Ein unzensierter Erfahrungsbericht von der Strecke Zürich–Bern über political correctness, body-shaming und Weihnachtskuchen
Journal21.ch will die Jungen vermehrt zu Wort kommen lassen. In der Rubrik „Jugend schreibt“ nehmen Schülerinnen und Schüler des Zürcher Realgymnasiums Rämibühl regelmässig Stellung zu aktuellen Themen.
Letitia Kan wurde 2003 geboren und besucht die fünfte Klasse des Realgymnasiums Rämibühl. In ihrer Freizeit ist sie oft im Hallenbad anzutreffen, wo sie selber trainiert oder kleinen Kindern das Schwimmen beibringt. Sie spielt auch gerne Klavier.
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Mittwochabend, 17:53. Ich sitze im Zug auf der Strecke von Bern nach Zürich. Eine Stunde dauert die Fahrt. Handy tot. Buch zu Hause vergessen. Toll.
Ich schaue um mich. Der Wagen ist vollgepackt mit Menschen, die sich mit ihren dicken Wintermänteln und Teppichschalen einen eigenen Kokon gesponnen haben. Es herrscht Stille. Alle sind entweder am Handy oder am Lesen. Alle ausser ich.
Was mach ich denn jetzt? Ah! Ich kann mir die Zeit zum Nachdenken nehmen. Das habe ich schon lange nicht mehr gemacht. Und: worüber?
Ich starre geradeaus. Vor mir sitzt eine Frau. Auf jeden Fall nehme ich das an. Neben zwei blauen, mit Mascara getuschten Augen sind der Rest ihres Gesichtes und ihr ganzer Körper tief in ihrem fetten Kokon verschollen.
Was ich sehe: eine Frau in einem fetten Kokon. Was mein Gehirn damit verknüpft: „Feminismus“ und „no body-shaming“.
Ach, ne, nicht wieder diese Themen! Die sind ja überall, wo ich nur hinsehe! Heutzutage muss man immer ganz genau aufpassen, was man sagt oder bloss denkt. Wie das nervt! Ein falsches Wort, ein falscher Satz, eine falsche Andeutung – da wird man gleich zum Verbrecher gemacht. Wäre es denn so schlimm zu sagen, dass die Frau im Kokon fett aussieht? Denn in diesem Kokon sieht sie nun mal verdammt fett aus. Nur schon dieser Satz könnte einen epischen Shitstorm auslösen!
Darf ich in dieser Welt denn nicht mal mehr meine Meinung abgeben, bloss weil sie auf den ersten Blick nicht „positiv“ scheint? Aber natürlich wäre diese Anmerkung mehr als akzeptabel, sogar ein Lob, wären fette Kokons gerade im Trend. Sind sie aber nicht.
Weshalb ist etwas nur noch gerade dann okay, wenn man es feiern kann, aber gleich schon verboten, wenn es nur schon beleidigend rüberkommen könnte? Verboten, obwohl es stimmen könnte?
Okay, man soll natürlich mit sich im Reinen sein. Okay, dann ist man halt kein Model. Voll in Ordnung, muss ja auch gar nicht sein. Innere Werte und so. Und trotzdem rechnet man sich insgeheim aus, wie viele Minuten man im Fitnessstudio verbringen muss, um sich ein Stückchen Weihnachtskuchen zu verdienen. Oder zwei. Oder mehr.
Alle rennen dieser Scheissperfektion nach. Und warum? Wer will schon ein perfektes Leben führen? Niemand.
In einem perfekten Leben, da wäre jeder Tag der beste Tag. Doch der beste im Vergleich zu welchem? Wenn jeder Tag wie jeder andere verläuft, ist er sowohl der beste als auch der schlechteste. Das ist dann ungefähr genauso spannend wie ein durchschnittliches Leben. Das Leben beginnt ziemlich gut, läuft ziemlich gut und ziemlich gut stirbt man dann auch. Das würde dann doch ziemlich öde werden. Das will man nicht.
Das perfekte Leben ist nicht perfekt. Bei weitem nicht. Es ist kacklangweilig.
Keine Spannung. Keine Höhen. Keine Tiefen.
Ja, was ist denn noch so verlockend an einem doofen perfekten Leben???
Das Verlockende daran ist vergleichbar mit der Vorfreude auf Weihnachten. Die Vorstellung von Weihnachten ist immer besser als die eigentlichen Weihnachten selbst.
Es ist also nicht das perfekte Leben an sich, das uns Freude bereitet. Es ist die Vorstellung, ein solches führen zu können. Dass wir es zu leben versuchen können. Dass man immer besser und höher zielen, dass man sich steigern kann. Demzufolge ist ein perfektes Leben ein Leben mit seinen Höhen und Tiefen.
Der fette Kokon bewegt sich jetzt. Auch die anderen Kokons sind aus ihrer Winterstarre aufgewacht und bewegen sich nun langsam zur Tür. Bald ist Weihnachten. Es kommen immer mehr Kokons hinzu. Einer von diesen bin ich.
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Verantwortlich für die Betreuung der jungen Journalistinnen und Journalisten von „Jugend schreibt“ ist der Deutsch- und Englischlehrer Remo Federer ([email protected]).
Weitere Informationen zum Zürcher Realgymnasium Rämibühl unter www.rgzh.ch