Sogar dort, wo „nur“ ein Konzertsaal zur Verfügung steht, schliesst man das Opernrepertoire nicht ganz aus. So ist beispielsweise in diesem Sommer beim „Lucerne Festival“ eine konzertante Aufführung des 2. Aktes von Wagners „Tristan und Isolde“ zu hören. Zum Ende des Festivals kommt man an drei Abenden sogar in den Genuss von Mozarts gesamtem „Da Ponte-Zyklus“. Recht so! Opernmusik ist so bewegend und so unvergleichlich, dass man sie keineswegs exklusiv den Opernhäusern überlassen soll.
Eine unvergessene Festspiel-Aufführung
Am 15. August 1962 fand in Luzern im Rahmen des damals noch „Internationale Musikfestwochen Luzern“ genannten Festivals eine konzertante Aufführung von Béla Bartóks einziger Oper „Herzog Blaubarts Burg“ statt. Am Pult des Schweizerischen Festspielorchesters stand damals der tschechische Dirigent Rafael Kubelik, der für den erkrankten Ferenc Fricsay eingesprungen war. Den Blaubart sang Dietrich Fischer-Dieskau, die Rolle der Judith wurde der Sängerin Irmgard Seefried anvertraut.
Zwei Dinge waren an dieser Aufführung ungewöhnlich: Man sang Bartóks Oper nicht in ihrer Originalsprache, nämlich auf Ungarisch, sondern in deutscher Sprache. Und man besetzte die Rolle der Judith nicht mit einer hochdramatisch dunklen Mezzo-Stimme, was meistens geschieht, sondern mit dem so lyrischen wie glockenhellen Sopran von Irmgard Seefried, die der Frauenfigur eine strahlende Jugendlichkeit verlieh, wie man sie bislang so noch nicht kannte. Da ein Weltklasse-Bass-Bariton in seinen besten Jahren den Blaubart sang und ein begnadeter Orchester-Colorist wie Kubelik am Pult stand, der alle Farbnuancen von Bartóks Partitur auszuleuchten verstand, war ein ereignisreicher Abend vorprogrammiert. Kein Wunder, dass man den Tonmitschnitt von 1962 im Jahr 2014 aus dem Archiv holte und als „historische Aufführung“ im Label „audite“ neu zugänglich machte.
Ein vertontes Schauermärchen
Bartók komponierte das einaktige und etwa einstündige Werk nach einem Libretto von Béla Balázs als etwa Dreissigjähriger im Jahr 1911. Zur Uraufführung am Opernhaus Budapest kam es allerdings erst 1918, die verantwortlichen Theaterleiter und -musiker hielten das Werk lange Zeit für unaufführbar. Heute gilt es als eine der wichtigsten und originellsten Opernschöpfungen des 20. Jahrhunderts. Kein heutiger bedeutender Dirigent lässt es sich zudem entgehen, diese in allen Farbschattierungen magisch leuchtende Partitur einmal wenigstens im Konzertsaal mit einem Spitzenorchester und zwei Topsolisten zu realisieren.
Den Blaubartstoff gibt es in vielen literarischen und musikalischen Ausprägungen, sowohl als Märchen und als Tragödie, bei Jacques Offenbach sogar als Komödie. Im Zentrum steht die Geschichte, wie ein älterer blaubärtiger Mann, dessen Ehefrauen eine nach der anderen sterben oder verschwinden, immer wieder nach einer neuen jungen Braut Ausschau hält. Der Herzog bringt sie auf seine unheimlich anmutende Burg, eine felsenartige Festung, die über geheimnisvoll verschlossene Türen verfügt, hinter welchen sich dunkle Geschichten verbergen, welche die Neugierde einer neu angekommenen Geliebten des Herzogs verständlicherweise erregen müssen.
Der Blaubart-Variante, die Balázs für sein Libretto wählte, stand das Theaterstück von Maurice Maeterlinck aus dem Jahr 1901 Pate. Es diente bereits als Vorlage für Paul Dukas Oper „Ariane et Barbe-Bleue“ (1907). Für Bartók war allerdings weniger diese Komposition von Dukas entscheidend, sondern die umwerfend neue Musiksprache, die er in Debussys Oper „Pelléas et Mélisande“ (1902) vorfand. Bartok gelang – trotz aller möglichen Vorbilder – mit diesem Werk ein Meisterstück an unverwechselbar eigener Tonsprache.
Bereits die Reduktion der Thematik auf zwei Stimmen und ein grosses Orchester, inhaltlich auf die Liebesbeziehung zwischen Blaubart und seiner jüngsten Flamme Judith, erwies sich als die bestmögliche dramaturgische Lösung. Wenn eine Oper mit den Worten beginnt: „Wir sind am Ziel! Komm und schaue, dies ist Blaubarts Burg. Tag musst du mit Nacht vertauschen.“ – da ahnen wir bereits, dass uns Unheimliches und Ungeahntes begegnen wird. Das Stück ist ein Liebes- und ein Seelendrama, wie man es in der musikalischen Ausmalung von Ängsten, Qualen und unbewusstem Trieb, die Neugier zu befriedigen, um das Liebesglück zu erreichen, bisher nicht kannte.
Der Schlüssel für die siebte Türe
Judith, die ihren Blaubart liebt, möchte seine dunkle Burg lichtdurchflutet wissen, die kalten Steine will sie glühend machen mit ihrer Liebe. Felsen, die weinen, und Mauern, die seufzen, will sie mit ihrer liebenden Wärme durchströmen. Wenn sie Blaubart insistent und erfolgreich die Schlüssel zu den Türen der verschlossenen Gemächer abbittet, entdeckt sie dahinter nicht nur Folterkammern, Waffenlager, Schatzsammlungen, Gärten und weite Blicke in die gesamten Ländereien des Herzogs, sie findet hinter jeder Türe immer auch Blutspuren. Bartok hat dafür ein beunruhigendes Motiv eingeführt: die sich reibende Dissonanz der kleinen Sekunde, die uns in Blaubarts Burg letztlich an keiner Stelle froh und glücklich werden lässt.
Auch für die zwei letzten Türen, hinter denen sich der Tränensee und der dunkle Raum befinden, in welchem sich Blaubarts drei frühere Geliebte befinden, muss dieser den Schlüssel herausrücken. Blaubart verlangt nur: „Lieb mich, küsse mich, frag nicht!“ Sie allein sei seines Schicksals Sonne, beteuert er. Judith aber will die ganze Wahrheit. Liebt er sie mehr als seine früheren Frauen? Sie will es wissen, auch wenn es ihr Untergang ist!
Wir hören hier die Szene unmittelbar vor dem Öffnen der siebten Türe. Judith entdeckt, dass Blaubarts Frauen alle noch leben – die Morgenfrau, die Mittagsfrau, die Abendfrau. Sie wird nun Blaubarts Nachtfrau im Sternenmantel werden. Er gesteht ihr noch: „Du warst meiner Frauen schönste!“ Doch auch sie bleibt hinter der siebten Türe gefangen. Diese schliesst sich. Es wird dunkel in Blaubarts Burg. Und dieser weiss: „Nacht bleibt es nun ewig, ewig ...“
So klang die Szene 1962 in Luzern
Natürlich ist diese Musik keine „Opernarie“ im traditionellen Sinn. Bartók hat hier ein Werk komponiert, das nur aus Dialogen zwischen Blaubart und Judith sowie aus reichlich ausgestatteten orchestralen Übergängen, Verbindungen und thematischen Weiterführungen besteht. Man darf beinah sagen, dass der Hauptakteur dieses Werkes das Orchester ist, mit seinen betörenden Farben, Düften, Stimmungen. Wer eine auch in Bilder umgesetzte Gesamtaufnahme des Werkes in der Originalsprache erleben will, schaut sich mit Vorteil jene filmische Realisierung an, die Georg Solti als Studioaufnahme 1981 mit dem London Philharmonic Orchestra realisierte. Judith wird hier von Sylvia Sass gespielt und gesungen, Blaubart von Kolos Kováts. Für die in meinen Augen sehr gelungene Bild- und Lichtregie war der ungarische Filmregisseur Miklós Szinetár verantwortlich. Die ganze Aufführung sehen sie hier.