Und sie bewegt sich doch! Seit Montagnachmittag schwimmt die 400 Meter lange «Ever Given» erneut auf den Wassern des Suezkanals, nachdem das Containerschiff fast eine Woche lang auf einer Sandbank am Ufer steckengeblieben war und den Wasserweg diagonal verstopft hatte. Während Tagen und Nächten bewegten Bagger 30’000 Kubikmeter Sand;13 Schlepper halfen mit, den Frachter aus seiner unbequemen Lage zu entfernen. Am Ende war es die dank des Vollmonds in der Nacht auf Montag ungewöhnlich starke Flut, die neben dem Einsatz einheimischer Arbeitskräfte und der Expertise der niederländischen Firma Boskalis die Rettung der gestrandeten «Ever Given» möglich machte.
Die Havarie des unter panamaischer Flagge fahrenden Frachters war eine Ausnahme: Im vergangenen Jahr haben laut Angaben der zuständigen ägyptischen Behörde 18’840 Schiffe den 193 Kilometer langen Kanal ohne Zwischenfall passiert. Als Folge der Havarie stauten sich vor den beiden Eingängen zum Kanal und im Kanal selbst an die 400 Schiffe, die laut Branchenschätzungen Waren im Wert von zwischen 3 und 9,6 Milliarden Dollar transportieren. Gemäss Lloyd’s of London sind gegen 90 Prozent dieses Frachtguts nicht gegen Verspätung versichert.
Noch ist unbekannt, wie die «Ever Given» während eines Sandsturms am Kanalufer auflaufen konnte. War es der Wind, der das Schiff, dessen mehrstöckig geladene Container unter Umständen wie ein Segel wirkten, zur Seite drehte? War es ein Motorschaden, der den Frachter ausgerechnet an einer Stelle manövrierunfähig machte, wo der Kanal nur 300 Meter breit ist? Oder war es am Ende der «human factor», menschliches Versagen, zum Beispiel eine kurzzeitige Unachtsamkeit des verantwortlichen Lotsen? Heute hat jedes Schiff, das den Kanal passiert, eine «Suez crew» an Bord, ein Team einheimischer Lotsen, welches die Wasserstrasse kennt.
Kapitäne, die den Kanal befahren haben, äussern sich zum Teil wenig vorteilhaft über die Kompetenz dieser Lotsen. «Auf dem Papier übernimmt der Lotse die Kontrolle auf der Brücke, doch der Lotse, den wir hatten, war viel zu sehr damit beschäftigt, sich durch das ganze Menu zu essen und zu dösen, als dass er Anweisungen gegeben hätte», schreibt Rose George, britische Autorin des Buches «Deep Sea and Foreign Going» über die globale Schifffahrt.
«Wir nennen den Suezkanal ‘Marlboro country’», lässt sich ein Kapitän zitieren, der die Wasserstrasse in seiner 35-jährigen Karriere wiederholt befahren hat: «Wenn wir sie (die Lotsen) mit einem grossen Pack Marlboro Zigaretten versorgen, sind sie zufrieden.» Doch jedes Mal, wenn die Lotsen essen, rauchen, plaudern und bestochen werden wollten, seien sie zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, statt sich auf ihre wahre Aufgabe zu konzentrieren: «Navigation ist eine Kunst, und wenn du auch nur für eine Sekunde deine Konzentration verlierst, während du durch eine enge Passage steuerst, sollte das untersucht werden.»
Im Gegensatz zu Flugzeugunglücken erregen Schiffshavarien weniger Aufmerksamkeit. Entsprechend geringer ist der Druck der Öffentlichkeit, die Sicherheit der globalen Schifffahrt genauer zu kontrollieren oder nachhaltig zu verbessern. Gemäss dem deutschen Versicherungskonzern Allianz sind vorletztes Jahr 41 grosse Schiffe gesunken; 2018 waren es 46. Im vergangenen Jahrzehnt sind im Schnitt jährlich rund 100 grössere Schiffe verloren gegangen.
Gleichzeitig werden Frachter immer grösser – eine Folge weltweit steigender Nachfrage nach Gütern, seit 2009 sinkender Kapitalkosten und technischen Fortschritts. Transportieren «Megaschiffe» zur Jahrtausendwende noch maximal 5’000 Container, so sind es heute bereits mehr als 20’000 genormte Behälter. «Die Schiffe sind nicht nur grösser, sie transportieren mehr Güter», sagt Rory Hopcraft, ein Maritim-Forscher der Plymouth University: «Statt das Risiko auf drei oder vier kleinere Schiffe zu verteilen, liegen alle Eier im selben Nest – alles streckt auf einem grossen Schiff fest.»
Menschliche Fehler verursachten die Mehrzahl der Schiffsunglücke, weiss Rose George aufgrund ihrer Recherchen: «Und kein Wunder: Seeleute, die in immer kleinerer Zahl auf immer grösseren Schiffen arbeiten, sind überarbeitet.» Doch anders als in der Aviatik sind in der Schifffahrt die Sicherheitsanforderungen im Laufe der Zeit nicht erhöht worden. Zwar hat die Industrie in den 1990er-Jahren von der Luftfahrt Systeme wie das Crew Resource Management (CRM) übernommen und es in abgeschwächter Form als Bridge Resource Management (BRM) adaptiert. Seither aber ist das BRM nicht mehr aufdatiert worden.
Nach wie vor ist der Kapitän die höchste Autorität an Bord, deren Kompetenz ausser Frage steht, obwohl auch die Crew wichtigen Input geben kann. 2015 zum Beispiel wären der Untergang des Frachters «El Faro» und der Verlust von 33 Menschenleben im Atlantischen Ozean zu verhindern gewesen, hätte der Kapitän die Mahnungen seiner Untergebenen auf der Brücke beherzigt. Ausserdem gibt es auf Schiffen ein Sprachproblem: Anders als in Cockpits, wo Englisch die «lingua franca» ist, gibt es auf Brücken keine gemeinsame Sprache. Entsprechend schwieriger gestaltet sich im Notfall die Kommunikation.
An der International Maritime Agency (IMO), einer Unterorganisation der Uno mit Sitz in London, läge es, in der Schifffahrt striktere Standards durchzusetzen, auch wenn sich Reedereien dagegenstemmen, die nötigen Investitionen zu tätigen und allenfalls Marktanteile an die Konkurrenz zu verlieren. «Wir wissen, was zu tun wäre», sagt Kapitän John Konrad, der die Newssite «gCaptain.com» mit Nachrichten aus der Welt der Schifffahrt betreibt. Ausbildung und Training der zuständigen Seeleute seien nachhaltig zu verbessern, fordert Konrad. Andernfalls bleibe die Industrie stecken wie die «Ever Given», meint ein amerikanischer Kommentator – «und mutmasslich noch viel länger».
Der Suezkanal, der Wasserweg zwischen Asien und Europa, kann warten. Seine Geschichte ist lang und bewegt, ein paar Jahre mehr oder weniger spielen keine Rolle. Vorläufer des Kanals sollen bis in die Zeit von Pharao Senruset III. (1878–1839 BC) zurückreichen. Geblieben aus jener Zeit sind die Feluken, jene kleinen ein- oder zweimastigen, mit trapezförmigen Segeln getakelten Flussfahrzeuge, wie sie heute noch malerisch auch den Nil befahren. Feluken nehmen, bei einer Besatzung von zwei bis drei Mann, bis zu zehn Passagiere auf. Kein einziger Frachtcontainer aber fände auf ihnen Platz, geschweige denn 20’000 wie auf der grossen «Ever Given». Mega in der Tat!