Edmund de Waal setzt seine Familienforschung in Paris fort und porträtiert die Familie der Camondos zwischen 1869 und 1944.
Betritt man die Bührle-Sammlung im neuen Chipperfield-Bau des Kunsthauses Zürich, erblickt man sogleich und an prominenter Stelle Auguste Renoirs Porträt von Irène Cahen d’ Anvers von 1880 (Die kleine Irène). Und gerade dieser Tage ist ein Buch erschienen, das sich dem späteren Mann von Irène, Moise de Camondo, widmet. Hier erfahren wir auch Genaueres, wer sie war und was mit dem Gemälde geschah.
«Der Hase mit den Bernsteinaugen» – ein Grosserfolg
Autor ist Edmund de Waal, der 2011 mit seinem «Hasen mit den Bernsteinaugen» einen Grosserfolg verbuchte. De Waal ist im Hauptberuf Professor für Keramik in London, also kein Schriftsteller, und dennoch ein ganz erstaunlicher Stilist. Schon das machte das Buch zu einem reinen Lesevergnügen. Anhand der kleinen Hasenfigur aus einer japanischen Netsuke-Sammlung von Charles Ephrussi (1849–1905), eines Cousins seines Ur-Ur-Grossvaters, beschrieb de Waal die Geschichte seiner Familie, durch deren Hände die Sammlung gewandert war, am Ende bis zu ihm. Die Ephrussis hatten sich Mitte des 19. Jahrhunderts von Odessa kommend in Wien und Paris niedergelassen und einen beispiellosen Aufstieg in die «haute juiverie» in diesen beiden Metropolen zurückgelegt (Journal21, 27. 11. 2019).
In seinem neuen Buch setzt de Waal die Erforschung seiner (erweiterten) Familiengeschichte fort. Dieses Mal sind es die Camondos, die mit den Ephrussis (und den anderen grossen jüdischen Familien in Paris) auch durch Heirat verbunden waren. Als sephardische Juden waren sie in der Reconquista von Spanien nach Konstantinopel geflohen, wo sie als Bankiers im osmanischen Reich zu Ansehen und Reichtum gelangt waren. Diesen Weg wollten sie ab 1869 in Paris fortsetzen.
Von Konstantinopel nach Paris
Was de Waals Vorfahren wie fast alle ihresgleichen auszeichnete, war nicht nur ihr ökonomischer Erfolg vor allem als Getreidehändler und später Bankiers, sondern damit einhergehend ein immenser Kultur- und Kunstverstand. Gerade in diesem wohlhabenden jüdischen Milieu konzentrierten sich Sammler und Mäzene, die insbesondere die neuen und oft genug umstrittenen Kunstrichtungen, die Moderne, förderten. Wohingegen die alte Aristokratie mehrheitlich in ihrem gesellschaftlichen und geschmacklichen Konservatismus erstarrt blieb.
Im Mittelpunkt des Buchs steht also Moise de Camondo, der 1869 als 9-Jähriger mit seinen Eltern von Konstantinopel nach Paris kam. In der Rue de Monceau – wir kennen sie schon aus dem «Hasen mit den Bernsteinaugen» – bezog die Familie bald darauf ein prachtvolles Palais. In der Nachbarschaft zu den Ephrussis, den Cahen d’Anvers, den Rothschilds, den Reinachs.
Auch Moise de Camondo wurde zu einem bedeutenden Sammler und spezialisierte sich auf dekorative Kunst des 18. Jahrhunderts. Er starb 1935 und hat das Palais, das er nach dem Tod seines Vaters an selber Stelle neu errichtete, der Stadt vermacht. Heute ist es Teil des Musée des Arts Décoratifs und ist benannt nach Moises im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohn Nissim.
Jüdische Haute volée in Paris
Nun streift Edmund de Waal durch die Räume, betrachtet die Sammlerstücke und die Einrichtung und breitet, anhand der Gegenstände und Kunstwerke, aber auch von Inventaren und Rechnungen, Sitzordnungen und Speisekarten, Bankauszügen, Kontobüchern oder Fotos, Geschichte und Welt der Camondos aus. In Form von Briefen an Moise de Camondo fragt er oder stellt Mutmassungen an, versucht sich ein Bild zu machen vom Leben, das die Camondos damals führten: «Ich bin in Ihrer Bibliothek. Ich liebe diesen Raum. Er ist rund, ungewöhnlich für eine Bibliothek, und muss eine Herausforderung für die Schreiner gewesen sein, die die Bücherschränke gefertigt haben.» Das ist der Ton des Buchs.
Bildhaft breitet de Waal das Panorama von Persönlichkeiten, eines Milieus, ja einer ganzen Gesellschaft aus. Wir begegnen wieder dem grossen Sammler und Kunstförderer Charles Ephrussi, dem Freund Prousts, folgen den Spuren der Familien und ihren Verbindungen, weil sie untereinander heirateten und auch geschäftlich verbunden waren. Moise de Camondo liess sich nach wenigen Ehejahren scheiden von seiner Frau Irène, mit der er eine Tochter, Béatrice, und den Sohn Nissim hatte.
Sie alle führten das Leben der Haute volée, gaben Gesellschaften, waren mit Künstlern und Schriftstellern befreundet, liebten Pferde und die Jagd. Man ging auf in der Lebensweise dieser obersten Gesellschaftsschicht oder ahmte sie nach, man fühlte sich als französische Patrioten und als Pariser. Aber sie blieben sich der jüdischen Herkunft bewusst, vor allem jedoch wurden sie konstant von den Antisemiten daran erinnert. Das war in Frankreich nicht anders als in Deutschland oder in Österreich. Man warf ihnen den Reichtum vor und sprach ihnen das Französischsein ab.
Die Geschichte von Renoirs «Petite Irène»
Und Renoirs Bild? De Waal erzählt es uns: Irènes Mutter schenkte es ihrer Enkelin Béatrice. Die heiratete standesgemäss Léon Reinach und hatte mit ihm zwei Kinder, Fanny und Bertrand. Das Bild, nun «La petite Irène» genannt, ging auf Ausstellungen und wurde immer berühmter.
In welcher Gefahr sie alle schwebten nach dem Einmarsch der Deutschen 1940, das ahnten viele von ihnen nicht. Moise de Camondos Tochter Béatrice, ihr Mann und ihre Kinder Fanny und Bertrand wurden alle in Auschwitz ermordet.
Und der Renoir? Béatrices Mann Léon Reinach hatte das Bild noch in Sicherheit gebracht. Doch der Einsatzstab Rosenberg, Hitlers Kunsträuber in Frankreich, «konfiszierten» es. Hermann Göring schliesslich verleibte es seiner Sammlung ein und gab es in einem Tausch 1942 weiter. 1945 fanden es die Alliierten, es gelangte zurück in den Besitz von Irène Sampieri, geschiedene Camondo. Sie hatte Krieg und Verfolgung überlebt. 1946 verkaufte sie das Gemälde an Emil Georg Bührle.
Es gibt ein weiteres, verstörendes Bild in dem Buch. Es ist eine Fotografie aus dem Jahr 1942 und zeigt Fanny Reinach, eine leidenschaftliche Reiterin, die mit ihrem Pferd ein Hindernis überspringt. Längst sind die Deportationen aus Frankreich in die Vernichtungslager im Gange. Aber Fanny Reinach ignoriert ganz offenkundig die tödliche Gefahr, wähnt sich – mit einer zum Christentum konvertierten Mutter und vielen einflussreichen Persönlichkeiten im Freundeskreis – sicher. Doch wenige Monate später wird sie, wie Mutter, Vater und Bruder, nach Auschwitz deportiert. Sie waren die letzten Nachkommen von Moise de Camondo. Dass sie und ihre Welt nicht vergessen gehen, ist ein grosses Verdienst von Edmund de Waal.
Edmund de Waal: Camondo. Eine Familiengeschichte in Briefen. Zsolnay, Wien 2021, 190 S., Fr. 39.90