Ist es gerechtfertigt, auch mit isolierten Diktatoren wie Lukaschenko Kontakt aufzunehmen? Ja, wenn das dazu dient, humanitäre Tragödien zu entspannen. Eine politische Aufwertung des Machthabers und seines Regimes muss aber vermieden werden. Über den Charakter von Lukaschenkos Regime in Belarus macht sich zumindest in Europa, abgesehen von einigen unerschütterlichen Putin-Propagandisten, kaum noch jemand Illusionen. Der einstige Sowchosen-Direktor regiert in der früheren Sowjetrepublik seit 27 Jahren mit zunehmend eiserner Hand.
Spätestens seit den offenkundig gefälschten Präsidentschaftswahlen vom August 2020, gegen deren Resultat mehrere Wochen lang in Minsk und anderen Städten des Landes Hunderttausende von Demonstranten, angeführt hauptsächlich von Frauen, protestierten, weiss auch eine breite Öffentlichkeit im Westen genauer Bescheid über die tiefe Ablehnung der Lukaschenko-Herrschaft durch weite Teile der Bevölkerung.
Einblick in den Stil des Machthabers
Die Fernsehbilder von den martialischen Polizeieinsätzen gegen die friedlichen Demonstranten und den willkürlichen Verhaftungen werden sich in vielen Köpfen eingeprägt haben. Noch immer sitzen zwischen 2000 bis 3000 Regimegegner in Haft. Mehrere Tausend belarussische Bürger sind in den letzten anderthalb Jahren ins Ausland geflohen. Eine der Anführerin der Anti-Lukaschenko-Demonstrationen, Maria Kolesnikowa, weigerte sich, von der Polizei über die Grenze abgeschoben zu werden. Sie ist im September zu 11 Jahren Lagerhaft verurteilt worden.
Wer einen kurzen Eindruck von Lukaschenkos Stil und Persönlichkeit gewinnen will, dem sei ein Interview empfohlen, das der BBC-Journalist Steve Rosenberg im November mit dem Machthaber in Minsk geführt hat. Das Gespräch wird auf Russisch geführt, ist aber mit englischen Untertiteln versehen. Lukaschenko behauptet in dem Gespräch ganz im Ton eines polternden Dorfgewaltigen, der kein Wort des Widerspruchs duldet, das Ergebnis der Präsidentenwahl im August 2020, bei der er angeblich 80 Prozent der Stimmen bekam, sei allein von der staatlichen Wahlkommission ermittelt worden; er persönlich habe darauf keinerlei Einfluss genommen. Als der Interviewer Zweifel anmeldet, fährt ihm der Machthaber rüde übers Maul und herrscht ihn per Du an. Steif und fest wiederholt er mehrmals, in seinem Land gebe es keinen einzigen politischen Gefangenen.
Nach der Grabesstille, die sich nach der Niederschlagung der Wahl-Proteste ausbreitete, ist Belarus in den letzten Wochen erneut in die Schlagzeilen geraten. Diesmal geht es um Tausende von Migranten, deren Einreise aus Irak und andern nahöstlichen Ländern Lukaschenkos Behörden mit der Verheissung geködert hatte, über die belarussische Grenze liesse sich unschwer eine Einreise in EU-Länder wie Polen und Litauen und von dort ins gelobte Deutschland bewerkstelligen. Doch der vermeintlich schlaue Plan des Minsker Diktators, die EU durch den Ansturm grösserer Flüchtlingsmassen an der Aussengrenze unter Druck zu setzen und so mit einigen EU-Mitgliedern wieder ins Geschäft zu kommen und zumindest eine Lockerung von Sanktionen zu erreichen, schlug fehl. Polen und die baltischen Staaten riegelten ihre Grenzen zu Belarus mit militärischem Aufwand ab. Tausende von Migranten, unter ihnen auch Frauen und Kinder, steckten in den bewaldeten Gebieten entlang der belarussischen Westgrenze fest – und dies bei winterlichen Temperaturen und ohne Unterkünfte.
Das Dilemma der EU
Die weitgehend geschlossene Abwehrhaltung der EU brachte zwar Lukaschenkos politische Ziele zum Scheitern. Doch damit war die von ihm weitgehend selber organisierte Migranten- und Flüchtlingstragödie noch keineswegs gelöst. Die EU und ihre Regierungen standen vor einem Dilemma. Hätte man die unmittelbar mit der Krise konfrontierten Mitglieder Polen und Litauen dazu bewegen sollen, im Sinne einer humanitären Geste zumindest für einen Teil der in den Wäldern gestrandeten Migranten die gesperrte Grenze zu öffnen? Dies mit dem Ziel, die kontrolliert hereingelassenen Menschen nach einem bestimmten Schlüssel auf andere europäische Länder zu verteilen. Solche Vorschläge sind in der Öffentlichkeit lanciert worden, doch es war abzusehen, dass eine Zustimmung dafür in Europa nicht durchzusetzen war.
Zu wundern brauchte man sich über diese ablehnende Haltung nicht, wenn man sich daran erinnert, wie heftig die Regierung von Angela Merkel 2015 von allen Seiten kritisiert worden war, weil sie damals im Zeichen einer humanitären «Willkommenskultur» gegen eine Million Migranten und Flüchtlinge nach Deutschland einreisen liess, die damals in Ungarn und auf dem Balkan festsassen. Praktisch kein anderes Land war damals bereit, ein bestimmtes Kontingent der in Deutschland aufgenommenen Migranten zu übernehmen. Noch heute gilt die von Berlin für kurze Zeit praktizierte «Willkommenskultur» weitherum in Europa als eine schreckliche Entgleisung, obwohl nüchterne Beobachter später festgestellt haben, dass Deutschland im Ganzen damit nicht schlecht fertig geworden ist.
Merkels umstrittene Telefongespräche
Trotz dem breiten Konsens innerhalb der EU, Lukaschenkos Erpressungsmanöver mit verzweifelten oder naiven Migranten nicht nachzugeben, war es richtig, dass die noch amtierende Kanzlerin Merkel auf dem Höhepunkt mit dem Minsker Diktator zweimal direkt telefoniert hat. Einige Kritiker haben dazu zwar die Nase gerümpft und und ihr vorschnell vorgeworfen, sie habe sich von Lukaschenko «vorführen» lassen. Denn dieser hatte nach dem Gespräch behauptet, die Regierung in Berlin sei bereit, ein Kontingent von 2000 Migranten, die an der belarussischen Westgrenze festsassen, in Deutschland aufzunehmen. Diese unwahre Aussage ist in Berlin sofort dementiert worden. Offenbar aber hat Merkel gegenüber Lukaschenko klar machen können, dass er seine Ziele mit seinem Pokerspiel auf dem Rücken von missbrauchten Flüchtlingen nicht erreichen könne. Jedenfalls wurden kurz danach in Minsk die ersten Rückflüge für gestrandete Migranten nach dem Irak organisiert.
Es ist gut möglich, dass die 3,5 Millionen Euro, die die EU für solche Rücktransporte inzwischen bereitgestellt hat, sowie weitere 700’000 Euro zuhanden des belarussischen Roten Kreuzes bei den Telefonaten Merkels mit Lukaschenko erstmals ins Spiel gebracht worden sind. Solche Beiträge bedeuten keine diplomatische Aufwertung für den Minsker Diktator, sie sind praktische Hilfen zur Entschärfung einer Notlage, in die Tausende von irregeführten Menschen von einem zynischen Machthaber gebracht worden sind. Nach neuesten Berichten harren immer noch rund 10’000 Migranten in Belarus aus. Um die 8000 Menschen, die irgendwie über die Grenze gekommen sind, befinden sich in überwachten polnischen, lettischen und litauischen Auffangzentren, wo die Möglichkeit für Asylgesuche besteht. Etwa 10’000 weitere Personen aus dem Umkreis der in Belarus eingeflogenen Migranten sollen bereits nach Deutschland weitergereist sein.
Das Verhältnis zu Putin
Gewiss kann man auch argumentieren, dass die Europäer mehr tun könnten, um diesen bedauernswerten Menschen, die ja schwerlich ohne Not ihre Heimat verlassen, um sich nach Europa durchzuschlagen, eine bessere Perspektive zu bieten. Wer sich dafür engagiert, muss dann aber auch die nicht einfache Frage genauer beantworten, wie bei generell offeneren Grenzen für solche Flüchtlingsströme aus aller Welt noch eine halbwegs kontrollierbare Einwanderung in Europa zu gestalten wäre.
In einigen westlichen Kommentaren ist die These verbreitet worden, hinter dem von Lukaschenko angerichtete Migrantendrama stehe auch der russische Machthaber Putin. Dafür scheint es tatsächlich keine konkreten Indizien zu geben. Putin hat Lukaschenko sogar öffentlich zurückgepfiffen, als dieser im Zusammenhang mit diesen Problemen die Drohung äusserte, man könne ja auch die Gaslieferungen nach Westeuropa unterbinden, die teilweise über belarussisches Gebiet laufen. Das russische Gasgeschäft will der Kremlchef bestimmt nicht von den Launen seines erratischen Verbündeten in Minsk abhängig machen. Allerdings besteht kein Zweifel, dass Lukaschenko seit der gewalttätigen Niederschlagung der Massenproteste vom Sommer und Herbst 2020 politisch, wirtschaftlich und auch militärisch mehr denn je auf den Goodwill und die materielle Hilfe von Putins Russland angewiesen ist. Ohne diese entscheidende Unterstützung hätte er sich mit grösster Wahrscheinlichkeit auch nicht bis heute an der Macht halten können. So gesehen fällt auch Putin eine gewisse Mitverantwortung für das Migranten- und Flüchtlingsdrama in Belarus zu.