Beim Treffen Selenskyjs mit dem Papst wird deutlich, dass der Vatikan nicht von seiner Diplomatie der Äquidistanz zwischen den Kriegsparteien ablässt. Selenskyj jedoch hält dagegen: «Mit Putin kann man nicht verhandeln.»
Ludwig Hohl versah sein «Notizen»-Werk mit dem Untertitel «Von der unvoreiligen Versöhnung». Das Wort «unvoreilig» ist in den einschlägigen deutschen Wörterbüchern nicht zu finden. Es ist eine Kreation Hohls. Man versteht gleich, was er damit meint: eine Formel der Abwehr gegen das Verwischen von Widersprüchen, das Übertünchen von Gegensätzen und die übereilte Vermittlung zwischen Unvereinbarem.
Nach dem Besuch Wolodimir Selenskyjs bei Papst Franziskus am vergangenen Samstag versuchte der ukrainische Präsident gar nicht erst, die tiefgreifenden Differenzen zwischen ihm und dem Papst zu bemänteln. Anschliessend an das Treffen sagte er im italienischen Fernsehen: «Es war für mich eine Ehre, Seine Heiligkeit zu treffen, aber er kennt meine Position. Der Krieg ist in der Ukraine und der Friedensplan muss ukrainisch sein.» Und weiter: «Bei allem Respekt für Seine Heiligkeit, wir brauchen keine Vermittler. Wir brauchen einen gerechten Frieden. Wir laden den Papst ebenso wie alle anderen Führer ein, für einen gerechten Frieden einzutreten, aber vorher müssen wir alles Übrige erledigen.»
Damit liegen die Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden klar zutage: Der Papst drängt auf unverzügliche Verhandlungen ohne Vorbedingungen, während Selenskyj darauf beharrt, dass sämtliche russischen Kriegshandlungen eingestellt und die besetzten Gebiete geräumt werden müssen, bevor es zu Verhandlungen kommen kann.
Selenskyj hatte den Papst erfolglos gebeten, den russischen Überfall auf die Ukraine endlich unmissverständlich zu verurteilen. Franziskus und die vatikanische Diplomatie üben sich bisher in der Kunst, den Krieg ganz allgemein zu beklagen und dabei eine Äquidistanz zu den Kriegsparteien zu wahren. Man will sich so in eine Vermittlerposition bringen, um zu einer Verhandlungslösung beitragen zu können. Selenskyj hierzu: «Wir brauchen keine Vermittler zwischen der Ukraine und dem Aggressor, der unsere Gebiete besetzt hat, sondern einen Aktionsplan für einen gerechten Frieden in der Ukraine.» Und unverhohlen an die Adresse des Papstes ergänzte er: «Opfer und Aggressor können nicht gleichgesetzt werden.»
Bei dem samstäglichen Treffen gab es immerhin einen Punkt, bei dem Selenskyj den diplomatischen Einsatz des Papstes positiv wertet. Es geht um die aus besetzten Gebieten nach Russland verschleppten ukrainischen Kinder. Der Vatikan will sich zusammen mit der Uno und weiteren Organisationen für deren Rückführung einsetzen – ein Vorhaben, das vielleicht nicht völlig aussichtslos ist. Was aber das Hauptthema, die Beendigung des Krieges, betrifft, gab der ukrainische Präsident sich illusionslos: «Mit Putin kann man nicht verhandeln, kein Staat der Welt kann das machen.»
Auf der einen Seite also die Sicht der Angegriffenen. Sie erleben seit 450 Tagen einen äusserst brutalen Krieg, der primär auf die Zivilbevölkerung und zivile Einrichtungen zielt und auf die langfristige Schädigung des Landes aus ist. Und auf der anderen Seite die Sicht der Wohlmeinenden. Sie halten gegen alle Evidenz fest an der Hoffnung, den Aggressor mit Gesprächen zum Einlenken bewegen zu können, und sie versuchen sich deshalb mit Balanceakten in einer Mittlerposition zu halten, die solche Gespräche ermöglichen soll.
Diese Position des Wohlmeinens ist nichts anderes als der voreilige Versuch des Versöhnens. Er ist zum Scheitern verurteilt, weil ihm auf beiden Seiten des Konflikts die Ansprechpartner fehlen. Zudem droht er die Entschlossenheit auf Seiten der westlichen Unterstützer der Ukraine zu untergraben. Selenskyj hat recht, wenn er überall, auch im Vatikan, zur unzweideutigen Parteinahme und aktiven Unterstützung für die angegriffene Ukraine auffordert.