Manche Ideen oder Postulate, auch wenn sie im Kern richtig oder zumindest plausibel sind, werden zu früh lanciert und können sich deshalb nicht spontan durchsetzen. Man muss warten, bis die Zeit reif für sie wird. So geschehen im politischen Bereich etwa mit der Durchsetzung des Frauenstimmrechts, der Einführung der AHV oder der deutschen Wiedervereinigung. Im Bereich der Mode zum Beispiel mit dem (weitgehenden) Verschwinden der Krawatte oder von gepuderten Perücken in besseren Kreisen.
Sprachgewohnheiten sind immer im Fluss
Der hohe Kadermann der Credit Suisse, der vor kurzem mit der Glanzidee aufwartete, alle Bankkunden künftig umstandslos (aber auf Gegenseitigkeit) zu duzen, hat sich verschätzt. Die Zeit war nicht reif für seinen Geistesblitz. Er ist vom CS-CEO zurückgepfiffen worden. Ob er nun mit abgesägten Hosen dasteht, wie ein Kommentator schreibt, bleibt Ansichtssache.
Aber der Kadermann kann sich, falls er auch eine philosophische Ader hat, damit trösten, dass die Zeit der Reife für seine Duz-Idee vielleicht gar nicht so weit entfernt ist. Die Sprache und die damit verbundenen Sprachmuster sind ständig im Fluss – und der fliesst heute schneller denn je. Es ist noch nicht so unendlich lange her, da wurde zumindest draussen in der Provinz der Poststellenleiter auch ausserhalb seines unmittelbaren Einsatzbereiches mit «Herr Posthalter» angesprochen und der Lehrer auf der Strasse mit «Herr Lehrer» gegrüsst.
Auch die Ihr- oder Er-Form für die Anrede von Mitmenschen mit eher untergeordnetem Gesellschaftsrang («Könnt Ihr mir sagen, wo’s hier zum Bahnhof geht», «Soll Er mir die Pferde anspannen») ist inzwischen zumindest im Hochdeutschen praktisch verschwunden. Im Berndeutschen etwa aber ist die Ihr-Ansprache noch durchaus geläufig.
Im Englischen geht’s auch ohne Sie
Bedenkt man, wie viel schneller und häufiger sich Zeitgenossen auch aus unterschiedlichen altersmässigen und sozialen Sphären heute duzen, dann dürfte das kein sehr langer Weg mehr sein bis zum dem schönen neuen Zeitalter, in dem sich alle Menschen umstandslos duzen werden. Man kann das, wie vor kurzem ein Kommentator in der «NZZ am Sonntag», mit bedenkenswerten Gründen als sprachlichen Differenzierungsverlust und als «Ankumpeln» beklagen. Aber man kann dem auch entgegenhalten, dass das Englische schon länger ohne klare Unterscheidung zwischen Duzen und Siezen lebt – und zwar so gut, dass es zur unbestrittenen Weltsprache Nummer eins aufsteigen konnte.
Wem der Sinkflug der Sie-Anrede und die Ausbreitung des Duzens zu stürmisch und unangemessen vor sich geht, dem bietet sich übrigens – angeregt wohl von amerikanischen Gebräuchen – im Deutschen eine elegante Zwischenform an: Man spricht den Gesprächspartner mit dem Vornahmen an, bleibt aber bei der Fortsetzung der Konversation (oder der Korrespondenz) immer noch beim respektvollen Sie.