Charles Lewinsky hat sich mit Goethes Leben und schriftstellerischem Leiden und mit der unterschätzen Rolle von Goethes Schwager Vulpius befasst. Und er hat sich so seine Gedanken über diese Beziehung gemacht.
Goethe hatte schlechte Laune. Und wir – als Publikum – haben einen Riesenspass beim Darüber-Lesen. Goethe war müde von seiner Reise durch die Schweiz und alles tat ihm weh nach der Kutschenfahrt. Auch mit dem Schreiben wollte es nicht so klappen, als er sich in Weimar wieder an die Arbeit machen musste. «Da steh' ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor! Heisse Magister, heisse Doktor gar …», klagte er, aber nichts half ihm aus dem Schlamassel. Denn eigentlich hatte Goethe den Auftrag, ein Geburtstagsgedicht zu schreiben, eines, das die feinen Damen bei Hofe in Weimar nicht nur aufsagen, sondern gleich noch aufführen sollten. Ein Graus für Goethe. Nur schon bei der Vorstellung fällt ihm rein gar nichts mehr ein. Hoffnungslos. Der Meister hat eine Schreibblockade …
Alles andere als eine Schreibblockade hatte dagegen Charles Lewinsky, als er sich diese Geschichte über den grossen Meister ausdachte und daraus den wunderbaren Roman «Rauch und Schall» entwickelte, der Goethe aus dem Dichter-Olymp auf den Boden der Realität zurückholt.
Grossschriftsteller gegen Kleinschriftsteller
Und nun sitzen wir im Zürcher Diogenes-Verlag in einem nüchternen Raum, der atmosphärisch so gar nichts von Dichter-Klause an sich hat. «Wie sind sie denn auf diese Geschichte über Goethe gestossen …?», frage ich gleich mal zum Einsteigen.
«Das ist eine Frage, die man nicht stellen kann», winkt Lewinsky ab. «Aber irgendwoher muss der Gedanke ja gekommen sein …», fasse ich vorsichtig noch mal nach. Aber Lewinsky bleibt dabei: «Das weiss man als Schriftsteller doch nicht!», und er setzt noch einen drauf: «Ich könnte eine schöne Legende erfinden …» Ja gern!
Wir bleiben dann aber doch bei den Tatsachen.
«Irgendwann kam mir in den Sinn, dass Goethe diesen Schwager hatte, den Christian August Vulpius, der auch Schriftsteller war. Und das ist doch eine lustige Konstellation! Michhat der Kontrast zwischen dem allgemein verehrten Grossschriftsteller Johann Wolfgang Goethe und dem allgemein verachteten Kleinschriftsteller Christian August Vulpius interessiert, da ja beide über Christiane verbunden sind.» Und Christiane, das war Goethes Frau. Lewinsky machte sich also an die Arbeit und erledigte – wie er es ausdrückt – «auch seine Hausaufgaben»: Er recherchierte über Goethes Leben um das Jahr 1799 herum. «Manchmal macht man da ganz unerwartete Funde, die man gut brauchen kann. So ist zum Beispiel die Geburtstagsfeier bei Hofe, für die Goethe ein Gedicht verfassen sollte, im ‘Journal des Luxus und der Moden’ detailliert beschrieben. Das ist so eine Art ‘G&G’ von damals und das habe ich natürlich verwendet. Trotzdem weiss ich bei Büchern nie zum Voraus, was es wird …»
Im Nachhinein dagegen kann man sagen: Ein höchst vergnügliches Buch ist es geworden und man erfährt so nebenbei doch einiges über Goethe. Dabei sieht sich Lewinsky in Sachen Goethe eher als Opfer des legendären Emil Staiger, der zu Lewinskys Studienzeiten Germanistik-Professor an der Uni Zürich war. «Er hat Goethe aufs Heiligen-Podest gestellt.» Dort hätte er für Lewinsky auch stehenbleiben können. Erst jetzt, rund fünfzig Jahre später, hat Lewinsky sich trotzdem noch für Goethe interessiert, und ihn schreibenderweise vom Heiligen-Podest heruntergeholt.
Wenn der Dichter nicht mehr schreiben kann …
Dafür dichtete Lewinsky Goethe – unter anderem – eine Schreibblockade an. Dem grossen Dichter fiel beim besten Willen nichts ein, um die höfische Geburtstagsfeier mit poetischen Reimen zu krönen. Ausgerechnet Schwager Vulpius anerbot sich, Goethe aus dem Schlamassel zu helfen und innert kürzester Zeit in dessen Namen ein passendes Gedicht zu schreiben. So weit, so gut – nur war Goethes Schreibblockade damit noch nicht behoben. Vulpius, über den Goethe schnöde die Nase zu rümpfen pflegte, wusste wieder Rat. Statt Hochgeistiges zu schreiben solle Goethe doch mal ganz Triviales zu Papier bringen, einfach locker drauflosschreiben. Eine Räubergeschichte oder so … Goethe folgte dem Rat. Er schrieb und schrieb und begeisterte sich immer mehr am Geschick des Räuberhauptmanns Rinaldini. Es lief wie am Schnürchen … und das Buch wurde unter dem Namen von Christian August Vulpius veröffentlicht. Allerdings muss betont werden, dass Goethes Autorschaft einzig der dichterischen Phantasie Lewinskys entsprungen ist. Vulpius war natürlich der echte Autor. Und: «Vulpius war ein Träumer, der gar nicht merkte, wie schlecht seine Bücher waren. Er war überzeugt, Literatur zu schreiben und keineswegs unzufrieden mit seiner Schreiberei», so Lewinsky. «Rinaldo Rinaldini», der Räuberroman, den Vulpius 1799 verfasst hatte, gilt immerhin als erfolgreichster Roman des 19. Jahrhunderts und wurde später sogar verfilmt und zusätzlich als mehrteilige Fernsehserie produziert. Charles Lewinsky hat versucht, den Roman zu lesen. «Aber ich habe es nicht geschafft … so ein Schrott! Aber damals hat es funktioniert. Es war wohl so etwas wie später die Arztromane. Jede Woche eine Fortsetzung. Der Vulpius von heute wäre wahrscheinlich ein erfolgreicher B-Soap-Schreiber. Aber es hätte ihn nicht interessiert, bei Suhrkamp verlegt zu werden, sondern er wollte jede Woche Geld bekommen. Und das ist legitim.»
Lewinsky kennt diese Situation aus seiner Zeit, als er beim Schweizer Fernsehen in die Anfangszeit der Sitcoms hineinrutschte. «Ich musste ja unendlich viele ‘Gebrauchstexte’ produzieren, die mich nicht wirklich interessiert haben», sagt er und meint damit Drehbücher für Fernsehserien wie «Fascht e Familie», die überaus vergnüglich und erfolgreich waren. «Wenn ich eine Wasserleitung installiere, darf sie ja auch nicht tropfen», meint er ganz prosaisch. «Sitcom ist eine rein handwerkliche Beschäftigung.» Der Erfolg der Sitcoms ermöglichte ihm dann aber auch, in Ruhe neu zu starten und andere Texte zu schreiben: Literatur. «Melnitz», «Gerron», «Johannistag», «Der Halbbart» zum Beispiel oder jetzt «Rauch und Schall».
Reisen im Kopf
Bei der Ortsbeschreibung im Buch erlaubt Lewinsky sich künstlerische Freiheit. Jahre zuvor sei er mal in Weimar gewesen, erzählt er, aber das sei in einem ganz anderen Zusammenhang gewesen. «Ich hatte ein Theaterstück geschrieben, das teilweise in Buchenwald spielt. Um Ort und Zeit – für mich – richtig nachvollziehen zu können, habe ich erst einen Rundgang in Weimar gemacht, auch Goethes Haus besichtigt und dann ein Taxi nach Buchenwald genommen, um den kulturellen Kontrast der beiden Orte zu erleben. Aber wenn ich am Schreiben bin, fahre ich eigentlich nie an den Ort der Geschichte. Das gibt nur falsche Bilder.» Ein typisches Beispiel dafür sei der Roman «Gerron» gewesen, der in Theresienstadt spielt. «Erst als das Buch schon fertig war, bin ich mit dem Schweizer Fernsehen nach Theresienstadt gefahren und habe die Kollegen durch das Konzentrationslager geführt, ohne dass ich je dort gewesen wäre. Aber ich hatte mich gründlich vorbereitet und wusste, was hinter der nächsten Ecke kommt. Das Theresienstadt von heute sieht ganz anders aus als jenes, das ich mir für das Buch vorstellen musste. Da konnte ich mir nicht das eine ansehen und das andere beschreiben. Da male ich es mir lieber im Kopf aus und gehe später hin und sehe nach, ob es stimmt. Ich reise im Kopf. Es kann dann sehr exakt sein. Es kann aber auch völlig falsch sein. Hauptsache: Es stimmt im Buch.»
Mit dem Lebensstil Goethes habe er sich noch weniger auseinandergesetzt, sagt Lewinsky. Sein Ziel sei es ja nicht gewesen, Goethes Leben exakt wiederzugeben. Ihm ging es darum, Goethes Lebensstil dem seines Schwagers Vulpius gegenüberzustellen. Also: Goethe hat Personal, Vulpius natürlich nicht. Goethe muss nicht vom Schreiben leben, weil er so viele Ämter hat und der Herzog ihn ohnehin unterstützt. Vulpius hingegen musste sehr wohl von seinem Schreiben leben. «Aber natürlich habe ich mich sehr genau mit den Einzelheiten des Jahres 1799 befasst, in dem die Geschichte spielt. Denn ich finde, ein gefundenes Detail kann mehr aussagen, als zehn Seiten exakte Beschreibung.» Und tatsächlich: Man hat beim Lesen den Eindruck, dass Lewinsky das ganze Ambiente des Goethe-Hauses auf sich hat wirken lassen beim Schreiben. Lewinsky lacht: «Jaja, es ist doch so, wie Goethe schon sagte: Wenn ich mich irre, merkt es jeder, wenn ich lüge, merkt es keiner …! Erfundene Beschreibungen wirken sehr überzeugend, da kann niemand sagen, aber in Wirklichkeit war es doch ganz anders …!»
Dichtung und Wahrheit
Bevor es in den Druck geht, wird ein Buch natürlich auch noch lektoriert. Stimmt alles? Rechtschreibung? Logik? Und auch jene Tupfer, die einem Roman Lokalkolorit geben? «Ja, da muss man als Autor manchmal Fragen beantworten. Da kommt zum Beispiel in meinem Roman das Wort ‘Ditsche’ vor … da war die Lektorin ratlos.» Souverän konnte Lewinsky Auskunft geben: So nennt man in Weimar den Guss auf einem Kuchen! Solche Trouvaillen findet Lewinsky bei dem, was er die Blauwal-Recherche nennt. «Der Blauwal ist ein Riesenvieh, das pflügt sich mit offenem Maul durchs Meer, lässt einen Hektoliter Wasser durchlaufen und ab und zu bleibt etwas hängen. So recherchiere ich mir meine Roman-Welt zusammen, indem ich alles, was mir über eine bestimmte Epoche in die Finger kommt, ansehe, aber ohne Notizen zu machen. Das eine oder andere Detail bleibt in meiner Erinnerung hängen und wird im Text verwendet.» Manches ist reine Phantasie.
Ein besonders pikantes Detail in Goethes Haus kann man freilich nicht erfinden, wenn man nicht weiss, dass es existiert. «Das ist die Geschichte vom kaputtgevögelten Bett … Die ist historisch! Immer wieder musste der Weimarer Schreiner das Bett reparieren …! Es gibt die Rechnungen noch.» Lewinsky freut sich total über diese Trouvaille. «Lucien Leitess, ein alter Freund vom Unionsverlag, hat mir die Geschichte erzählt, als wir uns einmal über Goethe unterhalten hatten.» Und Lewinsky war begeistert.
In einer Bibliothek hat er ein mehrbändiges Werk entdeckt: «Goethes Leben von Tag zu Tag». Darin hat Lewinsky natürlich auch gestöbert. «Ich habe mir das Jahr 1799 vorgenommen, in dem mein Buch spielt, und habe einen Eintrag entdeckt, dass Goethe für seinen Sohn August einen Kürbis schnitzte. Da dachte ich: Das ist wieder so ein ‘sprechendes Bild’, das verwende ich in meiner Geschichte. Mir selbst wäre doch nie ein kürbisschnitzender Goethe eingefallen!»
«Grundsätzlich geht es bei solchen Recherchen darum, vieles aus der Welt und der Epoche anzusehen und den Hinterkopf damit zu füllen. Nicht den Zettelkasten! Die wichtigen Gedanken fallen einem dann beim Schreiben wieder ein. Und was einem nicht mehr einfällt, ist nicht wichtig.»
Auch sprachlich scheint Lewinsky sich ein bisschen an die Goethezeit angelehnt zu haben. «Da muss ich jetzt ausholen … es gibt keine Lewinsky-Sprache. Jedes Buch hat eine andere Sprache. Bei Goethe habe ich mich orientiert an der Kanzleisprache. Das ist eine altmodische Sprache, ganz bewusst. Darum auch die vielen lateinischen Einschiebsel, weil man das damals so gemacht hat. Es ist eine bewusst künstlich gewählte Sprache. Es ist keine Imitation, denn das könnte man heute nicht mehr lesen. Es ist eine bewusste Entscheidung gewesen, in einer nicht altertümlichen, aber altertümelnden Sprache zu schreiben, wie man es damals hätte machen können.»
Schreibblockade
Nun hat Lewinsky Goethe ja auch eine Schreibblockade unterstellt. Schreibt er da aus eigener Erfahrung? Wie findet er aus einer Schreibblockade wieder heraus?
«Jeder hat einen anderen Weg, damit umzugehen. Meine Reaktion darauf ist: Arbeitsdisziplin. Ich arbeite genau gleich viele Stunden, ob es läuft oder nicht. Ich erlaube mir dann nicht, wegzugehen. Ich selbst habe noch nie so eine lange Blockade gehabt, wie ich sie jetzt dem Goethe zuteile, aber ich glaube, das kennt jeder Autor. Ich gehe dann jeweils Jäten. Das hilft. Man kann mit sich selber reden dabei. Ich glaube, meine Nachbarn halten mich alle für irre, aber da ich Autor bin, meinen sie das ohnehin.»
Die intensive Beschäftigung mit einer Person wie Goethe, dessen Namen alle kennen, auch ohne seine Werke gelesen zu haben, geht nicht spurlos an einem vorüber. Aber wie war denn Lewinskys Beziehung zu Goethe, bevor er sich auf ihn eingelassen hat, also von Schriftsteller zu Schriftsteller? «Goethe ist eine andere Welt», sagt Lewinsky, «und das ist nicht meine. Eigentlich habe ich gar keine Beziehung zu Goethe. Eine Zeitlang habe ich ihn überhaupt nicht gemocht, weil er so eine Zitatenschleuder ist. Dabei kann er ja wirklich nichts dafür! Beim ‘Faust’ hat man das Gefühl, es ist ein Zitatenlexikon als Drama. Dabei ist es genau umgekehrt …!»
Und hat sich Lewinskys Haltung gegenüber Goethe jetzt – nach dem Buch – geändert? «Sie ist eher negativ geworden. Nicht gegenüber dem literarischen Goethe, aber gegenüber dem Mensch Goethe. Ich glaube, mit zunehmendem Alter ist er immer eingebildeter geworden. Der Sturm-und-Drang-Goethe gefällt mir besser als der alte Goethe. Aber ein guter Künstler muss kein netter Mensch sein. Vielleicht ist eine gewisse egozentrische Haltung sogar notwendig.»
Charles Lewinsky: Rauch und Schall. 304 Seiten, Diogenes Verlag, Oktober 2023, 34 Franken