Das Signal in den Strassen von Yangon und Mandalay war unhörbar – und unüberhörbar. Eine Woche nachdem die National League for Democracy (NLD) von Aung San Suu Kyi die Wahlen gewonnen hatte, war in den beiden Millionenstädten Myanmars nur Stille zu registrieren. Selbst als vierzehn Tage später die endgültigen Resultate verkündet wurden, gab es keine Hupkonzerte, keine wehenden Parteifahnen und Siegesparaden. Selbst die University Road 54, 27 Jahre lang Heimstatt und Haftort Suu Kyis, war so leer wie wohl selten in dieser langen Zeit.
Disziplin der Siegerpartei
Die landesweite Disziplin von Suu Kyis Anhängern – beinahe 80 Prozent der Wähler hatten für die NLD gestimmt – beweist das Ausmass ihrer Popularität. Und ihrer Autorität: Die Lady hatte, statt Siegestaumel zu verbreiten, ernst und eindringlich vor lauten Siegesfeiern gewarnt. Die Militärregierung sei noch weitere vier Monate im Amt, bevor am 1. April 2016 das neue Parlament zusammentritt und den Präsidenten wählt. Demonstrationen könnten als Vorwand zum Einschreiten dienen. Sie würden der Demokratiebewegung die Frucht entreissen, die sie nach 25 Jahren endlich pflücken will.
Suu Kyi ging mit dem Beispiel voran. Kaum waren die Resultate verkündet, erlosch ihr Siegeslächeln, und sie kehrte zu ihrem Gesichtsausdruck von Strenge und Trauer zurück, eigentümlich konterkariert durch die Blume in ihrem Haar. Sie weiss wohl, dass beides die Befindlichkeit ihres Volks spiegelt.
Ohnehin ist die Zeit vorbei, als die Leute in ihr noch die Tochter ihres Vaters, des Nationalhelden Aung San, erkannten. Seit sie 2010 aus dem Hausarrest entlassen wurde, erhielt sie rasch den Namen «The Lady», die souverän und herrschaftsbewusst über ihre Partei verfügte, Disziplin durchsetzte, eigenwillige Parteigänger fallen liess und eigenhändig die Parteistrategie bestimmte.
Überwältigender Wahlsieg
In dieser Bezeichnung hallt die «Iron Lady» nach, der Ehrentitel, der Margaret Thatcher von der britischen Geschäftselite verliehen wurde. Im Gegensatz dazu kommt die Bewunderung für die Lady vom Volk. Die Wirtschaft, darunter auch westliche Firmen, rümpft die Nase über ihren «autokratischen Stil», wie sich ein deutscher Expat in Yangon ausdrückte. Die internationale Geschäftswelt hat ihr nicht verziehen, dass sie die Sanktionen gegen das Militärregime so resolut begrüsst hatte. Sie sei eine Primadonna, so zitierte die Londoner «Financial Times» die Stimmung, und nicht eine First Lady.
Das ficht Daw Suu (Frau Suu) nicht an. Warum sollte es auch, haben die Wahlen doch gezeigt, dass ihr Charisma noch grösser ist, als ihre politischen Gegner befürchtet und ihre Parteigänger erhofft hatten. Die NLD gewann 285 von 323 verfügbaren Sitzen im Unterhaus, 135 von 168 im Oberhaus. Sie gewann in zwölf der vierzehn Provinzen die Mehrheit der Legislatursitze, sogar in fünf der sieben Stammes-Staaten. Nur in Rakhine (sprich: Rakhein) gewann eine nationalistische Regionalpartei, und in Shan gewann die Regierungspartei USDP eine relative Mehrheit. Die rassistische Mönchspartei MaBaTa ging praktisch leer aus.
25 Jahre nachdem die NLD die letzte glaubwürdige Wahl gewonnen hatte, konnte sie noch einmal zusetzen, obwohl Jahrzehnte systematischer Schwächung dazwischen lagen. Der Staatsapparat hatte alles versucht, diese Frau zur Unperson zu machen, vom Hausarrest bis zum Parteiverbot, von obszönen Karikaturen und Hetzkampagnen bis zu Attentatsplänen. Dass nach einem solchen Sieg dennoch kein Triumphgeheul losbrach, hängt auch mit der Furcht zusammen, dass das Resultat im Establishment Panikreaktionen auslösen könnte.
Machtkampf mit den Militärs
Allerdings besteht kein Anlass zu Panik, denn für den demokratischen Ernstfall hat die Verfassung bereits Handschellen vorgesehen. Die 80 Prozent NLD-Mandate werden auf 60 Prozent schrumpfen, da die Militärs 25 Prozent zusätzliche Sitze für sich reserviert haben. Innen- und Verteidigungs-Ministerium unterstehen dem Armeechef, ebenso wie jenes für «Grenzangelegenheiten», (quasi das Aussenministerium, denn neben China und Indien fallen auch die ASEAN-Staaten darunter). Und die wichtigste Trumpfkarte der Militärs: Suu Kyi darf nicht Präsidentin werden, weil sie einen Ausländer geheiratet hatte.
In einem gewagten Ausfallschritt hat sich Daw Suu darüber hinweggesetzt, als sie erklärte, sie werde über dem Präsidenten stehen. Die Gegner aus den städtischen Eliten sehen darin den Beweis, dass sich hinter dem feinen Gesicht ein autokratischer Machtmensch verbirgt. Sie sei eben die Tochter eines Generals, der zwar Demokratie gewollt hatte, aber sie mit militärischer Disziplin hatte durchsetzen wollen, erklärte mir ein Deutscher, der seit vielen Jahren in Yangon lebt.
Ist Daw Suus Vater Aung San, dessen militärisches Konterfei immer noch das Eingangstor ihres Anwesens schmückt, also weiterhin das Leitbild der künftigen Prima Donna? Der Expat mokierte sich über den Westen, der die Frau zu einem Opferlamm und einer Feenkönigin gemacht habe, ähnlich wie er in Myanmar immer noch ein buddhistisches Shangri-La wahrnähme.
Mehr Rachegöttin als gute Fee
In einem gewissen Sinn hatte er sicher recht, denn The Lady hat trotz ihrer zarten Figur nichts von einer Märchenprinzessin. Aber es ist die jahrzehntelange Hexenjagd, die ihr die Härte ins Gesicht getrieben hat. Als sie vergangenen Mittwoch zum ersten Mal vom Präsidenten und vom Armeechef empfangen wurde, trug sie wiederum eine wunderschöne Blume im Haar. Aber ansonsten drückte ihr Auftritt nichts durch die Blume aus: Ihr Schritt war nicht tippelnd, sondern trotz knöchellangem Hüfttuch fest und ausladend, und ihr inzwischen zerfurchtes Gesicht erinnerte mehr an eine Rachegöttin als an eine gute Fee.
Wenn man fast dreissig Jahre Militärherrschaft überleben will – für die man notabene die Hauptzielscheibe darstellt – muss man, um zu überleben, Härte entwickeln. Die sanfte Taube der Friedensnobelpreisträgerin musste sich auch die Schlauheit der Schlange aneignen. Das beweist nicht nur die Disziplin, die sie ihren Anhängern nach dem Wahlsieg auferlegte. Es zeigte sich auch in der Härte, mit der sie die muslimische Minderheit der Rohingyas ausgrenzte, als das Regime diesen neben dem Bürgerrecht auch das Wahlrecht aberkannte.
Taktik vor Prinzipientreue
Statt zu protestieren, folgte die NLD dem Diktat der Regierung und zog ihre Rohingya-Kandidaten zurück. Es muss ein schwerer Schritt für Suu Kyi gewesen sein. Denn sie wusste, dass sie damit ihre grosse Anhängerschaft im Westen vor den Kopf stossen würde. Warum tat sie es dennoch? Weil sie darin, so die Meinung eines NLD-Wählers, eine Falle der Militärs sah. Diese kennen die Virulenz der ausländerfeindlichen Stimmung im breiten Volk, für die die lokale muslimische Minderheit der Sündenbock ist. Ein offener Standortbezug für Menschen- und Minderheitsrechte hätte sie Millionen von Stimmen gekostet. Der Wähler: «Das Ziel des Siegs der Demokratie über die Generäle war wichtiger.»
War es früher der Archetyp der Märtyrerin, den das Volk in ihr sah, so ist es jetzt jener der kompromisslosen Kämpferin. Dies verbindet Suu Kyi nicht nur mit ihrem Vater. Offenbar gehen gerade die einfachen Leute hinter diese biografische Referenz zurück und binden sie in den Mythos der burmesischen Monarchie ein. Verschiedentlich hörten wir, Daw Suu sei Supalaya, eine Reinkarnation der letzten Königin Burmas. Diese war 1885 mit ihrem Gatten Thebaw von den siegreichen Kolonialherren ins indische Exil verbannt worden. Aber zuvor hatte sie ihrem Mann den Thron gesichert, indem sie mehrere Dutzend seiner Brüder und Halbbrüder ermorden liess.