Das um den spektakulären Chipperfield-Bau erweiterte Museum nimmt den Betrieb auf. Fragen zur Bührle-Sammlung und zum neuen Ausstellungskonzept geben zu reden.
«Ist das Zürich? Ist das nicht etwas gross?» Dies sei ihr durch den Kopf gegangen, als sie zum ersten Mal das Foyer des neuen Chipperfield-Baus habe besichtigen können. Corine Mauch, Stadtpräsidentin von Zürich war offensichtlich fast ein wenig erschrocken über den eigenen Mut, diesen Bau gewollt zu haben. Da nun die Eröffnung zeitlich fast mit der Fertigstellung der aufwändigen Tonhallen-Restauration zusammenfällt, könnte es für das rotgrüne Zürich nach einem reichlich spendablen Schub für die Hochkultur aussehen.
Für das Kunsthaus ist der Sprung gewaltig. Mit dem Chipperfield-Bau ergibt sich annähernd eine Verdoppelung der Gesamtfläche. Das Haus wird zum grössten Kunstmuseum der Schweiz und festigt seinen Anspruch, in der internationalen Topklasse zu operieren.
Von den Kosten von 206 Mio. Franken haben die Stadt und die private Zürcher Kunstgesellschaft je 88 Mio. Franken getragen; die restlichen 30 Mio. hat der Kanton durch seinen Lotteriefonds beigesteuert. Somit sind 57 Prozent öffentlich und 43 Prozent privat finanziert. Der städtische Beitrag wurde 2012 in einer Volksabstimmung mit 54 Prozent Ja gutgeheissen – eine solide, aber keine begeisterte Zustimmung.
Boom neuer Kunstmuseumsbauten
Quer durch Europa und auch in der Schweiz sind in den letzten Jahren zahlreiche Neubauten und Erweiterungen von Kunstmuseen entstanden. Die Häuser brauchen mehr Platz für Kunst und Besucherkomfort. Städte sehen attraktive Bilderhäuser als lohnende Investitionen. Sie erhoffen sich Standortvorteile und angekurbelten Tourismus.
So hat Basels Kunstmuseum 2016 den wuchtigen Neubau der Architekten Gantenbein & Christ eröffnet. Im gleichen Jahr konnte das Bündner Kunstmuseum Chur den Geniestreich des italienisch-spanischen Teams Barozzi Veiga vorstellen. Dieselben Architekten kamen in Lausanne beim Neubau des Musée Cantonal des Beaux Arts zum Zug, wo sie wiederum mit einem eleganten Wurf überzeugt haben.
Zürich hat mit dem Chipperfield-Bau dieser Reihe neuer grosser Museumsprojekte in der Schweiz die Krone aufgesetzt. Das Haus am Heimplatz verströmt Grandezza, ohne dabei an die Empfindlichkeiten der protestantisch geprägten Stadt zu rühren. Die Stadtpräsidentin zuckt zwar kurz zusammen, doch die Überraschung wendet sich sogleich zu einem freudigen Erschrecken: Da ist etwas Grosses entstanden. Kein Wunder, denn der Entwurf folgt ohne Prunk und Protz dem Muster, das mit den Palazzi und Villen des Renaissancemeisters Andrea Palladio formuliert wurde und seither in der westlichen Baukunst für Gravität und herausgehobene Bedeutung steht.
Bührle und kein Ende
Gäbe der Bau als solcher Anlass zu reiner Freude, so steht ein Teil der Kunstwerke, denen er nun dient, im Fokus schwieriger Auseinandersetzungen. Claudia Kühner hat hier eingehend über die Diskussionen um die Sammlung Bührle berichtet. Der Waffenfabrikant Emil G. Bührle hat als seinerzeit reichster Schweizer sein immenses Vermögen genutzt, um seiner Kunstleidenschaft als Sammler mit Schwerpunkt Impressionismus zu frönen.
Seine Kollektion entstand zu grossen Teilen unter Zeitumständen, bei denen wegen des NS-Regimes das Thema Raub- und Fluchtkunst im Rückblick ohnehin beherrschend ist. Dass auch Bührle die Notlage jüdischer Kunstbesitzer ausgenutzt hat, ist mehrfach belegt. Sein die Nazis unterstützendes Verhalten als Geschäftsmann muss heute empören, wurde aber von der damaligen Schweizer Regierung gebilligt und gefördert. Daneben gibt es weitere düstere Kapitel, die erst nach und nach ans Licht kommen. Die Sammlung, heute eine der europaweit bedeutendsten, wird zwar auf Verstösse gegen Recht und Moral untersucht –, allerdings nicht unabhängig, sondern vom Direktor der Bührle-Stiftung.
Knapp ein Drittel der etwa 600 Werke zählenden Sammlung Bührle wird jetzt im Chipperfied-Bau gezeigt. Sie bilden dort das grösste Ensemble, und in gewisser Weise sind sie sogar der Zweck des Baus. Mit guten Gründen spricht Erich Keller – der Historiker, der das zur Erforschung der Bührle-Sammlung von der Stadt Zürich eingesetzte Wissenschaftlerteam um den Uniprofessor Matthieu Leimgruber im Krach verliess – vom «kontaminierten Museum».
Nähe und Abhängigkeit
Belastet ist das neue Bilderhaus indessen nicht nur mit der Herkunft von Bührles Sammlerreichtum und der begründeten Vermutung, dass hier in Einzelfällen Raub- und Fluchtkunst ausgestellt sein könnte, sondern auch mit der konzeptuellen Abhängigkeit, in die sich das Kunsthaus begeben hat.
Bei den Sammlungen Bührle und Merzbacher, die nun im Chipperfield-Bau zu bewundern sind, handelt es sich nicht um Schenkungen, sondern um Dauerleihgaben für zwanzig Jahre, verbunden mit der Auflage, diese jeweils als geschlossene Ensembles zu präsentieren. Damit hat sich das Kunsthaus für die Bewirtschaftung seiner Bestände langfristig Fesseln anlegen lassen. Weder eine kunsthistorisch noch eine thematisch konsequent ausgerichtete Hängung sind so möglich. Zudem ist gerade die Sammlung Bührle im Ganzen nun derart gewichtig, dass das Kunsthaus bei der Aushandlung künftiger Bedingungen für eine Verlängerung der Dauerleihgabe in einer problematischen Abhängigkeit stecken wird.
Die enge Verflechtung zwischen Bührle und dem Kunsthaus – Emil G. Bührle präsidierte seinerzeit die Sammlungskommission und bezahlte die erste Kunsthaus-Erweiterung von 1958 – wirkt nicht nur bis heute nach, sondern ist auch institutionell zementiert worden. Die Direktoren von Kunsthaus und Bührle-Stiftung sitzen je in den Exekutiven beider Trägerschaften, nämlich im Vorstand der Zürcher Kunstgesellschaft und im Stiftungsrat der Bührle-Stiftung. Für Letztere ist der Deal mit dem Chipperfield-Bau in jeder Hinsicht profitabel: Die Stiftung löst das Problem ihrer für eine Sammlung von Weltrang ungeeigneten Lokalität, verschafft ihren Schätzen einen grossen Auftritt und überbindet die Infrastrukturkosten dem von der Stadt mit fast 13 Millionen Franken jährlich subventionierten Kunsthaus.
Doch da sind noch die Kunstwerke
Positiv zu vermerken ist die Tatsache, dass in Zürich eine öffentliche Diskussion über Kunst, Kapital und historische Verantwortung stattfindet. Das Kunsthaus selber begleitet die Sammlung Bührle in einem Dokumentationsraum kritisch, und die Untersuchungen über die Umstände der Entstehung der Sammlung sind ausdrücklich nicht abgeschlossen.
Kontaminiert, um mit Erich Keller zu sprechen, sind allenfalls Sammlungen und die Institution als Ganze, aber nicht die Kunstwerke. Sie zu bewundern, sich von ihnen berühren zu lassen ist ein Geschehen, das in der direkten Begegnung mit den Originalen stets eine eigene Wirklichkeit schafft. Die Neuzugänge sind grandios und in den Chipperfield-Räumen wunderbar präsentiert.
Wandert man durch die Säle mit den rund 170 Bildern und Plastiken der Sammlung Bührle, ist man überwältigt. Es hängen hier nicht irgendwelche Cézannes, sondern ausschliesslich kenntnisreich ausgesuchte Meisterwerke. Bührles Sammlerkonzept hiess: vom Besten nur das Allerbeste. Das ist so konsequent (fast könnte man sagen: erbarmungslos) durchgehalten, dass einen die Sammlung geradezu erschlägt.
Individuelle Handschrift
Die kaum weniger hochkarätige, aber mit 75 Werken deutlich kleinere Auswahl der Sammlung Merzbacher wirkt anders. Man glaubt die besondere Art der Sammlerleidenschaft von Gabrielle und Werner Merzbacher zu erkennen. Farbe, Expression und Gestus sind verbindende Elemente ihrer Bilder. Ob Kandinsky, Jawlensky, Münter, Monet, Sisley, Renoir, Schmidt-Rottluff, Heckel, Kirchner, Matisse, Dérain, Vlaminck – immer faszinieren Kraft und Kühnheit der Imagination.
Hinter dieser Sammlung steht eine persönliche Geschichte, die mit jener des Bührle-Ensembles kontrastiert – ein Glücksfall für das Kunsthaus. Dank Merzbacher kann hier neben der von Big Money ermöglichten Ansammlung der Superlative auch ein Ensemble mit einer individuellen Handschrift gezeigt werden. Zudem sind die Sammlerpersönlichkeiten geradezu Antipoden. Hier der Waffenfabrikant und ruchlose Kriegsgewinnler, dort das in die Schweiz aufgenommene jüdische Flüchtlingskind, dessen Eltern die Flucht nicht mehr schafften. Dass Merzbacher dann aus dubiosen Gründen nicht hier bleiben durfte, ist zwar für die Schweiz eine Schande, war aber für ihn im Nachhinein ein Glück: Er machte in den USA Karriere. Heute blickt der 93-Jährige ohne Groll auf die Vergangenheit und ist der Schweiz sogar dankbar.
Warten auf Ann Demeester
Als dritte gewichtige Privatsammlung ist diejenige Hubert Losers im Chipperfield-Bau präsent. Anders als bei Bührle und Merzbacher sollen hier wechselnde Hängungen aus den Beständen Losers und des Kunsthauses eingerichtet werden, so dass immer neue spannende Werkkonstellationen namentlich des Abstrakten Expressionismus, der Minimal Art, der Arte Povera und zeitgenössischer Positionen zusammenfinden.
Für das Kunsthaus erzwingt die Einführung fixer Sammlungsblöcke eine weitreichende Umkrempelung des gesamten Ausstellungskonzepts. Das Positive daran ist die Chance der Besucherinnen, ihr altbekanntes Kunsthaus neu kennenzulernen. Es wäre dem Kunsthaus zu wünschen, dass nach einer gewissen Zeit, in der die Sammlungen Bührle und Merzbacher kompakt gezeigt werden, diese dann flexibel in die Bestände eingefügt werden. Vielleicht gelingt es der Anfang 2023 ihr Amt als Direktorin des Kunsthauses antretenden Ann Demeester, die unsinnig festgezurrten Leihbedingungen zu lockern und dem grössten Kunstmuseum der Schweiz die erforderlichen Handlungsspielräume zurückzugewinnen.
Tage der Offenen Tür am Samstag/Sonntag, 9./10. Oktober