Griechenland hat trotz strikter und diskriminierender Massnahmen die Pandemie nicht im Griff, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten häufen sich und Minister werden ausfällig.
Eine neue Corona-Welle hält derzeit Griechenland in Atem. Das Land meldete je nach Region im November 7-Tages-Inzidenzen von über 800 Fällen. Die epidemiologische Lage ist damit deutlich schlechter als in Ländern wie Bulgarien und Rumänien, die hierzulande für ihren laschen Umgang mit der Pandemie gescholten werden. Die Todeszahlen sind hoch; zwischen 40 und 90 Menschenleben sind täglich zu beklagen, weniger als in Bulgarien und Rumänien, aber sehr viel mehr als in westeuropäischen Ländern mit ähnlich vielen positiv Getesteten. Diese niederschmetternde Bilanz geht einher mit restriktiven Massnahmen für Ungeimpfte, während für die Geimpften praktisch alle Einschränkungen aufgehoben wurden. Die Ungeimpften werden denn auch medial und von der Regierung für alles Übel verantwortlich gemacht, obwohl für sie schon seit dem Frühsommer 3G gilt und seit November 2G. Ungeimpfte sind von jeglichem gesellschaftlichem Leben ausgeschlossen, ungeimpfte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen sich dreimal pro Woche testen lassen und nun sind für sie auch die meisten Läden tabu. In den meisten übrigen Einrichtungen (Museen, Kinos, Banken oder Behörden) gilt mindestens 3G. In vielen Branchen gilt Impfpflicht. Im Frühherbst sind denn auch tausende von Fachkräften im Gesundheitssektor unbezahlt beurlaubt worden. Die Regierung diskutiert nun, in privaten Gesundheitseinrichtungen Tätige für das staatliche Gesundheitssystem zwangszuverpflichten, weil dieses an der Belastungsgrenze ist.
Reporting nach dem Pippi-Langstrumpf-Prinzip
Die Regierung legitimiert ihre Strategie mit der Aussage, dass 90% der COVID-Patienten in den Spitälern ungeimpft seien. Sie hat aber klammheimlich die Definition von ungeimpft geändert. «Ungeimpft» sind in Griechenland auch alle, die mit AstraZeneca geimpft sind, mit J&J nur eine Dosis erhalten haben, deren Impfung mehr als 6 Monate zurückliegt oder wenn seit der zweiten Dosis nicht drei Wochen verflossen sind. In Zukunft soll, so wurde übers Wochenende bekannt, der Prozentsatz der Geimpften an den Corona-Toten nicht mehr kommuniziert werden. Und «Corona-Tote» sind in Griechenland nicht nur Menschen, die an oder mit Corona gestorben sind, sondern alle Menschen, die seit der Einführung der Tests einmal positiv getestet wurden. Wer zum Beispiel vor einem Jahr Corona-positiv war und heute an einem Autounfall stirbt, ist in Griechenland ein Corona-Toter. Reporting nach dem Pippi-Langstrumpf-Prinzip.
Anstatt eine Strategie zu überarbeiten, die offensichtlich nicht funktioniert, bleibt die Regierung in ihrem Narrativ gefangen («die Ungeimpften sind an allem schuld»). Nach dem erfolglosen siebenmonatigen totalen Lockdown vom letzten Jahr wird jetzt eine weitere Strategie implementiert, deren Scheitern ebenfalls augenfällig ist.
Regierungsmitglieder greifen zum verbalen Zweihänder
Der neue Gesundheitsminister Athanasios Plevris ist von der aufgelösten rechtsextremen Partei LAOS zu den regierenden Neudemokraten übergelaufen. Er musste für antisemitische Äusserungen, die er im Jahr 2009 von sich gegeben hatte, bei der jüdischen Gemeinde Griechenlands um Verzeihung bitten. Vor allem in Thessaloniki lebte bis zum Zweiten Weltkrieg eine ansehnliche jüdische Gemeinde, die während der deutschen Besatzung praktisch komplett deportiert und ermordet wurde.
Die Äusserungen des Ministers für Wirtschaftsentwicklung, Adonis Georgiadis, mit denen er Ungeimpften den Tod wünschte, waren vom Inhalt und der Wortwahl her derart ungeheuerlich und erinnern an finsterste Zeiten, dass ich sie weder zitieren noch übersetzen möchte (hier ist diese Entgleisung in griechischer Sprache nachzulesen). Im Ausland ist dies wohl nur deshalb nicht bemerkt worden, weil kaum mehr jemand der Sprache Homers mächtig ist. Georgiadis trat aber kürzlich nach und präzisierte, dass verfassungsmässige Grundrechte nur noch für Geimpfte gelten würden.
Zustände, die an eine Diktatur erinnern
Griechenland ist zwar die Wiege der abendländischen Kultur und der Demokratie. Diese Regierungsform hat aber seit der Gründung des neugriechischen Staates und der Ermordung des ersten Präsidenten Ioannis Kapodistrias weder eine besonders lange noch eine besonders erfolgreiche Tradition. In den Jahren seit 1974 wurde das Land zwar von endemischer Korruption geplagt, aber die Grundrechte und die Spielregeln der Demokratie wurden grosso modo respektiert. Im Moment ist das Land allerdings wieder in einer sehr repressiven Phase. Während in dieser Beziehung Ungarn und Polen in aller Leute Mund sind, segelt Griechenland unbegreiflicherweise unter dem Radar. Das erinnert mich an die Zeit vor der Finanzkrise, wo völlig klar war, wohin das Land steuert, aber niemand aussprach, welche Folgen diese Schuldenwirtschaft haben kann.
Die «Freedom of the Press Worldwide»-Karte der Reporter ohne Grenzen führt Griechenland nur in der dritten von fünf Kategorien, auf einer Stufe mit Polen, Ungarn oder der Ukraine. (Die Schweiz wird in der höchsten Kategorie geführt, zusammen mit den skandinavischen Ländern, den Benelux-Staaten und Portugal.) Diese Kategorisierung ist verdient. Die privaten Fernsehstationen wurden durch staatliches Geld rekapitalisiert und berichten regierungstreu. Kritischen Journalismus pflegen allenfalls noch einige kleine Radiostationen wie Focus FM in Thessaloniki sowie Blogs und Internetplattformen wie Alert. Meist findet aber die Regierung Mittel und Wege, Medienschaffende auf Linie zu bringen. Während der Brandkatastrophe im Sommer legitimierte die Regierung ihr Versagen mit der Aussage, der starke Wind hätte die Löscharbeiten behindert. Als die Athener Sternwarte angab, es habe gar kein Wind geherrscht, kündigte die Regierung einige Tage später an, diese zu privatisieren.
Eine Bestimmung des Strafgesetzbuches, die das griechische Parlament jüngst verabschiedet hat, macht die Verbreitung von «Fake News» zu einem Straftatbestand: Als Straftat , die mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden kann, gilt die Verbreitung von Fake News, die «geeignet sind, die Öffentlichkeit zu beunruhigen oder zu verängstigen oder das Vertrauen der Öffentlichkeit in die nationale Wirtschaft, die Verteidigungsfähigkeit des Landes oder die öffentliche Gesundheit zu untergraben». Es besteht somit die Gefahr, dass die Bestimmung zur Bestrafung von Medienschaffenden und überhaupt allen, die die Regierungspolitik kritisieren, verwendet wird, was eine abschreckende Wirkung auf die Meinungsäusserungs- und die Pressefreiheit hätte.
«In Griechenland riskiert man nun das Gefängnis, wenn man sich zu wichtigen Themen von öffentlichem Interesse äussert und die Regierung behauptet, dies sei falsch», sagte Eva Cossé, Griechenland-Berichterstatterin bei Human Rights Watch. «Die strafrechtlichen Sanktionen führen dazu, dass Journalisten und praktisch alle anderen Menschen Angst haben, über wichtige Themen wie den Umgang mit Covid-19, Migration oder die Wirtschaftspolitik der Regierung zu berichten oder zu diskutieren.» (Übersetzung der Zitate durch den Autor)
Der neue Text definiert weder, was Fake News sind, noch nach welchen Massstäben sie erkannt werden, noch dass die Verbreitung falscher Informationen tatsächlich Schaden verursachen muss. Der griechische Journalistenverband und Human Rights Watch forderten die Rücknahme des Gesetzes, da es zu vage sei. In der Tat ist eine solche Bestimmung mit der Meinungs- und Pressefreiheit univereinbar. Ein solches Gesetz gibt es bisher lediglich in Ungarn.
Die komplett eingeschüchterte Bevölkerung hat dem wenig entgegenzusetzen. Verhaltensweisen, wie sie sonst in Diktaturen zu beobachten sind, sieht man bei genauem Beobachten und bei Kenntnis der Sprache im Griechenland des Jahres 2021 jeden Tag. Und die internationale Gemeinschaft redet über Ungarn und Polen, reagiert aber bei Griechenland mit grosser Gleichgültigkeit.
Wer untersucht Gesetzesverletzungen von Politikern? Die Politiker!
Das Problem geht aber noch tiefer: Was in Österreich diesen Herbst passiert ist – ein Bundeskanzler stolpert über staatlich finanzierte Manipulationen des Mediensystems – wäre in Griechenland undenkbar. Es ist gar nicht so, dass in Griechenland keine manipulierten Umfragen zirkulieren – der Krimiautor Petros Markaris hat darüber sogar ein Buch geschrieben, aber das hat keine Folgen. Die hellenische Justiz geht nur gegen Politiker vor, die in der einen oder anderen Art Outsider sind, wie der kürzlich verstorbene ehemalige Minister Akis Tsochatzopoulos.
Es gibt wohl zwei Hauptgründe dafür; beide haben damit zu tun, dass die Justiz zu wenig unabhängig ist (wiederum fällt mir auf, dass in diesem Zusammenhang immer von Ungarn und Polen die Rede ist, aber nie von Griechenland):
- Ein Gesetz von 1844 bestimmt, dass bei Verdacht auf Gesetzesverletzungen von Politikern das Parlament zuständig ist. Damit gilt für Politiker keine Gewaltenteilung. Sie kontrollieren sich selber und müssen nicht fürchten, belangt zu werden – auch nach Ausscheiden aus dem Amt. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.
- Die Justiz ist ausserdem sehr zentralisiert. Heikle Fälle werden aus Angst vor Konsequenzen erst gar nicht angepackt.
Das führt nicht nur dazu, dass die Regierung mit ihrer absoluten Mehrheit praktisch unkontrolliert agiert (zur Zeit von Koalitionsregierungen während der Krise war dies besser – diese Kabinette wurden vom Koalitionspartner kontrolliert). Auch die Wirtschaftskriminalität blüht. Kommt in diesem Bereich etwas ans Licht, dann meist, weil von ausländischer Seite ermittelt wird.
Die Ausnahme von der Regel war die Aufklärung des Mordes am linksgerichteten Parlamentsmitglied Grigoris Lambrakis 1963. Richter Christos Sartzetakis deckte damals auf, dass staatliche Stellen in den Mord verwickelt waren. Er handelte sich dadurch während der Diktatur eine Gefängnisstrafe ein, wurde später aber Staatspräsident.
Wirtschaftlicher Zweckoptimismus – Schulden auch für die Grosskinder
Anfangs August besuchten wir auf unserer Insel ein Kleidergeschäft. Die Besitzerin verkaufte hochwertige Ware zu Schleuderpreisen. Sie war den Tränen nahe. Nicht nur hatte sie eine halbjährige Zwangsschliessung hinter sich, sie erwartete auch einen erneuten Lockdown. Deshalb verkaufte sie, was sich irgendwie verkaufen liess. Sie wisse nicht, ob ihr Geschäft den Winter überlebe, sagte sie. Im Moment sind zwar die Geschäfte offen, aber nur für Geimpfte. Etwas Entschädigung für die beiden monatelangen Schliessungen hat die Geschäftsfrau zwar erhalten, aber das hat nicht einmal die Miete gedeckt. Auch jetzt ist die Stimmung gedrückt – niemand weiss, was noch kommen wird.
Ein Kotelett für 12 Euro, etwas, was man noch vor kurzem nicht für möglich gehalten hätte. Kürzlich ist dieses aber – so hat man mir gegenüber am Telefon geklagt – tatsächlich für diesen Preis über den Ladentisch gegangen. Was ist hier passiert? Die Inflation stieg in diesem Jahr auf 3,4%, wobei das wohl eine Unterschätzung darstellt, denn der Warenkorb, aufgrund dessen die Preissteigerungen berechnet werden, ist nicht mehr repräsentativ. Es kam, wie es kommen musste: Die griechische Regierung auferlegte den Menschen und der Wirtschaft im letzten Winter einen der härtesten und gleichzeitig erfolglosesten Lockdowns. Während dieser Zeit konsumierten die Menschen weiter, in vermindertem, Ausmass zwar, aber die Wirtschaft lief komplett auf Sparflamme, während in der Schweiz immerhin 90% der Wirtschaft offen war. Dieser Nachfrageüberhang führte zu Problemen in den Lieferketten und jetzt wird die Quittung präsentiert: Die Inflation ist da und die Regierung ist weitgehend machtlos, weil die Geldpolitik bei der EZB in Frankfurt gemacht wird. Die wirtschaftlichen und die psychologischen Folgen, die kleinen und grossen Katastrophen der Ladenbesitzerin, die um ihre Existenz bangt, der Schülerin, die nicht weiss, was aus ihr nach dem Abitur wird oder des verängstigten Rentners, dem die Massenmedien täglich Angst einjagen vor allem und jedem, diese Folgen werden mit jedem Tag deutlicher sichtbar.
Auch die Staatsrechnung bleibt defizitär. Die mit den Geldgebern vereinbarten Überschüsse haben sich nicht materialisiert. Das Budget für 2022 sieht ein Primärdefizit (ohne Zinsen und Amortisationen) von 0,9% der Wirtschaftsleistung vor. Griechenland hat sich in der Krise verpflichtet, hohe Primärüberschüsse zu erwirtschaften. Davon ist nicht mehr die Rede. Nach einem Primärdefizit von 7,5% im letzten Jahr dürfte dieses sich heuer auf gähnende 7,7 % erhöhen. Leben auf Pump, wie wenn es die Finanzkrise nie gegeben hätte.
Finanzminister Christos Staikouras macht auf Zweckoptimismus: Er will das Defizit im nächsten Jahr kräftig zurückfahren und ab 2023 zu den Überschüssen zurückkehren, die eigentlich Pflicht wären. Um eine solche Prognose rechtfertigen zu können, hat die Regierung die Prognose für das Wirtschaftswachstum von 3,6% auf 6,1% erhöht, ohne dafür einen plausiblen Grund zu nennen. Budgetieren nach dem Prinzip Hoffnung. Ein baldiger Engpass, das heiss eine akute Gefahr einer erneuten Staatspleite besteht aber nicht, weil die Fälligkeiten der staatlichen Schuldverschreibungen bis zum Geht-nicht-mehr gestreckt wurden – Laufzeiten von 30 Jahren sind keine Seltenheit und die letzten Anleihen werden erst 2070 fällig. Salopp ausgedrückt: Nachdem die Krise auf Kosten der Kinder gemeistert wurde, werden jetzt die Grosskinder zur Kasse gebeten! Der Schuldenstand beträgt mittlerweile – gemessen an der Wirtschaftsleistung – 190%, etwa das Doppelte als bei Ausbruch der Schuldenkrise. Obwohl die Liquidität der Staatskasse immer noch komfortabel ist, fragt es sich angesichts dieser Zahlen, ob es wirklich klug war, dass die Ratingagenturen die Bonität des griechischen Staates heraufstuften.