Die Europäische Union (EU) steckt in einer akuten Schulden- und Finanzkrise, die seit mehr als zwei Jahren ohne durchschlagenden Erfolg, aber mit viel Geld bekämpft wird, meist undemokratisch und bürgerfern, geführt von Deutschland und Frankreich. Die Notenpresse der Europäischen Zentralbank soll die Märkte beruhigen. Damit künftig ein ähnliches Debakel vermieden werden kann, hat der EU-Gipfel (ohne Grossbritannien) am 9. Dezember 2011 eine Zentralisierung der Geld- und Wirtschaftspolitik beschlossen. Frau Merkel sieht bereits „die Konturen einer politischen Union“. Die kleineren und mittleren EU-Länder haben zu all dem kaum etwas zu sagen, die an den Pranger gestellten Schuldenländer schon gar nicht. Die Regierungschefs Italiens und Griechenlands wurden durch ehemalige Brüsseler Technokraten ersetzt; die Bevölkerung der Geber- und Nehmerländer darf zusehen und applaudieren, keinesfalls aber konsultiert werden; denn das Ergebnis würde kaum dem Wunsch der Regierenden entsprechen.
Die akuten Finanz- und Wirtschaftprobleme überlagert und verstärkt eine praktisch seit Beginn des europäischen Einigungsprozesses schwelende strukturelle Krise. Diese äussert sich in einem eklatanten Demokratiedefizit auf allen Stufen und bei zahlreichen Entscheiden, in einer immer weiter gehenden Zentralisierung der Macht in Brüssel und in einer stetig tiefer werdenden Kluft zwischen frustrierten EU-Bürgern und abgehobenen EU-Eliten.
Aus Schweizer Sicht wenig demokratisch geregelt sind beispielsweise die Wahl der EU-Kommission und die EU-Gesetzgebung im EU-Parlament und im Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs. Von einer Missachtung (wenn nicht gar Verachtung) des Volkswillens zeugt die Umgehung von Volksabstimmungsentscheiden (z.B. in Frankreich, Irland und Dänemark), wenn diese den Regierenden nicht in den Kram passten. Auch die Wahl der Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung (Europäischer Konvent, 2002) und die Durchpeitschung der hastig zum Lissaboner-Vertrag umgetauften EU-Verfassung verliefen trickreich und alles andere als demokratisch. In der EU regieret nicht das Volk, sondern „Brüssel“, das v.a. an einer weiteren Stärkung seiner Macht interessiert scheint, nicht aber an einer Dezentralisierung und Demokratisierung.
Die Schweiz, ein Modell für Europa?
Die Schweizerische Eidgenossenschaft von 1848 entwickelte sich aus dem lockeren Staatenbund der Alten Eidgenossenschaft im Verlauf eines halben Jahrhunderts heftiger Wirren und Krisen. Drei verschiedene Staatsformen mit jeweils total unterschiedlichen Verfassungen scheiterten nacheinander: die Helvetische Republik entstand 1798 nach der Besetzung des Landes durch die Franzosen; doch wurde dieser von Frankreich inspirierte Zentralstaat schon 1803 nach einem kurzen Bürgerkrieg durch Vermittlung bzw. Diktat Napoleons vom Staatenbund der Mediationszeit abgelöst. Kaum war Napoleon besiegt, kam 1814 mit der Restauration der Schritt zurück zum alten lockeren Staatenbund (mit Tagsatzung und kantonaler Wehr-, Münz- und Zollhoheit). Erst nach dem Sonderbundkrieg von 1847, einem konfessionellen Bürgerkrieg, dem letzten bewaffneten Konflikt auf Schweizer Territorium, konnte der jetzige Bundesstaat gegründet werden.
Auch die heutige schweizerische Direktdemokratie hat immer noch viele Schwächen: sie ist in der Regel langsam; es gibt soziale Ungerechtigkeiten; der Umweltschutz hat Verbesserungspotential, und vielleicht am schlimmsten: die Schweizer neigen dazu, ihre Staatsform für die beste auf der Welt zu halten und zu meinen, die Welt wäre gerettet, wenn nur alle Länder dem Schweizer Beispiel folgten. Obwohl die Schweiz mitten in Europa liegt und mit diesem Europa mehr Gemeinsamkeiten besitzt als mit allen andern Ländern der Welt, kann es keinesfalls darum gehen, allen europäischen Ländern das Schweizer Modell aufzuzwingen; denn Europa lebt – wie die Schweiz - vom Reichtum seiner vielfältigen Kulturen, Sprachen, Staats- und Regierungsformen. Diesen Reichtum sollte die EU erhalten und stärken. Die direkte Demokratie muss kein Land einführen, aber die Schweiz soll sie behalten dürfen; Frankreich kann weiterhin zentralistisch, Deutschland föderalistisch, Grossbritannien britisch, Italien italienisch regiert werden, aber die EU müsste bürgernäher, föderalistischer und demokratischer werden.
Der aufgeklärte Bürger des 21. Jahrhunderts entscheidet selbst
Die Schweiz demonstriert mitten in Europa, wie sich verschiedene Kulturen, Sprachen und Religionen zusammenfinden zu einem der politisch stabilsten, wirtschaftlich und gesellschaftlich erfolgreichsten Staaten der Welt. Sie verdankt dies nicht zuletzt ihrer Staatsform „von unten nach oben“. Den letzten Entscheid hat in allen wesentlichen Fragen nicht ein mächtiger Staatschef, nicht die Regierung, nicht das Parlament, nicht „Bern“, sondern der Bürger. Der Staat dient dem Bürger – und nicht umgekehrt. Der Bürger misstraut der staatlichen Macht; er kontrolliert und verteilt sie auf eine Vielzahl von Trägern in Gemeinden, Kantonen und beim Bund. Auf die direkte Demokratie, den Föderalismus, den Schutz der Minderheiten, die liberale Wirtschaftsordnung und die (nur der Verteidigung dienende) bewaffnete Neutralität kann die Schweiz wohl auch in Zukunft nicht verzichten, egal wie sich Europa und die Welt weiter entwickeln; denn diese Errungenschaften sind das Resultat langer, schmerzlicher Erfahrungen.
Als Mitglied der heutigen EU müsste die Schweiz auf einen grossen Teil nicht nur ihrer politischen, sondern auch ihrer wirtschaftlichen Autonomie verzichten (v.a. direkte Demokratie, Steuerhoheit). Der oberste Souverän, das Volk, würde weitgehend entmachtet, die wichtigsten Entscheide würden nach Brüssel delegiert. Das viel gerühmte Mitspracherecht der Schweiz in der EU könnte diesen Souveränitätsverlust nicht kompensieren: Mit 1,5% der EU-Bevölkerung, mit 15-16 von insgesamt 736 (max. 750) Parlamentsmitgliedern und mit einem unter (bald einmal) 30 Kommissaren in der EU-Kommission bzw. einem von 30 Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat hätte die Schweiz einen sehr schweren Stand und würde aufgrund der bisherigen Erfahrungen kaum Mehrheiten für ihre föderalistischen, dezentralen und liberalen Lösungen finden. Im Europäischen Rat müsste sich unser (jedes Jahr wechselnder) Bundespräsident mit in der heutigen EU derart unbeliebten Anliegen gegen Leute wie Merkel oder Sarkozy durchsetzen. Falls gar die von “Brüssel“ manchmal geäusserten EU-Grossmachtträume Wirklichkeit würden, hätte die Schweiz als Mitgliedsland wohl auch Probleme mit ihrer Neutralität.
Eine neue EU-Verfassung: direkte Demokratie, Föderalismus, Subsidiarität
Die Jahrhunderte langen Erfahrungen der Schweiz als „kleines Europa mitten in Europa“ zeigen, dass eine immer weiter gehende Zentralisierung einer EU mit bald 30 Staaten und 25 verschiedenen Sprachen und Kulturen unter Missachtung des Volkswillens auf die Dauer zum Scheitern verurteilt ist. Tragfähig ist nur eine föderalistische, bürgernahe, dezentralisierte Union (mit einer entsprechenden Verfassung, s. Kasten). Den einzelnen Ländern müssten möglichst viele Kompetenzen verbleiben (noch deutlich mehr als heute den Kantonen in der Schweiz); nach Brüssel wäre nur zu delegieren, was die Mitgliedsländer nicht ebenso gut selber regeln können; die Bürger müssten in den Entscheidungsprozess nicht nur einbezogen werden, sondern in allen wesentlichen Fragen das letzte Wort haben. Das heisst aber nicht, dass in der neuen EU dauernd Volksabstimmungen stattfänden; denn die Zusammenarbeit auf EU-Ebene wäre weniger breit und tief als in der heutigen EU und in der heutigen Schweiz.
In der neuen EU hätte jedes Land deutlich mehr Rechte und Einfluss als heute und auch als die Kantone in der Schweiz. Von aussen- und sicherheitspolitischen Entscheiden könnte sich jedes Land distanzieren. In gesamteuropäischen Abstimmungen bräuchte es neben dem Volksmehr auch die Mehrheit der Stimmenden in mindestens der Hälfte aller Mitgliedsländer bei Gesetzesänderungen, bei Verfassungsänderungen sogar in mindestens zwei Dritteln der Mitgliedsländer. Das Zweikammersystem gäbe den kleinen Ländern im Parlament eine relative Übervertretung. Schliesslich hätte jedes Land – ob gross oder klein - je einen Vertreter in der neuen EU-Regierung und eine ähnlich starke Vertretung im EU-Gericht.
Die Machtkonzentration in Brüssel würde nicht nur eingeschränkt durch die direkte Demokratie, die Rückdelegation zahlreicher heute bestehender EU-Kompetenzen an die Mitgliedsländer, die strikte Einhaltung der Grundsätze von Subsidiarität und Föderalismus, sondern auch durch eine schlanke Verwaltung, gekürzte finanzielle Mittel und eine durchgehende Gewaltentrennung und -begrenzung. Die Union hätte keine eigenen Steuerkompetenzen; sie würde allein durch Beiträge der Mitgliedsländer finanziert. Sie würde ihre Gesetze nicht selbst umsetzen, das wäre Sache der Mitgliedsländer. Der Ministerpräsident könnte maximal vier Jahre lang regieren.
Wie weiter: Zentralisation von oben oder Umbau von unten?
Die EU-Eliten wollen die Union auf dem bisherigen Pfad der Zentralisation weiter vorantreiben. Jede Krise bietet ihnen die Gelegenheit für einen neuen Zentralisierungsschub unter Missachtung des Bevölkerungswillens und demokratischer Grundrechte. Alle politischen Organe der EU, speziell die Kommission und die Brüsseler Verwaltung, die meisten Staats- und Regierungschefs (und damit der Europäische Rat) und das EU-Parlament ziehen in diese Richtung.
Die Gelegenheit für einen Umbau zeigt sich jetzt: die Krise ist auch eine Chance. Die anstehende Schulden- und Finanzprobleme lassen sich ohnehin nicht ohne eine Änderung der EU-Verträge dauerhaft lösen. Dies ist ein langer, mühsamer Prozess. Statt für eine immer weiter gehende Delegation von Kompetenzen nach Brüssel – in der Wirtschafts- und Fiskalpolitik bereits beschlossen – sollte dieser Prozess genutzt werden zur Bildung einer neuen, demokratischen, föderalistischen, bürgernahen EU aufgrund einer neuen Verfassung, die den Menschen ins Zentrum stellt und die auch jeder Bürger versteht.
Die immer offensichtlicher werdenden Probleme, die zunehmenden Spannungen innerhalb der Union und der wachsende Verlust ihrer Glaubwürdigkeit könnten zu einer Umbesinnung in der EU zwingen. Wenn die deutschen Steuerzahler nicht mehr gewillt sind, immer wieder Hunderte von Milliarden Euro für die Schulden Griechenlands zu zahlen, ohne etwas dazu sagen zu dürfen, wenn die Slowaken und Finnen mit ihren Vorbehalten zu weiteren Transferzahlungen in andere Länder Nachahmer finden, wenn sich neben Grossbritannien auch andere Staaten distanzieren von einer EU-Wirtschaftsregierung, wenn die Griechen, Italiener, Spanier, Portugiesen und Iren die Nase voll haben von der „Bevormundung“ durch die EU bzw. durch Deutschland und Frankreich, wenn die Bürger in allen Ländern Europas im 21. Jahrhundert – d.h. 250 Jahre nach der Aufklärung - endlich selber mündig werden und ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen und selber entscheiden wollen, und wenn sie dies auch immer deutlicher und breiter zum Ausdruck bringen, dann könnten vielleicht sogar EU-Politiker zur Einsicht gelangen, dass die europäische Zusammenarbeit so wie bisher nicht weiter gehen kann.
Eine Neubesinnung erfordert zwar nicht unbedingt einen Aufstand der Massen, eine Revolution wie in den arabischen Staaten, hoffentlich auch nicht ein halbes Jahrhundert mit Bürgerkriegen und mehreren gescheiterten Staats-Experimenten wie in der Schweiz vor 200 Jahren, sicher jedoch einen breiten, unmissverständlichen Druck „von unten“. Vielleicht könnte das neue EU-Initiativrecht den Bürgern das Instrument in die Hand geben, um eine Verfassung für eine bürgernahe Union auf den Grundsätzen von Föderalismus, Subsidiarität, Marktwirtschaft und direkter Demokratie zu fordern. Auch wenn ein derartiger Umbau der Union rein rechtlich durch das bestehende EU-Initiativrecht nicht abgedeckt ist, könnte eine von mindestens einer Million EU-Bürgern unterzeichnete Volksinitiative politisch wohl nicht einfach übergangen werden und den erforderlichen Anstoss „von unten“ für ein neues Europa geben.
Die Verfassungsgebung, Nagelprobe für die Demokratie
Die Verfassung müsste bereits nach ihren eigenen Kriterien erarbeitet und in Kraft gesetzt werden (s. Kasten) – also völlig anders als 2004 beim ersten elitären Anlauf zur Schaffung des Vertrags der EU über eine Verfassung für Europa. Die Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung wären (wie danach die Mitglieder des EU-Parlaments) in jedem EU-Land vom Volk zu wählen. Dabei könnten auch Beitrittskandidatenländer, welche die Grundbedingungen (Demokratie, Menschenrechte) für eine Mitgliedschaft in der neuen Union erfüllen, einbezogen werden. Die Verfassung wäre sodann in jedem Land dem Volk zu unterbreiten. Nur jene Länder würden Mitglieder der neuen EU, in welchen sich die Mehrheit des Volkes (allenfalls in der Schweiz von Volk und Ständen) für die neue Verfassung aussprechen; den ablehnenden Ländern wäre zumindest ein Freihandelsabkommen anzubieten. In der anschliessenden Gesetzgebung müssten die Verfassungsgrundsätze konkretisiert, das bestehende EU-Recht entrümpelt und das EU-Subventionswesen entschlackt werden, v.a. auch in der Landwirtschaft.
Natürlich müsste auch der Euro auf eine solide ökonomische und demokratisch legitimierte Basis gestellt und mit einem Finanzausgleich unter den Euro-willigen Ländern verknüpft werden. Das Euro-Paket wäre in allen bisherigen und den allenfalls neu interessierten Euro-Ländern dem Volk zu unterbreiten. Nur die zustimmenden Länder würden Mitglieder des neuen Euro-Raums (d.h. wie bisher eine EU der „variablen Geometrie“).
Sollen in der EU weiterhin die Eliten oder die mündigen Bürger entscheiden? Des EU-Bürgers Chance einer EU-Perestroika bietet sich jetzt. „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“ – sagte 1989 Michail Gorbatschow unmittelbar vor dem Zerfall der Sowjetunion.
Verfassungs-Grundsätze einer neuen EU basierend auf der Schweizerischen Bundesverfassung und dem Vertrag der EU von 2004 über eine Verfassung für Europa*)
• Direkte Demokratie: das letzte Wort hat das Volk (Verfassungsinitiative, Gesetzesreferendum mit qualifizierten Mehrheitsentscheiden)
• Föderalismus: was die Länder selber bestimmen können, bestimmen sie, nicht die EU!
• Subsidiarität: nur das absolut Notwendige regulieren! Keine EU-Steuerbefugnisse!
• Gewaltenlimitierung: Parlament (2 Kammern) und Regierung (1 Vertreter pro Land) vom Volk direkt gewählt; Regierungspräsident auf 4 Jahre, nicht wieder wählbar
• Wirtschafts-, Energie-, Verkehrs-, Umwelt-, Gesundheitspolitik:
o Gemeinsamer Markt, auf Gesetzesebene geregelt: Wettbewerb, Kostenwahrheit
o Euro-Länder: Vertrag mit gemeinsamer Fiskalpolitik, Volksabstimmungen
• Aussen und Sicherheitspolitik
o Grundsätzlich national
o Jedes Land kann sich von gemeinsame Beschlüssen dispensieren (variable Geometrie, Volksabstimmungen)
*) Die Verfassung lässt sich in 21 Artikeln auf 5 Seiten formulieren und in weiteren 3 Seiten allgemein verständlich kommentieren ([email protected]). Demgegenüber umfasst der Vertrag von Lissabon der EU vom 1.12.2009 (im Amtsblatt der EU) 146 Seiten, mit den zugehörigen Protokollen 230 Seiten. Das Werk ist für Laien (d.h. Normalbürger) v.a. wegen seiner unzähligen Verweise auf andere EU-Rechtsakte nur sehr schwer verständlich und für eine Volksabstimmung denkbar ungeeignet.
EU-Perestroika: Der demokratische Weg in eine neue EU
2013 1 Mio. Unterschriften: Volks-Initiative für eine neue EU-Verfassung: Verfassungs-Grundsätze und -Umsetzung mittels 4 Volksabstimmungen in den EU- und Beitrittskandidaten-Ländern
2014 1. Volksabstimmung über die Verfassungsinitiative (+Volksabstimmung über den Euro-Vertrag in den Euro(Beitritts-)Ländern)
2015 2. Volksabstimmung: Wahl der Verfassung gebenden Versammlung
2016 3. Volksabstimmung über die neue EU-Verfassung
2017 4. Volksabstimmung: Wahl der EU-Regierung und des EU-Parlaments
ab 2017 Gesetzgebung / selektive Übernahme des bestehenden EU-Rechts Umbau der EU-Verwaltung und -Institutionen