In den höheren Lagen der Alpen erschwert der Neuschnee die Zustiege und noch mehr die nordseitigen Abstiege. An Wänden und Graten bilden sich Eisplatten. Das ist dann nur noch etwas für die „Extremen“, die sommers wie winters ihre kombinierten Touren gehen.
Doch im Jura wird auch im Winter viel geklettert. An sonnigen Novembertagen konnte man an windgeschützten Jura-Fluen schon Seilschaften sehen, die mit der kurzen Hose unterwegs waren.
Der Jura-Kalk ist ein wunderbares Material. Er kann scharfkantig, rau und spröde sein, aber auch glatt geschliffene Skulpturen aufweisen, wie vom Bildhauer geformt. Enstanden ist dieses Gestein vor vielen Millionen Jahren aus den Schlammablagerungen des Jura-Meeres. Abdrücke von Muscheln und Seepferdchen sind zu sehen, sogar versteinerte Fussstapfen von Dinosauriern wurden gefunden. In manchen Wänden nisten Wanderfalken, und auf den Felsköpfen haben sich seit der letzten Eiszeit Pflanzen halten können, die andernorts ausgestorben sind.
In vielen Gebieten herrscht daher in der Brutzeit der Vögel ein Kletterverbot, die Felsköpfe dürfen nicht betreten werden. In langen und bisweilen erbitterten Diskussionen haben sich Kletterer, Naturschützer, Umweltbehörden und Gemeinden auf derartige Regelungen geeinigt.
El Dorado für Clean Climbing
Kalkstein ist - im Gegensatz zum Granit - relativ weich, Wasser und andere Erosionsfaktoren haben leichtes Spiel. An vielen Stellen wurde die Kalksteinschicht aufgebrochen und darunter liegende Ton- und Mergelschichten weggewaschen. Stehen geblieben sind bizarre Türme, Sockel, Felsbrücken und Grate, - Traumlandschaften, die selbst die Phantasien von Fantasy-Autoren übertreffen.
Die Risse und Löcher des Kalksteins sind es, die den Kletterfans Freude machen. Vor allem denjenigen, die der Kletterschule des Clean Climbing anhängen. Die Clean Climbers verzichten auf Bohrhaken und Kompressor, sie benutzen nur mobiles Sicherungsgerät wie Bandschlingen, Klemmkeile und Hightech-Klemmgerät, um sich Haltepunke am Fels zu verschaffen. Das Prinzip lautet: Klettern ohne Spuren zu hinterlassen.
Die Ethik des Clean Climbing heisst Unversehrtheit der Kletterfelsen. Der Mensch soll sie so verlassen, wie er sie vorgefunden hat: ohne Verbauungen aus Metall oder anderem Material. Die Tradition stammt aus dem Elbsandsteingebirge, wo noch heute weitgehend ohne fixe Bohrhaken geklettert wird. Auch in in den USA und in England gab und gibt es derartige Klettertraditionen.
Plaisirklettern als Massensport.
In der Schweiz war seit seit den neunziger Jahren die gegenteilige Entwicklung zu beobachten. Der Bergführer Jürg von Känel (1951-2005) prägte den Begriff des Plaisir-Kletterns. Er eröffnete, skizzierte und katalogisierte Tausende von Kletterrouten, die er oft selbst mit Bohrhaken einrichtete. Die handlichen Kletterbücher der Plaisir-Reihe finden sich heute fast in jedem Kletterrucksack. Die einzementierten Haken verminderten das Unfall-Risiko und hatten einen Kletter-Boom zur Folge, der bis heute andauert. Die Sportartikel-Industrie hat zu einem frühen Zeitpunkt die Möglichkeiten dieses Marktsegmentes erkannt. Sportklettern ist zu einer Massenbewegung geworden, befeuert von der gigantischen Werbemaschinerie der Outdoor-Branche. Allein im Basler Jura gibt es heute sicher mehr als 2000 eingebohrte Kletterrouten.
Die Clean-Climbing-Bewegung in der Schweiz enstand als Reaktion gegen das Überhandnehmen von Verbohrungen und Klettersteigen. Es war die internationale Alpenschutzorganisation Mountain Wilderness, die sich bereits in den neunziger Jahren fürs Clean Climbing stark machte und gegen den Umbau der Alpen zum Funpark und zur Sportarena kämpfte. Unter dem Motto „keep wild“ schlägt sie vor, die wenigen noch verbleibenden unverbauten Felslandschaften in natürlichem Zustand zu belassen. Daniel Silbernagel, Bergführer und Mitglied von Mountain Wilderness, hat 2006 zusammen mit Christoph Blum den ersten Clean-Climbing-Kletterführer der Schweiz publiziert. 2011 folgte der Kletterführer „Jura keep wild! climbs“.
Sanduhren und andere natürliche Sicherungen
Wo die Erosion im Kalkstein einen Henkel wie an einem Wasserkrug ausgeformt hat, sprechen die Kletterer von einer Sanduhr: Sie eignet sich wunderbar, um eine Sicherungs-Schlinge durchzuziehen. In Kalklöchern, Rissen und Spalten legen die Clean Climber ihre mobilen Sicherungsgeräte, die Camalots und Friends. Und an anderen Stellen wächst eine Kiefer aus dem Kalkstein und bietet einen soliden Halt für einen Standplatz oder eine Zwischensicherung.
Denn der Kalk wird geliebt von den Föhren. Wer an einem warmen Sommernachmittag im Jurakalk geklettert ist, der vergisst nicht das Zirpen der Grillen und das Aroma der Kiefernadeln - ein starker und euphorisierender Cocktail. Hoch oben auf einem Felsturm oder einem Kalksteingrat : Es ist immer von neuem das berauschende Gefühl, man hinge im Mastkorb einer Fregatte, die im warmen Jurawind segelt.
„Abgespeckter“ Kalk
Der Kalkstein kann auch glatte Platten aufweisen, so glatt, dass es einen - je nach Kletterniveau - zum leisen Fluchen oder lauten Verzweifeln bringt. Da ist dann manchmal Schluss mit Clean Climbing, und man-frau freut sich über Routen mit eingebohrten Haken, die einen eventuellen Seilsturz auffangen.
Natürlich ist die Weichheit des Kalks auch ein Nachteil. Denn vom Schweiss der Finger und vom Gummi der Kletterschuhe wird der Kalk im Laufe der Zeit spiegelglatt und „abgespeckt“, wie es im Climber-Jargon heisst. Und dies eben immer dort, wo es an schwierigen Stellen nur einen einzigen günstigen Griff oder Tritt gibt, den schon Hunderte vorher benutzt haben.
An andern Stellen sind die tiefen Furchen, die das herablaufende Wasser über Jahrtausende in die Kalkplatten geschnitten hat, ein willkommener Halt, wo die Gummispitzen der Kletterfinken auch an fast senkrechten Wänden noch kleben bleiben. Aber auch das hat seinen Preis: An einen längeren Aufstieg im Wasserrillen-Kalk erinnern sich die blau-grün lädierten Füsse noch lange.
Uralte Kulturlandschaften
Man fragt sich oft, was die Landschaften des Jura-Bogens an sich haben, dass sie auf zahllose Kletterer, Wanderer, Kajakfahrer, Angler und andere Touristen eine solche Faszination ausüben. Ein Grund von vielen mag sein, dass man den Jura als „romantisch“ empfinden kann. Romantisch im Sinne eines ästhetischen Kanons von traditionellen Landschaftsbildern, die wir in uns tragen und die unsere Vorstellung von Romantik geprägt haben. Jeder bizarre Jura-Felsturm findet sich irgendwo wieder in der Landschaftsmalerei des 18. und 19. Jahrhunderts, und mancher Kalkstein-Abbruch erinnert an die Kreidefelsen eines Caspar David Friedrich.
Der Jura lockt und umwirbt uns mit seiner Nähe, seiner Milde und Freundlichkeit. Auch wenn es im Winter Kältewannen gibt wie die Vallée de la Brévine, die Jura-Höhen sind nicht die Hochalpen, es sind keine Matterhörner in Eis und Schnee, keine unnahbaren Giganten irgendwo weit weg da oben über der Baumgrenze. Die Jurafelsen sind hellgraue Fluenbänder, die überall leicht erreichbar sind. Sie leuchten über den Dächern der Dörfer aus dem Wald hervor oder steigen auf aus den Schluchten des Doubs und anderer Jura-Flüsse. Vielleicht ist dies das Geheimnis ihrer Attraktivität: dass sie Teil einer Kulturlandschaft sind, in der die Siedlung, der Wald und die Felsen jenes unzertrennbar enge Biotop bilden, das wir als gastfreundlich empfinden.
In dem erwähnten Kletterführer heisst es im Vorwort: „Im Jura bewegen wir uns in einer Landschaft mit Menschen, die tief verwurzelt sind mit ihren ‚kleinen Bergen‘. Schwatzen wir mit der Postfahrerin, besuchen wir die Landbeizen und nächtigen wir in einem Hotel, denn der Jura bietet mehr als nur Klettern.“ *)
Le „Bon Pays“ und seine Weine
Auf der anderen Seite der Grenze finden sich nicht nur die gleichen Kalk-Fluen, die gleichen Flusslandschaften mit ihren bizarren Felsen, sondern auch die gleichen Südhänge, wo im Schutz der Jurafelsen Weinreben reifen. Im „Bon Pays“ zwischen Arbois, Salins und Poligny wurde schon im 10. Jahrhundert Wein angebaut. Der AOC von Arbois ist legendär, Vin jaune und Vin de paille aus dem Jura sind ein Begriff unter Weinkennern in ganz Frankreich. Die Schweiz hat ihren Creux du Van, Frankreich seinen Cirque de Baume, es ist der gleiche Jurakalk, der diese spektakulären Amphitheater geformt hat.
Der Kalkstein prägt nicht nur die wilden Felswände, sondern auch die Ortschaften. Wer einmal durch den stillen Kreuzgang der romanischen Stiftskirche von St.Ursanne gegangen ist, der wird die hellen Kalkplatten der Säulen und Bodenplatten nicht vergessen. Ihre raue Oberfläche lädt ein, die Hand darauf zu legen. Und wenn man so verharrt und horcht, spürt man nicht nur den Kalkstein der Kletterfelsen, sondern auch den Kalkstein, der mehr als tausend Jahre Geschichte erzählt.
*) Literatur: Michael Kropac und Daniel Silbernagel: Jura keep wild! climbs. topoverlag.ch 2011