Die Lage an der syrisch-türkischen Grenze spitzt sich zu, weil die Türkei beschlossen hat, energischer als bisher in Syrien einzugreifen. Der Bombenanschlag auf eine Hochzeitsfeier in Gaziantep unweit der Grenze, der dem IS zugeschrieben wird und bei dem vor allem Kinder und Frauen ihr Leben verloren, dient zur Begründung. Doch war diese Massnahme in Wirklichkeit bereits vorher beschlossen. Ministerpräsident Benali Yildirim hatte sie schon vor dem Bombenschlag von Gaziantep angekündigt. Der wirkliche Grund des türkischen Schrittes ist durch die Einnahme der Stadt Membidsch gegeben.
Gegen das Vordringen der kurdischen Kämpfer
Diese Stadt auf der Westseite des Euphrats war ein Knotenpunkt des Nachschubs an Material und Kämpfern, die den IS von der Türkei aus erreichten. Die sogenannten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) haben sie nach 90 Tagen der Kämpfe mit amerikanischer Hilfe aus der Luft dem IS am 14. August entrissen.
Doch die Türkei hatte immer gewarnt, wenn die kurdischen Kräfte der YPG (syrisch-kurdische „Volksverteidigungskräfte“) auf ihrem Vorstoss der Grenze entlang vom Osten nach Westen den Euphrat überschritten, würde die Türkei eingreifen. allerdings sind die SDF nicht rein kurdische Kämpfer. Syrische Araber kämpfen auch in ihren Rängen. Doch es ist klar, dass die SDF von den syrisch-kurdischen Milizen der YPG aufgestellt wurden.
„Rodschawa“ als Ziel der Kurden
Die YPG dürfte dabei auch die strategischen Ziele festlegen. Das strategische Ziel der syrischen Kurden besteht darin, an der ganzen türkischen Grenze entlang einen eigenen Staat oder Teilstaat (in einem künftigen Syrien) zu errichten, für den es bereits einen Namen gibt: „Rodschawa“. Die syrischen Kurden und deren Miliz, die YPG, beherrschen bereits die meisten Gebiete entlang der Grenze. Doch es gibt noch eine 90 Kilometer breite Lücke zwischen dem Westufer des Euphrat und der kurdischen Enklave, auch an der Grenze, die westlich der Lücke liegt und Afrin genannt wird.
Wenn die syrischen Kurden der YPG die Lücke schlössen, würde „Rodschawa“ sich der ganzen langen Nordgrenze Syriens entlang erstrecken und die Türkei weitgehend vom arabischen Syrien isolieren. Sie hätte dann bewaffnete Kurden nicht nur, wie heute, jenseits der gebirgigen irakischen Grenze an ihrer Südostecke, wo die PKK ihre Rückzugsgebiete aufweist, sondern auch der ganzen flachen und langgestreckten Südgrenze entlang, welche die Türkei von Syrien trennt.
Die Sorgen der Türkei
Wobei daran erinnert werden muss, dass auf der türkischen Seite beider Grenzabschnitte ebenfalls Kurden siedeln, die türkischen Kurden, die etwa 15 Prozent aller türkischen Bürger ausmachen. Ihre Miliz, die PKK, ist erneut – nach gescheiterten Friedensgesprächen der Jahre 2014 und 15 – „Erbfeind“ Ankaras und steht heute wieder in einem erbitterten Guerillakrieg mit den türkischen Sicherheitskräften.
Angesichts dieser Gesamtlage ist die Frage der Lücke zwischen den zwei heutigen Teilen „Rodschawas“ für Ankara ebenso wichtig, wenn nicht noch wichtiger, als der IS in Syrien mit seinen dortigen Untaten und seinen Anschlägen in der Türkei.
Ein strategischer Korridor
Die Lage innerhalb der Lücke ist nicht übersichtlich. Dort gibt es Ortschaften und Gebiete, die sich nach wie vor in der Hand des IS befinden. Dessen wichtigste verbliebene Ortschaften sind al-Bab im Inneren der Lücke und die Grenzstadt Dscharablus auf dem Westufer des Euphrats und direkt an der türkischen Grenze.
Es gibt aber auch Ortschaften und Gebiete, die sich in der Hand der arabischen Rebellengruppen befinden, die gegen Asad kämpfen, und solche die von den Regierungstruppen beherrscht werden. Die Lücke bildet auch einen Süd-Nord Korridor, der die bitter umkämpfte, geteilte und belagerte Grossstadt Aleppo mit der Türkei verbindet.
Nach der Eroberung von Membidsch haben sich die überlebenden Kämpfer des IS in Richtung Jarablus nach Norden zurückgezogen. Die Kämpfer der SDF verfolgen sie. Wie weit die amerikanische Luftwaffe auch bei dieser Verfolgung mitwirkt, ist unklar.
Syrische Rebellen im Dienst der Türkei
Die Türkei schreitet nun zu einer Gegenmassnahme. Offenbar hat sie vor, Kämpfer der FSA (Freie Syrische Kräfte) in Dscharablus einzusetzen, um den IS aus der Stadt zu vertreiben, aber auch mit dem Ziel, zu verhindern, dass die DSF (kurdisch-arabisch gemischte und von den syrischen Kurdenmilizen der YPG gesteuerte Kämpfer) sich der Grenzstadt bemächtigt. Zur Zeit wird gemeldet, dass Kämpfer der FSA aus Syrien über einen für sie offen gehaltenen Grenzübergang nach der Türkei kommen und sich in Karkamisch, der Grenzstadt auf der türkischen Seite, Dscharablus gegenüber, sammeln.
Die FSA als Arm der Türkei
Währenddessen bombardieren türkische Artillerie und Flugzeuge die Stellungen des IS in Dscharablus und den umliegenden Dörfern sowie auch die Positionen der DSF in Membidsch und Umgebung. Es heisst, wenn 1 500 FSA-Kämpfer bereit gestellt seien, würden sie den Angriff auf Dscharablus beginnen. Die IS-Kämpfer seien im Begriff, ihre Kämpfer aus Dscharablus und aus der Stadt al-Bab, die weiter südöstlich liegt, abzuziehen und in Richtung Raqqa zu verlegen. Doch niemand zweifelt daran, dass sie Dscharablus mit Minen und Bombenfallen gespickt haben. Der türkische Plan ist offenbar, die FSA zu benützen, um die Lücke ganz oder teilweise indirekt in Besitz zu nehmen und die DSF aus ihr fern zu halten.
USA: Hilfe von Fall zu Fall
Weder die Russen noch die Amerikaner dürften etwas dagegen haben, dass im Zug dieses Planes, wenn er gelingt, die IS-Kämpfer aus der Lücke vertrieben werden. Doch die YPG-Kämpfer werden versuchen, den türkischen Plan zu vereiteln und wenn irgend möglich die Verbindung zwischen der kurdischen Afrin-Enklave und den beiden Provinzen Hasake und Kobane, die sie als „Ost-Rodschawa“ beherrschen, herzustellen, um die umkämpfte Lücke zu schliessen.
Die Amerikaner und ihre Koalition stehen wieder einmal vor einem Dilemma: Sollen sie ihren tüchtigsten Verbündeten, den YPG weiterhin helfen, wie sie es tun, wenn der Kampf sich zwischen YPG und IS abspielt, oder sollen sie die YPG in ihrem bevorstehenden Kräftemessen mit den pro-türkischen und türkischen Kräften im Stich lassen, um die Türken nicht noch weiter zu erzürnen? Das zweite ist wahrscheinlicher, wird aber natürlich das Vertrauen der YPG gegenüber ihren Verbündeten schwächen.
Amerikanische Warnung an Syrien
Weil es über Hassake, weiter im Osten, zu einer Konfrontation zwischen amerikanischen und syrischen Kampfflugzeugen gekommen ist, die mit dem Rückzug der Syrer endete, hat nun das amerikanische Militär seine Position klargestellt. Ein Sprecher des Pentagons, Peter Cook, erklärte öffentlich, die Amerikaner seien entschlossen, ihre Truppen, die sich in Syrien befinden, um dort als Berater der YPG zu wirken, zu unterstützen. Nicht nur ihre eigenen Truppen, ergänzte er, sondern auch jene YPG-Einheiten, die mit ihnen zusammenarbeiten. Dies sei keine Flugverbotszone, führte er aus. „Aber die Syrer täten gut daran, jene Regionen zu vermeiden, in denen Koalitionskräfte wirken.“
Der Sprecher umging mit dieser Formulierung – „jene Regionen zu vermeiden“ – die politisch heikle Forderung der Errichtung einer Flugverbotszone. Diese Forderung war von den Türken erhoben und von Obama zurückgewiesen worden. Denn in den Augen Obamas würde sie bedingen, dass amerikanische Truppen gegen die syrische Luftwaffe und möglicherweise Armee eingesetzt werden müssten. Sowohl Donald Trump wie auch Hillary Clinton haben erklärt, sie würden eine solche Zone einrichten.
Russischer Schlichtungsversuch in Hassake
In der geteilten Stadt Hassake wird zwischen den dortigen Kurden der YPG und der syrischen Armee weiterhin gekämpft. Die syrischen Migs sind zurückgekommen und haben kurdische Positionen bombardiert. Die Amerikaner haben nicht reagiert. Das dürfte bedeuten, dass sie ihre dortigen Sondertruppen in Sicherheit gebracht haben oder dass die syrischen Luftangriffe deren Aufenthaltsorte vermeiden.
Eine russische Delegation, die vom russischen Flugplatz bei Lattakiye aus einflog, ist in Hassake angekommen und versucht zu vermitteln, um den de facto Waffenstillstand, der zuvor in Hassake herrschte, wiederherzustellen. Die Russen haben ein Interesse daran, dass die syrischen Truppen den Krieg nicht noch weiter in die Länge ziehen, indem sie nicht nur gegen die syrischen Rebellen und gegen den IS kämpfen, sondern dazu und gleichzeitig auch noch die syrischen Kurden ins Visier nehmen.
Die Kurden der YPG sagen, sie würden an mehreren Fronten weiter im Osten von den IS-Kämpfern angegriffen, und sie seien nicht in der Lage, sich so wirksam wie bisher zur Wehr zu setzen, weil sie nun auch Angriffen von der türkischen Seite und von Seiten der Asad Truppen ausgesetzt seien. Solche Erklärungen dürften einem Wink mit dem Zaunpfahl an die Amerikaner gleichkommen.