Schwierigkeiten und Rückschläge wird es noch viele geben. Jedoch der Wille der Bevölkerungen, ihre Länder zu demokratisieren, ist unverkennbar. Die Wahlen in Ägypten haben trotz der Bedenken der Revolutionsaktivisten, die sie boykottieren wollten, begonnen und eine unerwartet rege Beteiligung der Bevölkerung gezeigt. Das Land hat einen beschwerlichen Marathonlauf vor sich, und Ermüdungserscheinungen werden sich wahrscheinlich einstellen.
Die Wahlen für das Parlament mit 508 Sitzen werden bis zum 10. Januar dauern, dann folgen die Wahlen für den Senat mit 207 Sitzen. Sie sind für die Zeit vom 29.Januar bis zum 11.März 2012 vorgesehen. Eine Präsidentenwahl soll dann, nach dem neuesten Fahrplan des Obersten Militärrates (SCAF) gegen Mitte 2012 stattfinden.
Umkämpfte Stellung der Militärs
Nachher soll die Militärführung ihre heutige Machtfülle an die zivile Regierung abtreten. Mit Sicherheit wird es jedoch noch ein Seilziehen geben. Wieviel von seiner heutigen Machtfülle wird das Hohe Militärkommando dann noch bewahren können? Dieses Seilziehen könnte noch Monate oder Jahre in Anspruch nehmen. Doch ein entscheidender Schritt ist getan. Die Ägypter sind nicht mehr gewillt, das zu tun, was sie 1952 taten, nämlich ihren Militärs frag- und kontrolllos die Führung des Landes zu überlassen.
Sie wählen nun jene Personen, welche die Führung in Vertretung der Wähler übernehmen sollen. Wie gut oder schlecht sie sich dieses – äusserst schwierigen – Auftrags annehmen werden, bleibt abzuwarten und auszuprobieren. Der Auftrag besteht, und sie werden über seine Erfüllung oder Nichterfüllung Rechenschaft ablegen müssen.
Tunesien: Die Demokratie hat begonnen
Tunesien ist schon einen kleinen Schritt weiter. Die Wahl ist getroffen; eine moderat islamische und demokratische Partei erhielt die relative Mehrheit.
Die Kompromisse werden nun ausgearbeitet, die durch den Wahlausgang bedingt sind, und gleichzeitig eine definitive Verfassung, welche die demokratischen Spielregeln endgültig festlegen soll.
Libyen im ersten Aufbau
Libyen indes ist etwas hinterher Es gibt eine neu ernannte Übergangsregierung, die das Land rasch soweit voranbringen soll, dass die ersten Wahlen im kommenden Juli stattfinden können. Vielleicht wird es nicht ganz so rasch gehen. Vorbedingung zur Wahl ist die Schaffung einer Sicherheitsstruktur, die das ganze Land umfasst, sich aber den provisorischen Behörden des Übergangs fügt. Dazu müssen auch die Waffen eingesammelt werden, die sich noch in den Händen vielfältiger Kampfgruppen befinden. Dazu müssen eine nationalen Polizei und Armee gebildet werden.
Um all das zu gewährleisten, bedarf es der Improvisation. So müssen rechtliche und administrative Verwaltungsapparate auf provisorischer Basis gebildet werden, die sich nach und nach aufgrund ihrer Integrität die nötige Anerkennung verschaffen.
Es muss eine allseitig anerkannte Übergangsregelung für die Wahlen festgelegt werden. Die Kriegsschäden sind soweit zu reparieren, dass das Land als ganzes zu funktionieren vermag.
Jemen, der Machthaber geht
Jemen ist noch im Gestrüpp, doch dieses beginnt sich zu lichten. Der Gewaltherrscher hat endlich seine Macht abgetreten. Er erhielt dafür ein – sehr umstrittenes – Amnestieversprechen. Ein provisorischer Präsident, der bisherige Vizepräsident, hat Wahlen auf den 21. Februar versprochen. Ein Regierungschef wurde ernannt, er soll eine Übergangsregierung zusammenstellen, die halb aus den Anhängern des bisherigen Machthabers und halb aus dessen politischen Gegnern bestehen soll. Wie weit die Protestbewegung noch mitreden kann, die sich vorläufig weigert, der versprochenen Amnestie des abgesetzten Ali Salehs zuzustimmen, bleibt offen.
Ob die Armeekommandanten aus der Familie Ali Salehs ihre Kommandos behalten werden, ist unbekannt, bleibt aber eine entscheidende Frage. Wenn es im Jemen, wie nun versprochen, ebenfalls zu Wahlen kommt, wird sich wahrscheinlich zeigen, dass auch dort die Hauptmasse der Bevölkerung wählen will, nicht bloss protestieren.
Syrien: ein Ende mit – wie viel - Schrecken?
Syrien steht noch vor dem Umsturz. Doch dass er kommen wird, ist beinahe sicher. Ungewiss bleibt, wann und unter welchen Verlusten an Menschenleben und Gütern. Ein blutiger Bürgerkrieg ist immer noch eine reale Gefahr. Die Arabische Liga sucht ihn abzuwenden, indem sie den Machthaber rasch zu entfernen versucht. Doch entscheidende Nachbarn Syriens - der Libanon und der Irak sowie die Grossmächte Russland und China sowie der Hauptverbündete des Landes, der Iran - weigern sich, Syrien zu boykottieren.
Der iranische Kriegshorizont
Schon jetzt ist die syrische Auseinandersetzung zum Bestandteil einer weiter gespannten Konfrontation geworden, die von Saudiarabien und von Israel aus gesteuert und angeheizt wird und bei der es um Rang und Einfluss des Iran und der schiitischen Minderheiten im arabischen Raum geht. Die Frage der iranischen Atombewaffnung und der damit verbundenen israelisch-amerikanischen Kriegsdrohungen verschärft diese Gegensätze und bedroht den gesamten nahöstlichen Raum.
Marokko, König und Demokratie
Marokko hat seinerseits kleine Schritte auf mehr Demokratie hin vollzogen. Die dortigen Wahlen, die als echte und nicht bloss als Scheinwahlen durchgeführt wurden, haben einer gemässigt islamischen Partei die meisten Stimmen (107 von 395 Sitzen) verschafft. Der König sollte nun, nach der von ihm selbst entworfenen Verfassung dieser Partei (PJD für „parti de la justice et de la démocratie“) den Regierungsauftrag erteilen. Sie wird allerdings im Rahmen einer Koalition zu regieren haben, und der König hat sich wichtige Vollmachten vorbehalten. Er bleibt Oberkommandant der Armee und bleibt zuständig für Sicherheitsfragen und Aussenpolitik. Nach den Wahlen war zu vernehmen, er werde auch den Vorsitz der Regierungssitzungen übernehmen. Ob er das wirklich tun wird, bleibt abzuwarten.
Die Protestbewegung, die alle Vollmachten den gewählten Behörden zuteilen und dem Herrscher entziehen will, hat die Wahlen boykottiert. Doch sie ist dabei offenbar, wie das für alle Länder zu gelten scheint, auf den Willen eines Grossteils der Bevölkerung aufgelaufen, sich nicht mehr bloss führen zu lassen, sondern mitzubestimmen.
Bagdad auf Sonderwegen
Im Gegensatz zu den nun neu beginnenden demokratischen Regimen in der arabischen Welt ist die irakische Demokratie nicht aus eigener Kraft entstanden, sondern durch fremde Waffengewalt erzwungen worden. Sie steht mit dem bevorstehenden Abzug der amerikanischen Truppen vor einer Bewährungsprobe eigener Art. Ob sie sie zu bestehen vermag, ist noch sehr ungewiss. Im Augenblick läuft die dortige Entwicklung auf eine Machtkonzentration in den Händen des gegenwärtigen Regierungschefs, Nuri al-Maleki, hin.
Kann die Wirtschaft nachziehen?
Einen wichtigen Anstoss zu allen Demokratiebewegungen im gesamten arabischen Raum hat die wirtschaftliche Lage gegeben. Es war die Arbeitslosigkeit der Jugend, welche diese primär auf die Strassen trieb. Die Demokratisierung alleine wird die Wirtschaftslage leider nicht ändern, jedenfalls nicht rasch und entscheidend genug, um den dringenden Anliegen der arbeitslosen Massen von Jugendlichen gerecht zu werden. Grosse Hoffnungen wurden ausgelöst. Wenn keine rasche Verbesserung der Wirtschaftslage eintritt, werden sie enttäuscht werden. Dies dürfte auf mittlere Frist, in den kommenden drei bis fünf Jahren, sehr wahrscheinlich der Faktor sein, der über die Zukunft der jungen Demokratien entscheidet.