Präsident Recep Tayyep Erdogan hat den Putschversuch vom vergangenen Freitag als einen "Virus" bezeichnet, den es nun auszurotten gelte. Er sprach den Tränen nah am Grab eines seiner engsten Vertrauten, Erol Olcak, und dessen 18-jährigen Sohns. Beide waren in den Wirren des Putsches umgekommen. Olcak war der Wahlmanager des Präsidenten gewesen. Der Virus, so Erdogan, habe sich leider wie ein Krebsgeschwür ausgedehnt und den ganzen Staat umfasst. "Wir werden weiter die staatlichen Institutionen von ihm säubern," versicherte der Präsident.
Verhaftete und Entlassene
Zahlen gab der Ministerpräsident Binali Yildirim. 6000 Personen seien bereits festgenommen, weitere Festnahmen würden folgen. Etwa 3000 der Inhaftierten sind Soldaten. Die andere Hälfte Polizisten und Staatsbeamte. Unter diesen auch hohe Richter. Die beinahe 2000 Richter, die zwar entlassen, aber nicht festgenommen wurden, nicht mitgezählt. Unter den Soldaten befinden sich Generäle wie die Kommandanten der 2. und der 3. Armee, Adem Huduti und Erdal Ozturk. Der frühere Generalstabschef der Luftwaffe, Alparslan Ozturk, gilt als einer der Haupturheber des Putsches. Ozturk war nicht mehr Stabschef, jedoch gehörte er noch zum „Höchsten Militärischen Rat“ (türkisch abgekürzt YAS), aus dem er im kommenden August turnusgemäss ausgeschieden wäre.
Verwirrung um die Luftwaffe
In der Provinz Denizli wurden 50 hohe Militärs und der Kommandant der dortigen Garnison festgenommen. Der Ferienort Marmaris, wo sich Erdogan in den Ferien befand, als der Putsch ausgelöst wurde, liegt unmittelbar südlich von Denizli. Die türkische Zeitung Hürriet will wissen, dass drei Helikopter bei dem Hotel gelandet seien, in dem Erdogan wohnte, um ihn gefangen zu nehmen. Doch Erdogan sei von einem Vertrauten aus Istanbul alarmiert worden. Dieser habe ihm nahe gelegt, sofort nach Istanbul zu kommen, dort könne seine Sicherheit garantiert werden. Deshalb sei Erdogan nicht mehr aufzufinden gewesen, als die Helikopter mit dreissig Mann an Bord landeten. Sie seien eine halbe Stunde zu spät gekommen.
Reuter meldet unter Berufung auf Offiziere, zwei Kampfflugzeuge hätten auf das Flugzeug des Regierungschefs gezielt, in dem sich Erdogan auf der Reise nach Istanbul befand. Warum sie nicht schossen, sei ein Rätsel, sollen diese Militärs versichert haben.
Ein Teil der türkischen Luftwaffe, deren Jets und Helikopter auf der Basis von Akinci stationiert waren, wirkte bei dem Putsch mit. Sie bombardierten das türkische Parlament in Ankara und den Sitz der Geheimpolizei. Andere Kampfflugzeuge aus der Basis von Eskishehir wurden eingesetzt, um die Putschisten-Basis von Akinci zu bombardieren. Dies habe dazu geführt, dass die Putschistenflugzeuge nicht nach Akinci zurückkehrten, sondern die ganze Nacht hindurch über Ankara und Istanbul in der Luft blieben. Tankflugzeuge aus der Basis von Incirlik hätten sie in der Luft versorgt. Der Kommandant von Akinci wurde dann festgenommen. Ein Presseoffizier der Luftwaffe berichtete, die Bevölkerung rund um die Basis von Akinci habe bemerkt, dass viele Jets von dort starteten, und als sie dann über die Medien erfuhren, dass das Parlament bombardiert worden sei, seien die Bauern vor die Basis gezogen, um den Zugang zu ihr zu blockieren. Sie hätten auch Heu verbrannt, um die Luft zu vernebeln und so den Start der Flugzeuge zu behindern. - Vielleicht ist das wahr, vielleicht aber nur eine erbauliche Fabel.
Entlassungen im Innenministerium
Neben den Festnahmen, die noch weiter gehen werden, wie der Innenminster versicherte und auch Erdogan selbst unterstrich, gab es auch eine grosse Zahl von Entlassungen und Suspendierungen von Beamten des Innenministeriums. Die gegenwärtige noch nicht endgültige Zahl soll 8´777 Personen umfassen. Der Justizminister gab seinerseits bekannt, dass 2´745 Richter und Staatsanwälte "entlassen" worden seien, dazu kommen 48 Mitglieder des Staatsrates und 140 Mitglieder des Höchsten Appellationsgerichtes. Zwei Mitglieder des Verfassungsgerichtes wurden festgenommen, nachdem das Gericht selbst für ihren Ausschluss gestimmt hatte: Alparsaln Altan und Erdal Tercan.
Feldzug gegen die Gülen Anhänger
All diese Beamten und Richter werden verdächtigt, zur Organisation "Hizmet" (Dienst) zu gehören, die den Weisungen des Predigers und Neo-Sufis Fethullah Gülen folgt, oder mit dieser Organisation zu sympathisieren. Gülen lebt seit 17 Jahren in Pennsylvania. Seinen angeblichen Gefolgsleuten wird von Erdogan und den Seinen die Urheberschaft des Coups vorgeworfen. Beweise dafür, die öffentlich bekannt geworden wären, gibt es bisher nicht. Doch eine Jagd auf die angeblichen Anhänger Gülens findet bereits seit 2014 statt. Sie wurde nach dem Bruch zwischen Gülen und Erdogan, die zuvor politisch zuammengearbeitet hatten, ausgelöst.
Das Bündnis zwischen den beiden zerbrach Ende 2013, als die damaligen Polizeibehörden versuchten, vermutete Korruption in den Kreisen der Staatspartei und nahe bei Erdogan selbst aufzudecken, und ihre Verdachtsgründe publik werden liessen. Erdogan sah darin einen Versuch des "Terrornetzes" um Gülen, den türkischen Staat zu schädigen. Im Verlauf der Massnahmen gegen Gülen und seine Gefolgsleute hatte der Staat bereits vor dem Putsch unter Führung der Mehrheitspartei Erdogans Medienorganisationen übernommen oder unter seine Aufsicht gestellt, denen Nähe zu Gülen nachgesagt wurde. Dazu kamen Banken und Wirtschaftskonglomerate. Zusätzlich wurde bereits eine erste „Säuberung“ der Polizeibehörden und Richter durchgeführt. Nach dem Putsch gedenkt er nun offensichtlich noch viel rigoroser gegen Gülen und die seinen vorzugehen.
Zugehörigkeit ungewiss
Wer genau die Gülen-Sympathisanten sind, ist schwer auszumachen. Gülen selbst hat in Pennsylvania erklärt, er wisse nicht, wer seine Anhänger in der Türkei seien. Offizielle Mitgliederlisten von "Hizmet" gibt es nicht. Die grossen Zahlen der Personen, die sofort nach dem Putschversuch festgenommen oder aus ihren Positionen entlassen wurden, machen klar, dass es Listen von Verdächtigen gegeben haben muss, die bereits vor dem Coup vorlagen. Man kann vermuten, dass es die türkischen Geheimdienste waren, die diese Listen im Lauf der beiden letzten Jahre zusammenstellten.
Ist Gülen die einzige Ursache?
Davon, dass möglicherweise auch noch andere Beweggründe für den Putschversuch der Streitkräfte existierten, spricht niemand öffentlich in der Türkei. Dort wird alle Schuld auf Gülen geschoben. Im Ausland wurden Spekulationen veröffentlicht, nach denen möglicherweise auch andere Motive als die angebliche Agitation Gülens und seiner Anhänger für das Aufbegehren eines Teils der türkischen Armee verantwortlich sein könnten. Dabei ist von der angespannten Lage in der Osttürkei mit dem Kurdenkrieg und den Millionen von Flüchtlingen aus Syrien die Rede, sowie auch von den Bombenanschlägen, die das Land in den letzten Monaten erschüttert haben. Im Ausland wird auch als ein weiterer möglicher Beweggrund der Putschisten die zunehmende Selbstherrlichkeit Erdogans angeführt.
Gülen, der "Terrorist"
Die Forderung nach der Auslieferung Gülens, die Erdogan selbst und zahlreiche seiner Minister und Anhänger vorbrachten, wird hochgespielt. Die Amerikaner schliessen diese nicht aus. Sie erklären sogar, sie seien bereit, der Türkei Rechtshilfe bei der Aufklärung des Putsches zu gewähren. Doch sie fordern Beweise möglicher Schuld, bevor sie der Auslieferung zustimmen. Am Montag scheinen die amerikanischen Behörden Demonstrationen vor ihrem Generalkonsulat in Istanbul gefürchtet zu haben. Sie gaben Weisungen an die amerikanischen Bürger aus, die Region des Generalkonsulates zu meiden.
Neben Gülen ist auch die Todesstrafe in der Türkei zum Gegenstand von Debatten geworden. Erdogan selbst hat sie erwähnt und erklärt, das Parlament müsse darüber beraten. Wenn das Volk sie begehre und keine verfassungsmässigen Hindernisse vorlägen, könne sie wiedereingeführt werden. Erdogan fügte hinzu: "Wir können dies nicht länger hinauszögern, weil in diesem Land jene, die den Coup ausgelöst haben, den Preis dafür zu bezahlen haben". Die Todesstrafe wurde in der Türkei 2004 offiziell abgeschafft. Dies geschah im Zuge der Anpassung der türkischen Gesetzgebung an jene der EU. Die letzte Hinrichtung in der Türkei hatte 1984 stattgefunden.