In der Corona-Pandemie gab und gibt es weniges, worauf man sich allgemein einigen konnte. Eine dieser seltenen Übereinstimmungen besteht beim Postulat, es dürfe keinen Impfzwang geben. Der Grundsatz war schon in Stein gemeisselt, bevor überhaupt absehbar war, ob es ein Vakzin gegen Covid-19 jemals geben würde.
An dieser Diskussion fällt sprachlich auf – und in dieser Kolumne geht es primär um Sprache –, dass sie keinen Unterschied macht zwischen Impfzwang, Impfobligatorium und Impfpflicht. Mit dieser begrifflichen Einebnung geht jedoch etwas verloren, das in der Debatte ums Impfen eine Rolle spielen sollte.
Es besteht Konsens, dass man widerstrebende Personen nicht zwingen darf, sich selbst oder ihre Kinder impfen zu lassen. Wollte man hier Zwang ausüben, müsste dies allenfalls zu massiven Übergriffen auf die körperliche Integrität der Verweigerer führen. Das kann niemand wollen. In Situationen, die ein Impfobligatorium erforderlich machen, ist eine Verweigerung daher nicht kategorisch ausgeschlossen. Wer die Impfung ablehnt, muss aber Einschränkungen hinnehmen. Impfverweigerer können beispielsweise nicht in ein Land einreisen, das bestimmte Impfungen vorschreibt. Verweigerern steht es also frei, einem Obligatorium auszuweichen – mit Inkaufnahme entsprechender Konsequenzen.
Das Obligatorium ist im Bedeutungsgehalt nahe beim Zwang, legt im Unterschied zu diesem jedoch das Augenmerk aufs Bedingen: Ein Zugang, eine Zugehörigkeit oder ein Anrecht hängt an einer Bedingung. Das Obligatorium ist gewissermassen Türhüter; es zwingt aber zu nichts. Verzichtet man auf das, wofür es Bedingung ist, entfällt der Zwang. Deshalb ist ein Impfobligatorium kein Impfzwang. Es schreibt lediglich vor, für welche Aktivitäten und Situationen ein Impfnachweis nötig ist.
Und wie steht es mit der Impfpflicht? Es ist wichtig, sie vom Begriff des Impfzwangs zu unterscheiden. Pflichten beruhen auf freien Entscheidungen. Ihre Befolgung ist intrinsisch motiviert: Einsicht in Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit eines Tuns oder Lassens ist ihr Antrieb. Solche Einsichten sind oft Ergebnisse langer Prozesse. Der individuellen Bejahung bestimmter Pflichten gehen Anleitungen und Belehrungen, das Wirken von Vorbildern, manchmal auch Diskussionen und Konfrontationen voraus. Im Kulturprozess des Herauskristallisierens von Pflichten verständigt sich die Gesellschaft über Anforderungen eines guten Zusammenlebens.
Immanuel Kant hat in seiner Philosophie den unauflösbaren Zusammenhang von Pflicht und Freiheit herausgearbeitet. Der Mensch erweist sich darin als frei, dass er autonom im Sinne seiner Pflichten handelt. Dreh- und Angelpunkt in diesem Konnex ist der Begriff der Autonomie, der bei Kant die individuelle Freiheit verbindet mit der Einsicht in die Notwendigkeit von Pflichten.
Der Arzt und Impfspezialist Siegwart Bigl hat kürzlich in der «Zeit» den bedenkenswerten Vorschlag einer Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen gemacht. Man könnte hinzufügen, dass darüber hinaus eine generelle Impfpflicht für alle Impfbaren sinnvoll wäre. Sie hätte den Charakter eines dringenden Appells an die soziale Verantwortung, im Kampf gegen Corona das wirksamste Mittel bestmöglich einzusetzen.
Vor dem Hintergrund von Kants Freiheitsphilosophie und Pflichtenethik ist an solchen Überlegungen nichts auszusetzen, denn eine Pflicht ist kein Zwang. Bigl betont denn auch, eine Impfpflicht verlange ein vertrauliches Informieren, Beraten und Überzeugen (er schlägt als Ort hierfür das Gespräch mit der Hausärztin vor, die allerdings eine impfmedizinische Qualifizierung haben sollte).
Am Ende jeder Pflicht – also auch der Impfpflicht – muss immer die individuelle Entscheidung stehen. Da diese nicht anders als frei sein kann, ist als Ergebnis der Beratung auch ein informiertes Nein zur Impfung möglich. Zur Autonomie im Sinne Kants gehört die Möglichkeit, sich einer Pflicht im Extremfall zu widersetzen, etwa wenn sie im Konflikt zu einer anderen Verpflichtung steht. Bei einem Zwang wäre so etwas nicht möglich.
Hören wir also auf, von Impfzwang zu reden. Er wurde richtigerweise früh ausgeschlossen und steht nicht zur Diskussion. Anders als der Zwang nimmt die Vorstellung der Pflicht die Menschen für voll und respektiert deren Freiheit. Der Pflichtgedanke macht aber gleichzeitig deutlich, dass Entscheidungen einen Preis haben. Die Philosophie der Aufklärung hat gezeigt, dass Freiheit und Verantwortlichkeit zusammengehören. Mit diesem Wissen eine offene und umsichtige Auseinandersetzung über die Verpflichtung zum Impfschutz zu führen, ist endlich an der Zeit.