Die „heisse Phase des Wahlkampfs“, behaupten dagegen die politischen Strategen in den Berliner Partei-Hauptquartieren, habe begonnen. Von dieser Hitze, da haben die nach Antworten suchenden Bürger recht, ist bislang freilich kaum etwas bis gar nichts zu spüren. Und es sieht auch nicht so aus, als ob das ein wenig Wahlkampf spielende Auftreten von Angela Merkel, Olaf Scholz, Armin Laschet, Annalena Baerbock und den anderen Politgranden bei der jüngsten – mutmasslich letzten – Sitzung des in Kürze „auslaufenden“ Bundestages an dieser Stimmung etwas Wesentliches geändert hätte.
Im Schatten der Pandemie und der Hochwasserfluten
Nun ist eines natürlich unbestreitbar. Mit dem Auftreten der Corona-Seuche und den seither permanent notwendigen Anstrengungen, die Auswirkungen dieser Pandemie sowohl auf die Volksgesundheit als auch die Wirtschaft und das Kulturleben wenigstens einigermassen in Grenzen zu halten, wurden praktisch alle „traditionellen“ Vorkehrungen, Strategien und Schauläufe über den Haufen geworfen, die ansonsten zu den diversen Urnengängen in den Ländern und im Bund gehören. Und zwar zum Anheizen der Wahllaune genauso wie natürlich auch zur Information der Menschen über die politischen Vorhaben der jeweiligen Parteien und Personen.
Damit nicht einmal genug. In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli verwüsteten die verheerenden Hochwasserfluten nicht nur praktisch das gesamte idyllische Ahrtal, sondern darüber hinaus noch weitere beträchtliche Regionen vor allem in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Wenn Tausenden von Menschen innerhalb kürzester Zeit nicht nur das gesamte Hab und Gut weggerissen wird, sondern des Weiteren auch jeglicher immaterielle Besitz wie Erinnerungsstücke – wenn so etwas geschieht, dann verbietet sich jegliche Art politischer Hahnenkämpfe natürlich von selbst. Dann ist einzig und allein Nothilfe angesagt. Und zwar in des Wortes ureigenster Bedeutung.
Aber trotz alledem wird am 26. September in Deutschland ein neuer Bundestag gewählt werden. Das heisst, die Bürger zwischen Flensburg und Konstanz sowie zwischen Rhein und Oder sind aufgerufen, mit ihren Stimmen darüber zu entscheiden, wer als Person und welche dahinterstehenden politischen Mehrheiten in den nächsten vier Jahren die Geschicke des Landes (und damit natürlich auch ihre eigenen) bestimmen sollen. Dazu weist diese Wahl auch noch ein besonderes Merkmal auf. Angela Merkel, die bisherige Bundeskanzlerin, hatte bereits im Vorfeld entschieden und auch verkündet, nach 16 Jahren Amtszeit nicht noch ein weiteres Mal anzutreten. Mithin kann zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte keine der Personen, die ihre Hüte in den Ring geworfen haben, einen – zumindest bundespolitischen – Amtsbonus vorweisen.
Die Zahlen spielen verrückt
Es ist wahrscheinlich nicht übertrieben, von einer Zeitenwende zu sprechen. Wer – nach über vier Jahrzehnten nationaler Spaltung und Zweistaatlichkeit – die deutsche Wiedervereinigung miterlebt hat, dem wird das damalige, historisch einmalige Ereignis noch immer so vor Augen stehen, als sei es heute geschehen. Es sind seither aber schon 31 Jahre vergangen, und für mehr als eine Generation bedeutet es bereits Geschichte. Kalter Krieg und Massendemos gegen Raketen-Aufstellung, Stacheldraht durch ein ganzes Land, Mauertote in Berlin und Opfer von Stasi-Allmacht – gab es das wirklich einmal? EU und vereintes Europa mit offenen Grenzen und gemeinsamen Werten als Garant für den Frieden in unseren Breiten? Klar, aber das ist doch selbstverständlich!
Was, warum und (vor allem) wen also soll das ratlose Wahlvolk am 26. September küren? Augenblicklich spielen ja die Zahlen geradezu verrückt, auf die freilich nicht nur in den Parteizentralen gebannt gestarrt wird, sondern zumindest genauso aufgeregt in den diversen medialen Redaktionen – gemeint sind die inzwischen schon täglich in den Äther gepusteten Ergebnisse der diversesten Meinungsumfragen. Allerdings, sage nur keiner, dass diese „Informationen“ ausschliesslich als neutrale Unterrichtung zur besseren Meinungsbildung der mündigen Bürger gedacht sind. Sozusagen ohne alle Hintergedanken in Richtung wahltaktischer Beeinflussung! Im Prinzip ist natürlich exakt das Gegenteil der Fall.
Die SPD-Linke hält sich zurück
Diese Zahlen jedenfalls spielen in diesen Tagen genauso verrückt wie die politischen Stimmungen der Bundesbürger. Und genau das ist ja auch gewollt. Noch im Juli, zum Beispiel, konnte sich der sozialdemokratische Spitzenkandidat, Bundesfinanzminister Olaf Scholz, zwar persönlich recht ordentlich auf einem Kissen öffentlicher Beliebtheit sonnen. Seine Partei, indessen, schien bei katastrophalen 16 Prozent Zustimmung einbetoniert zu bleiben. Doch innerhalb eines Monats ziehen mit einem Male beide – Kandidat und Partei – Raketen gleich an den bis dahin an der Spitze rangierenden Unionsparteien vorbei.
Das wäre natürlich für jedermann nachvollziehbar, wenn es die Folge bestimmter persönlicher Kraftanstrengungen oder prickelnder parteilicher Aussagen wäre. Die gibt es aber nicht. Im Gegenteil. Spitzenkandidat Scholz meidet, wenn irgend möglich, die politischen Arenen und sagt auch inhaltlich am liebsten nichts. Noch auffälliger ist diese Zurückhaltung gegenwärtig bei den Kräften (die Auguren sprechen gern vom „linken Flügel“), die zuvor stets für sich reklamierten, den künftigen Kurs der altehrwürdigen Ex-Volkspartei SPD zu bestimmen. Und dies sehr bald ganz sicher auch wieder tun werden.
Sägen am Stuhl des CDU-Kanzlerkandidaten
Hob sich also innerhalb kürzester Zeit die linke Waagschale deutlich an, so senkte sich – entsprechend – das rechte Gegenstück. Freilich ebenfalls nicht wegen der Schwergewichtigkeit der Konkurrenz. Vielmehr gruben die Konservativen ein schon früher bei ihnen sehr beliebtes Spiel aus. Das Spiel mit dem Titel „Selbstzerfleischung“. War schon der Wettkampf zwischen dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet und dessen bayerischen Kollegen (und CSU-Chef) Markus Söder im Mai um die Kanzlerkandidatur der beiden Unionsparteien alles andere als faires polit-sportliches Rennen, so übte man sich seitdem – unter tatkräftiger Beteiligung zahlreicher Granden vor allem der CDU – in der ja eigentlich selten Erfolg versprechenden „Kunst“, am Stuhl und Podest der eigenen Gallionsfigur zu sägen. Entsprechend mies fallen seit ein paar Wochen die Meinungsumfragen aus. Und so werden die Sägegeräusche halt immer lauter und die Prophezeiungen eines Wahlwunders zugunsten von CDU und CSU immer leiser.
Wenig Interesse für Aussenpolitik
Es juckt natürlich in den Fingern, sich mit jenem Phänomen dieser Bundestagswahl zu beschäftigen, das den Titel „Koalitionsbildung“ trägt. Denn schliesslich wird es (nimmt man das Bonner Nachkriegsparlament von 1949 bis 1953 aus) wohl erstmals in der deutschen Nachkriegsgeschichte mehrerer Parteien bedürfen, um die Mehrheit für Kanzler und Regierung auf die Beine zu stellen. Ja, es ist nicht einmal ausgeschlossen, dass am Ende sogar jene – mehrfach umgetaufte – Partei am linken Spektrum den Ausschlag geben könnte, deren Mutterorganisation namens SED immerhin verantwortlich war für vierzig Jahre Diktatur, Misswirtschaft und Stasi-Terror. Seltsame Welt. Und: Zeitenwende wohin?
Das führt automatisch zu der Frage: Was ist eigentlich bedeutsam für die Mehrheit im Lande? Was soeben in Afghanistan geschah (und noch immer geschieht), ist, fraglos, eine menschliche Tragödie und politische Katastrophe, deren Ausmass noch gar nicht zu übersehen ist. Welche Attraktivität auf andere Länder werden in Zukunft möglicherweise derartige Systeme ausüben, die auf Gewalt setzen, religiös extrem ausgerichtet, autoritär bestimmt, aber von äusserster eigener Überzeugung geleitet sind?
Wie anziehend wirkt China, das – jegliche Opposition gnadenlos unterdrückend – ganz offen das Ziel anstrebt, bis 2030 sowohl militärisch wie wirtschaftlich zur Nummer eins in der Welt zu werden? Und das, auf dem Weg über die Neue Seidenstrasse, auch bereits auf dem besten Weg dazu ist. Werden solche Systeme in den kommenden Jahren – weil effektiv und erfolgreich – zu Beispielen werden? Scheinbar blind begibt sich der Westen immer tiefer in die ökonomische (und damit natürlich auch) politische Abhängigkeit Pekings.
In den Wahlprogrammen unserer Parteien und im Wahlkampf selbst aber spielt die Aussenpolitik so gut wie keine Rolle. Stattdessen tobt ein schierer Kulturkampf um die Frage, ob unsere Sprache sich dem „Gendern“ zu öffnen habe oder nicht. Also ob männlichen Berufsgruppen mit Hilfe von Doppelpunkten, Schräg-, Unter- oder Überstrichen unbedingt immer ein weibliches „in“ angefügt werden müsse, um Frauen und „Diverse“ aus der sprachlichen Diskriminierung zu holen. Natürlich sind Massnahmen zur Rettung des Erdklimas überlebensnotwendig, und selbstverständlich gilt das auch für die Erhaltung unseres Wohlstandes und des sozialen Standards.
Anders als Strauss, Brandt, Schmidt und Kohl
Aber unsere Welt endet nicht an den deutschen Grenzen. Im Gegenteil: Die bequemen Zeiten sind vorbei, in denen sich die Bundesrepublik und die Deutschen als „politischer Zwerg“ im Schatten hauptsächlich der Schutzmacht USA zum wirtschaftlichen Riesen mausern und Geld verdienen konnten, ohne Verantwortung übernehmen zu müssen, was auch immer anderswo auf der Erde geschah. Man muss über keine seherischen Fähigkeiten verfügen, um vorherzusagen, dass der Ruf nach deutscher Verantwortung aus vielen Richtungen immer lauter werden wird. Der Flüchtlingszustrom 2015 und die verunglückte Afghanistan-Mission sind nicht das Ende gewesen.
Aber im Vorfeld der Bundestagswahl ist von so etwas so gut wie nichts zu hören. Logisch, das liegt auch – und nicht zuletzt – an den Personen. Wer ihn kennt, weiss, dass Armin Laschet alles andere ist als ein fröhlicher Provinzler. Wer das grösste Bundesland gewonnen hat und es – mit nur einer Stimme Mehrheit – ziemlich sauber regiert, hat mehr drauf als nur Aachener Karneval. Und das gilt auch für die Qualitäten von Olaf Scholz. Diese reichen weit über die ihm gern angedichtete Langweiligkeit hinaus. Aber aussenpolitische Visionen hinsichtlich Deutschlands Rolle auf dem sich rapide verändernden Globus – Fehlanzeige hier wie dort.
Mitunter denkt man mit Wehmut an Charaktere wie Franz-Josef Strauss, Willy Brandt, Helmut Schmidt oder auch Helmut Kohl. Sie wirken, im Vergleich, beinahe wie Polit-Giganten. Anders ausgedrückt – wie viele Menschen wird es wohl geben, die am 26. September vielleicht erst in der Wahlkabine ihre Kreuzchen nicht aus fester Überzeugung für einen Kandidaten abgeben, sondern sich (quasi erst in letzter Sekunde) nur für das aus ihrer Sicht kleinere Übel entscheiden?