Wer hat gewonnen? Beide Seiten versuchen ihrer Bevölkerung klarzumachen, dass sie es sind. Die Vereinbarungen, die in Kairo getroffen wurden, um zu dem Waffenstilstand zu gelangen, sind so formuliert, dass beide Seiten dies behaupten können. Hamas erhielt das scheinbare Zugeständnis, die Abschnürung Gazas solle «gelockert» werden. Das Zugeständnis ist scheinbar, weil nicht gesagt ist, wie weit es gehen soll: ein ganz kleines bisschen, ein klein bisschen, ein bisschen? Theoretisch könnte es sogar noch mehr sein.
Doch die versprochene Lockerung hat genügt, um in Gaza bescheidene Freudenkundgebungen auszulösen, und sie hat Hamas erlaubt, grossspurig von einem Sieg zu sprechen. «Wir stehen hier, um den Sieg des Widerstandes zu erklären,» gab Hamas bekannt. «Es ist der Sieg von Gaza mit der Hilfe Gottes und der Durchhaltekraft unseres Volkes sowie des edlen Widerstandes.»
Umgekehrt wollen auch die Israeli gesiegt haben. Sie haben erklärt, sie hätten Hamas entscheidend geschädigt. Sie sprechen von angeblich tausend toten Terroristen und von 5’200 «Terrorstrukturen», die sie aufs Ziel genommen hätten. Was sie nicht erwähnen, sind die ursprünglich niedergelegten Kriegsziele ihrer Aktion. Anfangs hatten sie erklärt, der Krieg werde fortdauern, bis keine Raketen mehr auf Israel abgeschossen würden. Raketen fielen jedoch auf Israel bis zum letzten Moment vor dem «langfristigen Waffenstillstand». Die kämpferische Infrastruktur von Hamas ist wahrscheinlich schwer geschädigt, doch sie ist offenbar aktionsfähig geblieben.
Verhandlungen über Waffen und Abschnürung
Eine Abkühlungsfrist von einem Monat ist nun vorgesehen. Erst danach sollen in Kairo die Verhandlungen über die hauptsächlichen Anliegen beider Seiten beginnen. Hamas strebt eine Aufhebung der Abschnürung Gazas durch Israel und durch Ägypten an. Israel will eine Entwaffnung von Gaza mit Kontrollen, sodass dort keine Aufrüstung mehr folgen kann. Beide Seiten haben bereits erklärt, dass die Forderungen der Gegenseite für sie unannehmbar seien. Theoretisch wären Kompromisse denkbar, die beiden Seiten erlauben würden, ihre Anliegen zu verwirklichen: Verzicht auf Bewaffnung gegen Öffnung der Grenzen. Details wären auszuhandeln.
Das wäre ein Schritt voran. Doch ein endgültiger Frieden würde erst möglich, wenn es zu einem Friedensvertrag zwischen allen Palästinensern und den Israeli käme. Einem solchen steht die Politik Israels entgegen, die eine Kontrolle über die Westjordangebiete anstrebt mit der Option, diese Gebiete grösstenteils oder völlig Israel einzuverleiben.
Hamas wurde zum Verhandlungspartner
Eine der Folgen des jüngsten Krieges ist, dass Israel nun mit Hamas verhandelt, zwar nicht offiziell und bloss indirekt über zwischengeschaltete Vermittler, doch Tatsache ist, sie kommunizieren. Die anderen Folgen des Krieges sind unschön. Er führte zum Tod von über 2’200 Personen, zur Verwundung von vielen Tausenden mehr. Er hat auch die Infrastruktur von Gaza so gründlich zerstört, dass die ohnehin unsichere Wasserversorgung und Entsorgung der anderthalb Millionen Bewohner des Gaza-Freiluft-Gefängnisses (oder soll man es «Ghetto» nennen?) noch zusätzlich gefährdet ist.
Ob die Wasserversorgung wiederhergestellt werden kann, bevor Seuchen ausbrechen, ist unsicher. Wenn es zu Seuchen kommt, ist mit einer Kindersterblichkeit zu rechnen, die droht, die bisherigen 2’200 Opfer an Menschenleben in den Schatten zu stellen. Der Umstand, dass die israelischen Bomben auch das Elektrizitätswerk von Gaza unrettbar zerstörten und dadurch die Pumpen stillgelegt wurden, die für das Wasserwesen der Küstenenklave unentbehrlich sind, erschwert die Notlage.
Die Rolle des Auslands
Ob in die geplanten Friedensverhandlungen über Gaza ein Kompromissresultat erreichen werden oder nicht, hängt wesentlich davon ab, ob Israel weiterhin bedingungslose Unterstützung von Amerika und aus Europa erhält. Wenn ja, besteht kein Zwang für die israelische Regierung, auf Kompromisse betreffend Gaza einzugehen. Dann ist nicht zu erwarten, dass sie dies aus eigener Einsicht tun wird. In diesem Fall ist es wahrscheinlich, dass die geplanten Verhandlungen resultatlos verlaufen werden.
Der gegenwärtige Status quo wird bestehen bleiben. Das heisst prekäre Waffenruhe für einige Zeit, dann wieder «Rasenmähen» von Seiten Israels, wahrscheinlich jedesmal mit mehr Zerstörungen und mehr Toten, weil die Verzweiflung im Gazastreifen und die entsprechende Stimmung für einen Verzweiflungskampf unter diesen Umständen nur wachsen können.
Das «Rasenmähen» hat allerdings seinen Preis, wie schon diesmal feststellbar war. Ganz wirkungslos auf die politische Umwelt bleiben die Bilder der Zerstörungen und die Berichte über Verwundete und Tote nicht. Wie viele Male sie sich noch wiederholen müssen, bis die politische Umwelt sich entschliesst, Druck auszuüben, um eine Kompromisslösung zu erzwingen, bleibt abzuwarten.