Im Jubiläumsjahr 2015 feiert die Schweiz ihre Helden. Anlässe dazu sind die Schicksalsdaten Morgarten (1315), Marignano (1515) und Wiener Kongress (1815). Instrumentalisiert werden Mythen und historische Figuren seit jeher, dieses Jahr in besonders aufdringlicher Manier. In der Auseinandersetzung zwischen Historikern und Politikern um historische Wahrheiten geht es oft um persönlich geprägte Weltbilder. Zur Bewältigung der zukünftigen Herausforderungen in unserem Land nützt dies herzlich wenig.
Gegen unhistorischen Gebrauch der Geschichte
Zweifellos wird die Seite der Historiker von Thomas Maissen, dem verdienstvollen Professor für neuere Geschichte angeführt. Seit Monaten kämpft er medial omnipräsent für seine Interpretations helvetischer Mythen. Dabei anerkennt auch er, dass historische Forschung für ihre Resultate keine ewige Gültigkeit beansprucht.
Maissen kritisiert zurechtgebogene, volkstümliche Geschichtserzählungen und bezeichnet die Instrumentalisierung von Mythen als unhistorisch. In seinem Buch „Schweizer Heldengeschichten – und was dahintersteckt“, erfahren interessierte Leserinnen und Leser mehr darüber. Seine Kritik zielt auf Politik und Medien. Ziemlich deutlich stehen die Nationalkonservativen und somit Christoph Blocher im Visier, denen er Themenführerschaft bei der Mytheninszenierung zuschreibt. Doch „intellektuelle Hilflosigkeit“ ortet er auch beim Schweizer Fernsehen, das seine Geschichtsserie „Die Schweizer“ ausgerechnet mit Werner Stauffacher begann, von dem im frühen 14. Jahrhundert nichts überliefert ist.
Auch bekannte Historiker wie Andreas Kley und Jakob Tanner kämpfen für ihr Geschichtsbild. So sind sie klar der Meinung, Marignano eigne sich nicht für politisch gefärbte Erzählungen vom angeblichen Beginn der schweizerischen Neutralität, da es die moderne Neutralität erst seit 1815 gebe. Tatsächlich hat die Schweiz ja während Jahrhunderten Söldner für fremde Kriegsdienste gestellt. „Wer eine Verbindung [zu Marignano] herstelle, unterliege der Rückwärtsprojektion eines Nationalgedankens“ (NZZ am Sonntag).
Politische Instrumentalisierung
Nach wochenlangem Vorgeplänkel traten im April 2015 Maissen und Blocher im Hotel Bellevue in Bern in den Ring. „Blick“ war der Veranstalter, was darauf hindeutet, dass nicht nur Historiker und Politiker, sondern offensichtlich auch die Medien vom ausgedehnten Fernduell profitieren.
Blochers Einstellung zu Mythen ist bekannt: Dass sich eine Geschichte gar nie ereignet hat, heisst nicht, dass man aus ihr keine Lehren ziehen kann. Wenn es einen mythischen Helden gar nie gab, ist dies Nebensache. Blochers „Lehren“ sind natürlich zugespitzt auf ein SVP-Programm, das schliesslich erfolgreich ausgeschlachtet werden will, um im Herbst 2015 bei den Wahlen zu punkten.
Im Züricher Kongresshaus ging – ebenfalls diesen Frühling – auf Einladung der SVP eine politische Veranstaltung über die Bühne, an der neben Blocher auch seine Getreuen Christoph Mörgeli und Roger Köppel Geschichtsbilder deuteten. Alle drei sind hervorragende Geschichtenerzähler. Auch diesmal ging es um die vermeintlich direkte Verbindung der schweizerischen Neutralität im Jahr 2015 mit der Schlacht von Marignano und dem Wiener Kongress. Mörgeli deutete diesbezüglich Niklaus von Flüe‘s „Wenn ihr in euren Grenzen bleibt, so kann euch niemand überwinden“ (15. Jahrhundert), als aussenpolitische Maxime für unser Land im 21. Jahrhundert: Nichteinmischung in fremde Händel – gemeint ist die Neutralitätsrolle der Schweiz.
Mythen als Propaganda
Längst wissen wir, dass der Rütliwschwur Dichtung, der Bundesbrief dagegen Tatsache ist. Ebenso steht zweifelsfrei fest, dass Wilhelm Tell eine Sagenfigur ist, im Mittelalter aus Dänemark importiert, ehe sie durch Friedrich Schiller weltberühmt wurde. Auch über die Schlacht bei Morgarten gibt es nur sehr lückenhafte Hinweise in historischen Quellen; erst im Lauf der Jahrhunderte mutierte die Story zum beliebten Bezugspunkt wechselnder politischer Inhalte.
Jede Nation hat ihre Mythen. Unzweifelhaft sind sie wichtiger Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses. Nicht, ob sie wahr sind oder nicht, interessiert uns. Dass wir Wilhelm Tell und Winkelried seit der Primarschule „kennen“, was lässt sich daraus schliessen? Wir haben die historischen Befreiungsvorgänge in Form von Legenden personifiziert. Damit entziehen sie sich jedem Streit um Fakten. Heroische Geschichten funktionieren heute noch als Fundament des Sonderfalls Schweiz.
Wenn also die SVP mit überholten Geschichtsbildern politische Propaganda betreibt und ihre eigene Leseart der Geschichte verteidigt, stellt sich die Frage, ob die anvisierten Menschen diese simpel gestrickten Narrative durchschauen und als das klassieren, was sie sind: zwar legitime, aber oft hemdsärmlige und immer lärmige Parteiarbeit an der Basis. Dahinter steckt sich ein clever kaschierter Machtanspruch. Ob diese Taktik auch in Zukunft aufgehen wird? Die Wahlen im Herbst werden die Richtung weisen, rückwärts oder vorwärts.
Zusammenhalten und nach vorn schauen
Wenn wir am Abend des 1. Augusts zusammensitzen, feiern wir unser Land und sein Bestehen über die Jahrhunderte. Wenn wir darauf anstossen, dürfen wir auf jene Menschen stolz sein, die dazu beigetragen haben, dass dies eine eigentliche Erfolgsgeschichte ist.
„Die Entschlossenheit, zusammenzuhalten“ hat uns in der Vergangenheit stark geprägt. Dem werden wohl viele zustimmen. Schon die alten Eidgenossen haben mit der Devise „ein einig Volk von Brüdern“ (heute natürlich: ein einig Volk von Brüdern und Schwestern!) klug und pragmatisch gehandelt. Wer heute unermüdlich Keile zwischen Bevölkerungsteile und politische Institutionen treibt, straft den eigenen Bezug zum Prinzip des nationalen Zusammenhalts Lügen.
Fokussieren wir unsere Orientierung also darauf, wo neue, erfolgsversprechende Modelle im Entstehen begriffen sind. Richten wir unseren Blick nach vorn, auf die Bewältigung der Zukunft! In der rückwärtsgerichteten Mythisierung unserer Vergangenheit liegt sie nämlich nicht.