Was wir in die Vergangenheit abgeschoben haben, kommt mit der Ukraine wieder ganz nahe und wird gegenwärtig: der Krieg und seine Dämonen. Und mit ihm das Heroische. Erinnerung an einen vergessenen Mythos und ein Denkmal.
Das Geschehen in der Ukraine erschüttert. Überkommene Gewissheiten zerfallen, ohne dass neue Sicherheiten das Vakuum füllen könnten. Der Westen wiegte sich nach der Implosion der Sowjetunion in Sicherheit; er genoss die Friedensdividende. Angesagt war das Postheroische – und damit auch der Fingerzeig auf Bert Brechts Diktum: «Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.»
Wenn das Vaterland ein Gefühl ist
Wie ganz anders meine Jugendjahre: Es war die Zeit des Kalten Krieges; wir hatten noch Helden. Da waren nicht nur die farbigen Figuren meiner kindlichen Leselust – wie der Apachenhäuptling Winnetou und sein weisser Blutsbruder Old Shatterhand. Da waren auch die Entdeckerhelden Livingstone und Stanley, und da waren natürlich die Heroen aus der Schweizer Geschichte. Aufgewachsen bin ich in Zug. Peter Kolin war unser Landsmann, der Kriegsheld von Arbedo 1422. Er hat in der Schlacht das Zuger Banner gerettet und dabei sein junges Leben verloren. Die Pfadi trug seinen Namen.
Gleich danach kam Arnold Winkelried. Unser Lehrer erzählte von ihm und seiner Heldentat bei Sempach. Wir fieberten mit, wenn wir vom letzten Kampf des selbstlosen Nidwaldners und des tapferen Stadtzugers hörten. Dann war für uns das Vaterland nicht nur ein Territorium auf der Landkarte, sondern auch ein Gefühl. Es war nicht etwas rein Rationales und Abstraktes, sondern etwas ganz und gar Emotionales. Heute haben die Helden abgewirtschaftet, und auch das Wort Vaterland ist nicht mehr, was es einmal gewesen ist, hat der Literat Peter von Matt deutlich gemacht. Wenn man lange lebe, müsse man eben von vielem Abschied nehmen, meinte er weiter. Aber es geschehe ja nicht ersatzlos. Seit die Geschichtsforschung nicht mehr nur nach den Schlachten fragt und die Gefallenen zählt, tritt anderes in den Blickwinkel. Das ist gut so. Und es gilt auch für den Tageshelden von Sempach, Arnold von Winkelried.
Mythische Geschichte stärken das Gemeinschaftsgefühl
Heiss muss es gewesen sein, sehr heiss sogar, an jenem 9. Juli 1386, am Tage der Schlacht von Sempach. Wir wissen es aus den Akten. Und wir wissen noch mehr: Die Schlacht zwischen den Eidgenossen und den Rittern um Herzog Leopold III. von Österreich nimmt eine Wende. [1] So berichtet es die Chronik von Zürich. Und so erzählt es auch die österreichische Quelle. In diesem Tatbestand stimmen beiden Seiten überein.
Unbekannt dagegen bleibt, warum es zur Wende gekommen ist. Nicht gesagt wird, wer oder was sie herbeigeführt hat – und wie. War es die Hitze? Oder die Nachhut der Eigenossen? Entschied gar eine Einzeltat? Wir wissen nur, wie das Schlachtenglück erklärt wird. Die eidgenössische Optik deutet den Ausgang als Gottesurteil: «Do halff der allmechtig got unseren getruwen eidgnossen […]». Nirgendwo ist die Rede von Winkelried. Da brauchte es die Wirren und Irren nach den drei Schlachten von 1476/77 gegen den Burgunderherzog Karl den Kühnen. Die eidgenössischen Orte waren gespalten. Es drohte der Krieg. Da konnten nur mythische Geschichten das Gemeinschaftsgefühl stärken, da konnte nur ein heroisches Narrativ die Gräben glätten.
Winkelried als Identifikationsfigur
In diesem Kontext erhält der Meisterschütze Wilhelm Tell seine Gestalt. Und auch die Geschichte von 1386 wird konkreter. 1476 heisst es in der Chronik der Stadt Zürich: «Des half uns ein getrüwer man under den eidgenozen.» Noch fehlt der Name; 1533 taucht er auf: «Ein Winkelried der seit […] min arme kind und frouwen.» So berichtet es die Quelle. Aegidius Tschudi, der Vater der Schweizer Geschichtsschreibung, gibt dem Helden von Sempach um 1550 auch den Vornamen: «Arnolt von Winkelried genannt, ein redlicher ritter». Tschudi erhebt ihn, wie es der Renaissance entspricht, in den Ritterstand. [2]
«Je weiter das Ereignis zurückliegt, desto mehr weiss man davon», schreibt der Historiker Kurt Messmer. Und er fährt fort: Nach Sempach geht es mit der österreichischen Herrschaft im Gebiet der Eidgenossenschaft zu Ende: 1386 muss das Haus Habsburg auf weite Teile des Luzernerlandes verzichten, 1415 geht der Aargau verloren, 1460 der Thurgau. Diese Eroberungen werden nun als «Gemeine Herrschaften», als gemeinsam verwaltete Untertanengebiete, zu starken Klammern im losen eidgenössischen Bundesgeflecht. Sempach sei, so Messmer, der Point of no Return. Ein bedeutsames Geschehen – mit dem Kriegshelden Winkelried: Das Heroische als Kohäsionskraft zwischen den einzelnen Ameisenhaufen der 13-örtigen Alten Eidgenossenschaft, wie es der Hochschullehrer und Historiker Ulrich Im Hof beschreibt.
Der nationale Generationenvertrag des 19. Jahrhunderts
Szenenwechsel: 1798 bis 1848 – eine der spannendsten Epochen der Schweizer Geschichte. Es ist der Kampf um die Modernisierung der Schweiz und ihren Aufbruch in die Zukunft, der Konflikt zwischen Einheitsstaat und Staatenbund, der Streit zwischen dem französisch-napoleonischen Zentralismus und dem alteidgenössischen Partikularismus. Der fünfzigjährige Kampf ist intensiv. Es gibt Krieg; es fliesst Blut. Fast wäre die Schweiz auseinandergebrochen. Der Bundesstaat von 1848 bringt den Kompromiss: ein vielfältiges Land mit möglichst autonomen Gliedstaaten – dank einer föderativen Staatsstruktur.
Noch sind die Wunden da und die Verlierer des Sonderbundskrieges von 1847 nicht integriert. Wieder braucht es einen Generationenvertrag, und wieder hilft der Mythos Winkelried. Er wirkt mit an der Idee der Gemeinschaft. 1865 wird in Stans das Winkelried-Denkmal eingeweiht. Geschaffen hat es der Basler Ferdinand Schlöth. Es steht ganz im Zeichen des Historismus. Am Boden liegt der tote Kämpfer. Er stellt die Vergangenheit dar, die Vorfahren. Mit ihrem Opfertod haben sie das Fundament gelegt. Lange Zeit zuvor. Die mittlere Figur repräsentiert die Söhne der Vorfahren. Sie opfern sich hier und heute – mit Blick auf die nachrückende Generation. Der junge Kämpfer, der sich über seine beiden Vorfahren hinwegsetzt, verkörpert darum die Zukunft.
Die Symbolkraft des Denkmals
Das Werk der Vorfahren kommt der nächsten Generation zugute, so lautet die Botschaft des Stanser Winkelried-Denkmals. An ihr ist es, den Generationenvertrag weiterzuführen. Doch Geschichte, so warnt Messmer, sei keine moralische Lehranstalt. Im Umgang mit Geschichte moralische Überlegungen anzustellen, das müsse umgekehrt nicht zwangsläufig falsch sein, fügt er bei.
Es gibt nicht allein die Vernunft, es gibt auch das Gefühl, das ein Land zusammenhält. Es äussert sich in guten gemeinsamen Geschichten. Menschen denken nicht nur in Fakten, sie denken auch in Geschichten. Das zeigt sich in den Mythen. Winkelried ist in mehrfacher Hinsicht ein Lehrstück.
[1] Der Beitrag beruft sich auf die lesenswerte Skizze von Kurt Messmer, Prof. em. Universität Freiburg i.Üe. und heute freischaffender Historiker: https://blog.nationalmuseum.ch/2017/09/sempach-wienzuerich-so-geht-geschichte-ein-lehrstueck/
[2] Ebenda.