Seit dem vergangenen Mai ist im Irak die Rede davon, dass die irakischen Streitkräfte sich darauf vorbereiteten, Mosul vom „Islamischen Staat“ (IS) zu befreien. Nach dem Fall von Falluja, Ende Juli, wurde die Befreiung von Mosul zum Hauptziel der irakischen Regierung. Zunächst geht es darum, die rund um die Grossstadt liegenden Ortschaften zu befreien. Dabei handelt es sich vor allem um Dörfer und Kleinstädte, die südlich und westlich von Mosul liegen und vom IS gehalten werden.
Die irakische Armee stiess bereits von Süden her, entlang des westlichen Ufers des Tigris, gegen Mosul vor. Die kurdischen Peschmerga-Kämpfer drangen von Osten her in den Distrikt Makhmur ein.
Mühsame Eroberung von Qayyara
Die Armee konnte schon am 9. Juli die leerstehende grosse Luftwaffenbasis von Qayyara besetzen. Sie war von den Amerikanern ausgebaut worden und liegt 12 Kilometer westlich des Distrikt-Hauptortes Qayyara in der Wüste. Die Basis soll künftig der irakischen Luftwaffe als Hauptstützpunkt für den Kampf um Mosul dienen. Doch die irakische Armee brauchte mehr als einen Monat, um auch die Stadt Qayyara vom IS befreien zu können. Dies geschah am 24. August. Möglich wurde dies nur, weil auch die irakischen Elitetruppen zur Terrorbekämpfung eingesetzt wurden. Sie sind besser ausgebildet als die Soldaten der regulären Armee.
Unterdessen besetzten die Kurden den Distrikt und den Flecken Makhmur. Auch er ist als Ausgangspunkt für die Operationen gegen Mosul vorgesehen. Den Kurden gelang es auch, in Ghwer die Brücke über den Zab einzunehmen. Der Zab ist ein östlicher Nebenfluss des Tigris. Kämpfer des IS haben auf ihrem Rückzug die Brücke zerstört. Sie muss jetzt wiederaufgebaut werden.
Zusammen mit Jesiden und Assyrern
IS-Milizen, die weiter Tigris abwärts im Raum Beiji stationiert waren, wurden jetzt nach Norden verlegt. Sie sollen helfen, die Distrikt-Hauptstädte Makhmur und Qayyara zu verteidigen.
Im Osten und im Norden von Mosul befinden sich die kurdischen Peschmerga-Kämpfer seit geraumer Zeit im Vormarsch. Sie hatten im Norden Sinjar, genauer die Ruinen von Sinjar, der einstigen Hauptstadt der Jesiden, im November 2015 befreit. Dabei wurden sie von den Amerikanern aus der Luft unterstützt. Die Kurden bildeten auch zusammen mit überlebenden Jesiden und Assyrer Milizen, die in den Kampf gegen den IS eingespannt werden und deren Ziel es ist, ihre Heimatorte zurückzuerobern.
Wollen die Kurden nach Mosul vordringen?
Der Plan für die Eroberung Mosuls sieht vor, dass die Kurden und ihre Alliierten vom Osten und Norden her gegen Mosul vorstossen. Die irakische Armee ihrerseits soll mit ihren Verbündeten von Süden her gegen die belagerte Stadt ziehen. Den Kurden ist es gelungen, die Strasse zwischen Mosul und Raqqa zu besetzen. Raqqa ist die offizielle Hauptstadt des „Kalifats“. Doch Nebenstrassen und Wege durch die offene Wüste bleiben dem „Islamischen Staat“ noch offen.
Im Norden und Nordwesten stehen die kurdischen Kräfte rund 40 Kilometer vor Mosul. Im Süden und Südwesten beträgt die Distanz der irakischen und kurdischen Kräfte zur Stadt etwa 60 Kilometer. Doch es ist unklar, ob die Peschmerga, die kurdisch-irakischen Kämpfer, überhaupt bis Mosul vordringen werden und wollen. Ihr wichtigstes Anliegen ist, wie sie offen sagen, die „kurdischen Gebiete“ im Irak „zu befreien“.
„Zurückdrängungspolitik“
Um was für Gebiete es sich dabei handelt, ist ungewiss – in zweifacher Hinsicht. Es gibt und gab schon seit langer Zeit gemischte Gebiete, die teils von arabischen Stämmen, teils von Kurden bewohnt waren. Dazu kommt: Seit dem Bestehen eines irakischen „Nationalstaates“ waren die Behörden von Bagdad immer bestrebt, die Kurden aus den Randgebieten der kurdischen Bevölkerungszone in die Berge zurückzudrängen und sie durch arabische Siedler zu ersetzen. Dies geschah schon seit geraume Zeit vor der Herrschaft Saddam Husseins.
Begonnen hatte diese „Zurückdrängungspolitik“ mit dem britischen Mandat (ab 1920) und den damaligen Kurdenkämpfen von 1920 und 1931. Auch der erste irakische Militärherrscher, Bakr Sidqi, verfolgte diese Politik, und zwar schon bevor er 1936 mit einem Staatsstreich an die Macht gelangte. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Kurden zurückgedrängt, und zwar unter Nuri Said und erneut nach der Revolution unter Abdul Karim Kassem (ab 1958), später auch nach dessen Ermordung oder Hinrichtung unter den nachfolgenden beiden Arif-Präsidenten (1963-68), die dem Arabischen Nationalismus zuneigten. Besonders intensiv bekämpft wurden die Kurden von Saddam Hussein zwischen 1986 und 1989 in seinem als „Anfal“ bezeichneten Genozid.
Kurdische Ansprüche auf arabische Siedlungen
Arabische Siedler wurden immer wieder in Dörfer und Gehöfte umgesiedelt, die einst von den Kurden bewohnt wurden. Das begann schon vor 100 Jahren. Auch zwischen 1992 und 2002 fanden unter Saddam solche Umsiedlungen statt. Aus diesem Grund gibt es starke kurdische Ressentiments gegen „die Araber“. Oft erheben die Kurden deshalb Anspruch auf arabische Siedlungen, die vom IS befreit werden. Die Kurden sind der Ansicht, dass diese befreiten Gebiete kurdische Gebiete sind. Arabische Häuser werden bei den kurdischen Befreiungsaktionen eher zerstört als solche, die ich in kurdischem Besitz befinden.
Wenn die kurdischen Kämpfer vorrücken, ziehen sie oft mit Bulldozern Gräben an der neuen Front. So wollen sich die Kurden vor Selbstmordattentaten schützen. Immer wieder fuhren IS-Selbstmordattentäter mit Lastwagen hinter die kurdische Front und brachten dort den Sprengstoff zur Explosion. Mit solchen Attentaten ersetzt der IS Artillerie-Angriffe. Doch die Gräben haben auch eine andere, symbolische Funktion. Mit ihnen wollen die kurdischen Kämpfer der Bevölkerung demonstrieren: Bis hierher haben wir nun „unser Land“ mit blutigen Opfern erkämpft und befreit.
Mosul, Hauptstadt der arabischen Sunniten
Mosul ist eine arabische Stadt. Die kurdische Minderheit, die dort lebt, ist stark geschrumpft. Dies deshalb, weil viele Kurden gezwungen waren zu fliehen. Neben den Kurden gibt es auch assyrische und turkmenische Minderheiten.
In Bagdad wird zurzeit darüber beraten, ob sich die Peschmerga-Kämpfer an der Schlussoffensive auf Mosul beteiligen sollen. Einerseits braucht man sie, weil sie die erfahrensten und entschlossensten Kämpfer sind. Andererseits befürchten die Iraker, dass die Peschmerga-Kämpfer nach einer Befreiung Mosuls Forderungen stellen werden, bevor sie abziehen. Solche Forderungen könnten sich nicht nur auf Mosul beziehen, sondern auch auf andere „umstrittene Gebiete“, vor allem natürlich auf die Erdölprovinz Kirkuk, die von kurdischen Streitkräften dominiert wird.
Schiitische Milizen
Ein zweites Problem für Bagdad stellt die sogenannte „Volksmobilisierung“ dar. Dabei handelt es sich um vorwiegend schiitische Milizen, die 2014 mobilisiert wurden, als der IS begann, Bagdad zu bedrohen. Zu diesen schiitischen Kräften gehören mächtige Formationen, die seit Jahren bestehen und während des irakisch-iranischen Kriegen (1980-1988) entstanden. Während dieses Kriegs flüchteten schiitische Iraker in den Iran und kämpften auf iranischer Seite gegen Saddam Hussein. Sie wurden von iranischen Revolutionswächtern ausgebildet und organisiert. Ihre Einheiten zogen nach der amerikanischen Invasion von 2002 in den Irak, doch ihre Verbindungen zu Iran haben sie nie aufgegeben.
2014 ging der vorwiegen sunnitische „Islamische Staat“ gegen die Schiiten im Irak gewaltsam vor. Als Reaktion darauf verstärkte Iran die Hilfe an „die schiitischen Brüder im Irak“. Seither gibt es Milizen, wie die sogenannte „Badr“-Miliz, die von pro-iranischen Milizführern kommandiert werden und die eng mit dem iranischen General Qassem Sulaimani zusammenarbeiten. Sulaimani ist seinerseits der Kommandant der „Quds“(Jerusalem)-Einheiten der iranischen Revolutionswächter. Dabei handelt es sich um den aussenpolitischen Arm der iranischen Wächter-Armee, vergleichbar der amerikanischen CIA. Sulaimani begibt sich oft persönlich in den Irak, um die Aktionen „seiner“ irakischen Milizen zu beaufsichtigen und zu leiten. Dies vor allem, wenn es darum geht, ihren offensiven Einsatz vorzubereiten. Gegenwärtig soll er im Umfeld von Mosul gesichtet worden sein.
Die Rolle der Amerikaner
Auf der anderen Seite gibt es amerikanische Militärberater, die beim Aufbau und Einsatz der regulären irakischen Armee mithelfen. Die Gegensätze zwischen den beiden „Hilfsmächten“ und ihren Anhängern wirken sich bis ins irakische Parlament aus. Dort besitzen die Schiiten die Mehrheit. Doch sie sind gespalten in eine Faktion, die mit Iran zusammenarbeiten will – und in eine andere, die zwar die Amerikaner auch nicht besonders liebt, die aber der Ansicht ist, dass der Irak ohne amerikanische Hilfe nicht auskommen kann.
Schliesslich sind es die Amerikaner, deren Luftwaffe den IS in Schach hielt und hält. Gleichzeitig wirken die USA bei der Wiederaufrüstung und Ausbildung der irakischen Armee mit. Die schiitische Regierungspartei ist im irakischen Parlament tief gespaltet.
Die von Ministerpräsident Haidar al-Abadi geleitete Regierung ist bemüht, mit den Amerikanern zusammenzuarbeiten. Doch eine starke Faktion, die sich um den früheren Ministerpräsidenten Nuri al-Maleki schart, opponiert. Sie stellt sich hinter die schiitischen Milizen und ihre Zusammenarbeit mit Iran. Dies geschieht teils aus taktischen Gründen, nämlich um Maleki wieder an die Macht zu bringen, teils wohl auch aus schiitischem Machtstreben. Ziel ist es, die irakischen Sunniten niederzuhalten.
Sadr als Zünglein an der Waage
Um die komplexe Realität nicht über Gebühr zu vereinfachen, muss man weiter erwähnen: Es gibt unter den Schiiten eine dritte Kraft, jene des Volkstribunen und Ajatollah-Sohns, Muqtada al-Sadr. Er verfügt über eine fanatische Anhängerschaft aus den millionenstarken schiitischen Slums von Bagdad und anderen Städten. Al-Sadr steht eher auf Seiten des Regierungschefs, jedoch unter der Vorbedingung, dass dieser endlich energisch gegen die Korruption in den irakischen Ministerien vorgeht. Die Sadr-Anhänger demonstrieren regelmässig in Bagdad für dieses Ziel. Regierungschef Al-Abadi stimmt ihnen zu und verspricht „Reformen“. Doch er stösst im Parlament auf Widerstand. Viele schiitische Politiker und ihre Anhänger und Familienangehörigen profitieren vom Geld, das aus den Ministerien in ihre Kassen fliessen. Diese Abgeordneten sind gegen Reformen.
Was das amerikanisch-iranische Seilziehen um den Irak angeht, so steht Muqtada al-Sadr auf keiner der beiden Seiten. Er hat leichtes Spiel, weil er keine Regierungsverantwortung trägt. Seine Rhetorik ist „irakisch national“. Um an der Macht zu bleiben, ist Ministerpräsident al-Abadi auf die Stimmen der „sadristischen“ und der kurdischen Abgeordneten angewiesen.
„Ethnische Säuberung“?
Diese komplexe und sehr labile Konstellation in der Hauptstadt wirkt sich auf die Vorbereitungen der Mosul-Offensive aus. Die Milizen und ihre Führung (in vielen Fällen vom Iran beeinflusst) wollen sich am Sturm auf Mosul beteiligen. Sie erklären, ohne sie wäre die irakische Arme nicht in der Lage, erfolgreich zu kämpfen. Möglicherweise haben sie dabei recht. Die Amerikaner jedoch sprechen sich gegen die Mitwirkung der Milizen aus. Wie schon bei den Feldzügen gegen Ramadi und Falludja erklären sie, ihre Luftwaffe werde nur mitwirken, wenn die Milizen zurückgehalten würden.
Das amerikanische Misstrauen gegen die Milizen hat einen Grund: Oft gehen die schiitischen Milizen in den vom IS befreiten Gebieten brutal und rachsüchtig gegen die sunnitische Bevölkerung vor. Immer wieder wird sunnitischen Zivilisten vorgeworfen, sie hätten mit dem IS zusammengearbeitet. Wenn es nicht zu Hinrichtungen kommt, so doch mindestens dazu, dass die Betroffenen nicht mehr in ihre Häuser zurückkehren können, aus denen sie während der Kämpfe fliehen mussten. Irgendwelche Schiiten finden sich leicht, um sich dort niederzulassen.
Die Berichte über derartige Übergriffe breiten sich weit aus. Sie haben zur Folge, dass manche Sunniten sich fragen, ob sie nach einem möglichen Sieg der irakischen Schiiten wirklich besser dran sein werden als unter dem IS. Sogar die reguläre Armee, die bemüht ist als nationale Armee aufzutreten, wird von den Sunniten oft als eine „schiitische“ Armee eingestuft. Die weitaus meisten Milizen sind ihrerseits offen und fraglos „schiitisch“.
Zerstörerische Kampfmethoden
Bei der Befreiung der einst sunnitischen Städte Ramadi und Falluja sind zahlreiche sunnitische Zivilisten ums Leben gekommen. Dies deshalb, so sehen es die Sunniten, weil die angreifenden Kräfte vor allem aus Schiiten bestanden.
Doch die Zerstörungen hatten objektiv gesehen mit den angewandten Kampfmethoden zu tun. Die IS-Kämpfer verteidigten sich mit den hinterhältigsten Mitteln, die sie sich ausdenken konnten – ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Die Angreifer ihrerseits suchten ihre Verluste niedrig zu halten, indem sie die Städte mit Artillerie aus Distanz beschlossen und dabei wenig Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nahmen. Erst wenn Stadtviertel gründlich zerstört waren, riskierten es die irakischen Truppen, in sie einzudringen. So wurden die Kampfhandlungen in die Länge gezogen. Auch darunter hatte die Zivilbevölkerung zu leiden. Ihr ging zuerst die Elektrizität aus, dann der Brennstoff, das Trinkwasser und schliesslich die Nahrung.
Folge dieser Kriegsführung war die fast vollständige Zerstörung der Städte. All jene, die flüchten konnten, sind geflüchtet. Bevor der IS abzog, verminte er Häuser und Strassen. Aus diesem Grund konnten die Geflüchteten nicht in ihre Städte zurückkehren. Sie wurden in improvisierte und schlecht organisierte Lager gesteckt. Nur wenige privilegierte Flüchtlinge erhielten Erlaubnis, nach Bagdad zu ziehen. Bei vielen kam der Verdacht auf, es seien „die Schiiten“ des Heers und der Milizen, die sie unter dem Vorwand der Entminung von ihren Städten fern hielten – in der Absicht sie endgültig aus ihrer Heimat zu vertreiben.
Wird Mosul ein „grosses Falluja“
Mosul ist eine sehr viel grössere Stadt als Ramadi und Falluja. Von den ursprünglich zwei Millionen Bewohnern dürfte mindestens eine davon in der Stadt verblieben sein. Falls die Kämpfe sich ähnlich abwickeln sollten, wie dies in Ramadi und in Falluja der Fall war, und dies ist nicht unwahrscheinlich, wäre zunächst eine gewaltige Welle von Flüchtlingen und Vertriebenen zu erwarten.
Von der Dauer der eigentlichen Belagerungskämpfe wird abhängen, wie stark die Grossstadt zerstört wird. Da der IS vermutlich mit seiner ganzen Brutalität kämpfen wird, ist zu befürchten, dass die Belagerung andauern wird, wie in Ramadi und in Falluja, und dass sie erst zu Ende geht, wenn Mosul eine Ruinenstadt sein wird. Dass in den Rängen der irakischen Armeeführung zu irgendeinem Zeitpunkt Kritik an der eigenen, zerstörerischen Kriegsführung geübt worden wäre, ist nicht bekannt – und auch unwahrscheinlich angesichts der triumphalen Töne, die nach den Eroberungen laut wurden.
Jedenfalls erwarten die Hilfsorganisationen, die im Irak präsent sind, eine neue riesige Flüchtlingswelle. Diese könnte einsetzen, sobald die Belagerung, die nun vorbereitet wird, konkrete Züge annimmt. Schon heute wird die Hilfe vorbereitet. Doch schon heute steht fest: Das Geld fehlt, um Hunderttausenden helfen zu können.