen den Mann der Vergangenheit
Marzouki gehört zu den säkular ausgerichteten Tunesiern. Als solcher kann er damit rechnen, dass er die Stimmen der «Revolutionäre von 2011», islamisch gesonnene und säkulare, erhalten wird, soweit sie vermeiden wollen, dass ein «Mann der Vergangenheit» die Präsidentschaft erringe. Als ein solcher kann Essebsi eingestuft werden. Er war Minister unter Bourgiba wie auch Parlamentssprecher unter Ben Ali. Deshalb kann Marzouki erwarten, dass viele Tunesier, die Essebsi nicht als Präsidenten sehen möchten, ihm ihre Stimme geben werden.
Wenn kein Kandiat im ersten Wahlgang ein absolutes Mehr erreicht, muss Ende Dezember eine Stichwahl zwischen den beiden Spitzenkandidaten durchgeführt werden. Wenn es dazu käme, erhielte wahrscheinlich Marzouki eine zweite Chance.
Weiterhin Islamisten gegen Säkulare
Die Hauptspaltung der Tunesier in pro-islamische und säkulare Gruppierungen besteht auch in diesen Präsidentschaftswahlen. Nida Tunes wurde 2012 von dem Altpolitiker Essebi gegründet mit dem Hauptzweck, der damals regierenden pro-islamischen an-Nahda Partei entgegenzutreten. Dies hat bewirkt, dass Nida Tunes zu einem Sammelbecken wurde, in dem sich Politiker sehr unterschiedlicher Ausrichtung zusammenfanden. Personen der politischen Linken und solche der politischen Rechten, solche, die bei der Revolution mitgewirkt hatten aber auch solche, die zu den Politikern und Profiteuren gehörten, die Ben Ali dienten, fanden sich auf dem gemeinsamen Nenner des Säkularismus, mit anderen Worten des Widerstands gegen an-Nahda.
Dies ist weiterhin so: Nida Tunes hat einen linken Flügel, zu dem zum Beispiel der Generalsekretäer der Partei, Taieb Baccouche, gehört, ein ehemaliger Gewerkschaftschef, aber auch einen «konservativen» Flügel von Gewicht, weil ihm reiche Politiker angehören, welche die Partei finanzieren. Dieser Flügel umfasst Personen, die unter Ben Ali prosperierten.
Zusammengehalten wird Nida Tunes allein durch die Leitfigur Essebsi, welcher sich als der charismatischste unter allen tunesischen Nachrevolutionspolitikern erweist. Dies stärkt die Position des 87Jährigen innerhalb seiner Partei, weil es ihn unentbehrlich macht. Dies bewirkt aber auch, dass Essebsi, gewollt oder ungewollt, in die Position eines Alleinentscheidenden katapultiert wird, besonders natürlich falls er, wie viele erwarten, als Präsident aus dem ersten oder dem zweiten Wahlgang hervorgehen wird.
An-Nahda in Wartestellung
Die Gegenseite verfolgt unter Rached Ghannouchi eine Politik auf längere Sicht. Sie hat in den Übergangsjahren, als sie die Verantwortung für die Regierung trug, gelernt, wie schwierig, ja wie schlechterdings unmöglich es ist, die dringenden Wünsche der Tunesier in der unmittelbaren Zukunft zu erfüllen. Sie fordern Arbeit und ein besseres Leben, heute lieber als morgen. Doch den Versuchen, die Wirtschaft nicht nur quantitativ zu verbessern, sondern sie auch für die ständig wachsenden Massen von Arbeitssuchern gerechter und fruchtbarer zu organisieren, stehen gewaltige Hindernisse entgegen.
Die Schwierigkeiten reichen von der inneren Krise der europäischen Staaten, die weitgehend mit sich selbst beschäftigt sind und Tunesien mehr mit Worten als mit Taten unterstützen, bis zu den immer wieder blutigen Unruhen, vor allem an den Grenzen zu Libyen und Algerien sowie in den verarmten Provinzen des Inneren Tunesiens. Die instabile Lage bewirkt, dass private Investoren sich zurückhalten.
Herkules im Augiasstall
Bisher sind weder das Wirtschaftssystem mit seinen Profiteuren des Ben-Ali-Regimes noch die weitgehend zu Gunsten Ben Alis wirkende Gerichtsbarkeit noch die wegen ihrer Foltern berüchtigte Polizei des Diktators ernsthaft reformiert worden.
Unter diesen Umständen scheint Ghannouchi beschlossen zu haben, die Herkulesarbeit im Augiasstall zunächst Essebsi zu überlassen. Er zählt wahrscheinlich auf die neue Verfassung, die verhüten soll, dass der Herkules, hat er einmal die Macht errungen, nicht erneut ein Machtmonopol nach dem Vorbild Ben Alis oder auch nur Bourguibas, des ersten Starken Mannes Tunesiens, errichten kann. Er rechnet vielleicht auch mit dem Alter des sich abzeichnenden Starken Mannes, das in der Tat leicht verhindern könnte, dass er über viele Jahre hinweg an der Macht bleiben würde.