Wenn diese Entwicklung sich auch andernorts und in anderen islamischen Gruppen in vergleichbarer Weise abzuzeichnen würde, könnte man darauf hoffen, dass die heute mächtige Ideologie des Islamismus eine konstruktive Weiterentwicklung und innere Wandlung durchzumachen vermag. Damit liesse sich möglicherweise das erreichen, was die amerikanischen Interventionsarmeen während der Administration von George W. Bush mit ihrer Zerstörung von Hunderttausenden von Menschenleben und der Verschwendung von Milliarden von Dollars nicht erreicht haben. Es wäre nicht weniger als die Konvergenz statt der bisherigen Divergenz zwischen islamischen Gesellschaften und der globalisierten Kultur mit "christlich-jüdischen" Wurzeln und amerikanischer Inspiration.
Milli Görüsh, eine türkische Islamisten-Gemeinschaft
Was Werner Schiffauer in fast zehnjähriger Feldforschung beobachtet, analysiert und wissenschaftlich belegt hat, ist die Entwicklung der islamischen Gemeinschaft Milli Görüsh im zuerst im deutschen Exil und später, etwa seit dem Jahr 2000, in ihrer neuen deutschen Heimat. Eine Besonderheit seiner ethnographischen Feldforschung liegt darin, dass er seine Beobachtungen und Analysen mit den Objekten seiner Forschung geteilt, besprochen und gelegentlich nach ihrem Befinden berichtigt hat, so dass nicht nur als Befragte sondern auch als Mitarbeiter an seinen Erkenntnissen mitgewirkt haben.
Milli Görüsh kam nach Deutschland mit einer ersten Generation türkischer Fremdarbeiter (später nannte man sie Gastarbeiter). Der Name bedeutet "Nationale Sicht"; dies war der Titel, den der Ingenieur, Professor und Politiker Necmettin Erbakan in der Türkei seinem wichtigsten politischen Manifest gegeben hatte. Die Gemeinschaft begann in Deutschland als jene seiner Anhänger in der Auswanderung.
Erbakan war ein Islamist. Er hat in einer langen und höchst umstrittenen Karriere in der türkischen Politik von 1970 an die erste islamisch ausgerichtete Partei gegründet und geleitet, die sich vorwagte, trotz der im Lande vorherrschenden und einzig legalen "laizistischen" Atatürk-Ideologie. Die Armee und die Richter haben seine Parteien vier mal verboten, und er hat sie jedes Mal unter neuen Namen neu gegründet und neu angeführt, sobald der Druck der Machthaber nachliess. Er fand in der Türkei ein gläubiges Stammpublikum, das ihm seine Stimmen gab, sobald gewählt werden durfte.
Erbakan war 1996-97 ein Jahr lang Ministerpräsident seines Landes, weil er damals die relative Mehrheit der Stimmen für seine Sicht der Dinge zu gewinnen vermochte. Die Militärs und die Richter sorgten dann allerdings für seine Absetzung und für ein neues Parteiverbot.
"Gerechte Ordnung" im Zeichen des türkischen Islams
Erbakan warb für eine "gerechte Ordnung" des Staates, die ihm als eine islamische Ordnung erschien. Dieser Begriff orientierte sich stark an der osmanischen Glanzzeit, deren Wiedergeburt unter islamischen Vorzeichen ihm vorschwebte. Wie alle Islamisten sah er die moderne Technologie als wertneutral an, und glaubte, sie in seinen Islamischen Staat einbauen zu können. Doch die Demokratie galt ihm als eine europäische Staatsform, mit der seine gerechte Ordnung islamischen Vorzeichens nichts zu tun haben sollte. Er lehnte auch alle Pläne ab, die Türkei in die Europäische Gemeinschaft zu integrieren.
Erbakans Schüler und jüngerer Mitstreiter war der heutige Ministerpräsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, bis zur Zeit als er sich von der islamistischen Partei trennte und seine eigene Partei aufzog, die er islamisch und demokratisch orientierte und die durch wiederholt gewonnene demokratische Wahlen seit dem Jahr 2002 zur heutigen Führungspartei der Türkei werden sollte.
Die Gemeinden von Milli Görüsh in Deutschland begannen als Erbakans Anhänger im Exil. Sie spalteten sich, als 1995 der radikale Islamist Metin Kaplan (in der damaligen Presse als der "Kalif von Köln" angesprochen) seine radikal islamistische Gruppe aufbaute und ein grosser Teil von Milli Görüsh ihm folgte. Die "Kalifatsbewegung" Kaplans wurde 2001 in Deutschland verboten, Drei Jahre später wurde Kaplan nach der Türkei ausgewiesen und dort zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Andere Gruppen der streng islamisch orientierten türkischen Fremdarbeiter blieben Erbakan treu.
Erste Generation: vorläufig in der unislamischen Fremde
Wie der der Autor deutlich macht, passte die damalige Lehre Erbakans zur ersten Generation der Auswanderer in Deutschland, und ihre Gemeinschaft prosperierte daher. In ihr wurde ein strenger, eher eng verstandener Islam gelebt und gepredigt, der weitgehend vom Gegensatz bstimmt war zwischen "unserm" Islam und "ihrem", unislamischen, fremden und oftmals als feindlich und gefährdend eingestuften Leben der Gastgesellschaft. Die Eingewanderten muslimischen Türken suchten vor allem ihre Identität zu verteidigen. Sie empfanden diese durch die so anders geartete deutsche Gesellschaft angegriffen und gefährdet oder wenigstens in Frage gestellt. Sie schlossen sich zu einer islamischen "Nationalen Sicht" zusammen, die eine Art Notgemeinschaft der türkischen Muslime in der Fremde darstellte
Die Einwanderer erwarteten damals, sie würden nach einigen Jahren der Schwerarbeit in Deutschland nach Hause in die Türkei zurückkehren. Dort, so hofften sie zuversichtlich, würden sie dann Erbakan und den Seinen mithelfen, die "Gerechte Gesellschaft" aufzurichten, die ihrem Glauben entsprach. Die Fremde wirkte unvermeidlich zunächst als eine Gefährdung der eigenen islamischen und türkischen Identität. Um sie zu verteidigen, schloss man sich zusammen und gegen aussen hin ab. Man glaubte sich ja nur vorübergehend in Deutschland.
Strenge Regeln als Halt in der Defensive
Eine defensive Religion entwickelt "Regelfetischismus", wie eine der Formulierungen des Verfassers und seiner wissenschaftlichen Fachgenossen lautet. Was erklärt, dass die Schari’a, die islamische Regeln formuliert und niederlegt, in diesen Gemeinschaften eine überragende Bedeutung erlangte, von mehr Gewicht als sie zuhause besessen hatte, wo das islamische Leben relativ fraglos gegeben war. Die Regeln der Schari'a wurden zur Abgrenzung, einer Mauer, hinter der man sich gegen den Ansturm der als bedrohlich, gefährdend, die eigene Identität in Frage stellend, empfundenen deutschen Kultur abschirmen konnte.
Dies erklärt auch das für die Aussenseiter immerwieder erstaunlich zähe Festhalten an den äusseren Symbolen des Glaubens, allen voran dem Kopftuch der Frauen, das über die Jahre zum wichtigsten Reizthema zwischen den beiden Gesellschaften wurde.
Die erste Generation der Einwanderer improvisierte Moscheen in Deutschland, um ihre eigene Religion zu bewahren und zu pflegen. Sie wurden auch Treffpunkte der nach innen gerichteten Gruppen und dienten als soziale und politische Zentren. Oft gab es dort auch einheimische Dinge zu kaufen, die man in Deutschland nicht fand, und sie wurden sogar Finanzzentren, aus denen Gelder nach der Türkei flossen, sowohl zur Unterstützung der Erbakan-Partei und des Islams in der Türkei wie auch als Anlagen zum Aufbau erhoffter künftiger Lebensgrundlagen in der Heimat.
Einwurzelung in Deutschland
Doch über die Jahre wurde es immer deutlicher, dass viele der Auswanderer nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren würden. 1973 war das Jahr, in dem die europäische Politik unter dem Druck der damaligen Rezession einen Einwanderungsstopp verfügte, dafür aber auch die Familienzusammenführung der in Europa lebenden Fremdarbeiter erleichterte. Aus den Wanderarbeitern wurden Familienväter. Frauen und Kinder wurden nach Deutschland gebracht, und es ergab sich die Aufgabe, die eigenen Kinder innerhalb des fremden Milieus zu erziehen. Man wollte sie sich nicht völlig entfremden, und schon daraus ergab sich die Notwendigkeit, Wege zu suchen, wie sie sowohl in der eigenen Religion und Tradition aufwachsen konnten wie auch in der durch ihre weitere Umwelt gegebenen fremden.
Eine Zwischengeneration von Jugendlichen entstand, die zum Teil in der Türkei ihre Jugend und erste Einschulung durchgemacht hatten, dann aber nach Deutschland verpflanzt worden waren. Bei manchen ergab sich eine besonders scharfe Abwendung von der Aufnahme-Gesellschaft, in jenen Fällen natürlich, in denen sie sich von ihren deutschen Altersgenossen und Lehrern mehr abgestossen als angezogen, nicht integriert sondern ausgegrenzt, glaubten.
Unter diesen entwickelte sich eine islamistisch gefärbte Kampfmentalität. Man wollte ankämpfen gegen die übermächtige fremde Gesellschaft, in die sie sich unvermittelt hineingeworfen sahen. Ihre Väter waren freiwillig gekommen, weil sie ein Auskommen suchten, das sie zuhause nicht finden konnten. Doch die Söhne und Töchter sahen sich ohne ihr eigenes Zutun in eine Doppelwelt versetzt mit Werten zuhause, die andere waren als jene auf der Strasse und in der Schule.
In dieser Zwischengeneration entstand die Jugendbewegung der Akinci, "Grenzkämpfer", zurückgreifend auf den Namen der "leichten Truppen" und "Plünderer" der Osmanischen Tradition. Wer sich abgestossen fühlte von seinen deutschen Altersgenossen, fand hier seine Zuflucht.
Die Rolle der Übersetzer
Es gab jedoch auch die Erfolgreichen, denen es gelang, weiterführende Schulen in Deutschland abzuschliessen und sich dann beruflich zu qualifizieren. Die Gründerväter der Moschee-Gemeinden zogen diese Leute heran, um ihre Gemeinden nach aussen zu vertreten. Sie besassen das sprachliche und das kulturelle Rüstzeug, um die Sache der Moscheen gegenüber der deutschen Umwelt darzustellen. Sie wurden "Übersetzer" wie ein griffiger Begriff der ethnographischen Forscher lautet.
Sie übersetzten die Anliegen der islamischen Gemeinde in eine Sprache, die den Deutschen einleuchtete und die Anliegen der Deutschen in Begriffe, die sie den Türken von Milli Görüsh verständlich machten. Bald besetzten diese doppelt Akkulturierten die Führungspositionen in den Zentralstellen von Milli Görüsh, die den einzelnen Gemeinden übergeordnet waren. Sie entwickelten eine Zentrale für rechtliche Fragen, welche die Anliegen der Gemeinden in rechtlichen Termini gegenüber den deutschen Behörden und Gerichten zu vertreten verstand.
Es gab auch eine sorgfältig koordinierte Jugendarbeit, die darauf abzielte, die jungen Leute, Frauen und Männer, im Umfeld der Gemeinden zu halten, sie nicht "den Gefahren der Strasse auszusetzen", sie aber auch gleichzeitig zu kompetenten muslimischen Bürgern innerhalb der deutschen Gemeinschaft heranwachsen zu lassen.
Die Jugendarbeit entwickelte einen weiten Fächer von Aktivitäten von der Nachhilfe in den Schulen über Sport und Wandern bis zur religiösen Ausbildung. Entsprechend der türkischen Familientradition nahm sich dabei der "Agabey", der ältere Bruder, der Anliegen und Bedürfnisse der Jüngeren an. Frauengruppen entstanden, von denen manche ein neues "feministisches" Koranverständnis zu entwickeln versuchten. Freilich ohne damit bei den Religionsgelehrten, die ihr traditionelles männliches Auslegungsmonopol verteidigten, völlig durchzudringen.
Ein Glück, in Deutschland zu leben
Die Tätigkeit dieser Führungseliten im Dialog mit der Gastgeber-Gesellschaft, nicht mehr in Abgrenzung gegen sie, hatte Folgen -zuerst für die deutsch erzogenen türkischen Muslime selbst. Sie lernten die Vorteile einer deutschen demokratischen und sozial orientierten Gesellschaft kennen, und sie erkannten, dass eine solche Gesellschaft, auch für ihre muslimischen Bürger, bessere Chancen bot, die von Erbakan und den Seinen angestrebte "gerechte Ordnung" zu verwirklichen, oder ihr wenigstens nahe zu kommen, als alle "muslimischen Staaten" in der Türkei oder anderswo es bisher erreicht hatten.
Es war ein Neffe Erbakans selbst, der Arzt Mehmet Sabri Erbakan, der zum ersten Mal der deutschen Gemeinde erklärte, es sei ein Glück in Deutschland zu leben, nicht eine Verbannung, weil die dortige weitgehend effektive Geltung der Menschenrechte, materielle und geistige Chancen für die Individuen und für die Gemeinschaften bot, die man in der Türkei nicht im gleichen Masse vorfinde.
Diese Eliten mussten allerdings stets dafür sorgen, dass ihre Gemeinschaften ihnen zu folgen vermochten. Sie mussten die neue Sicht der Dinge allmählich einführen und mit dem Einverständnis der Gemeinden durchsetzen. Dieses war zu erhalten, solange die Gemeinschaft sich streng an den islamischen Rahmen hielt.
Der Verdacht, die eigene Religion und die eigene Identität allmählich zu Gunsten der deutschen verwässern zu wollen, musste unbedingt vermieden werden. Aus diesem Grund so gut wie aus eigener Überzeugung sahen sich auch die im deutschen Kontext herangewachsenen Führungseliten der Zentralbehörden von Milli Görüsh veranlasst, den strengen und traditionellen Islam ihrer Gemeinden gegenüber den deutschen Gesprächspartnern hochzuhalten und zu verteidigen. Sie taten dies mit dem Hinweis auf die deutsche Verfassung, die freie Religionsausübung für alle forderte und sicherte.
Eine neue Ära des Misstrauens
Die Jahre nach 2000, in denen die in Deutschland erzogenen Muslime allmählich die Führungsrollen in den Milli Görüsh Gemeinden übernahmen, waren auch die des langsam wachsenden Misstrauens in Deutschland gegen "den Islam", das nach den grossen Terror-Anschlägen in Amerika um sich griff, aber auch stark durch die Entwicklung in Holland gesteigert wurde, nachdem Theo van Gogh dort ermordet worden war.
Der Verfassungsschutz begann, sich für die muslimischen Gemeinschaften, besonders die stenggläubigen unter ihnen, zu interessieren. Sie könnten ja, so wurde vermutet, als Brutstätten für radikale Tendenzen dienen. In der deutschen Gesellschaft entwickelte sich ein neuer Diskurs, der ein neues Verfassungsverständnis einforderte. Die Verfassung selbst, so wurde nun verbreitet, sei ein Produkt "unserer christlich-jüdischen Gesellschaft", diese bilde die deutsche "Leitkultur". Auch die Verfassung sei in deren Licht zu interpretieren. Es gelte das Entstehen von "Parallelgesellschaften" zu vermeiden.
Plötzlich gab es nun Leute, die von der Verfassung die Verteidigung "ihrer Leitkultur" erwarteten, während doch diese Verfassung selbst auf dem Grundsatz aufgebaut ist, dass alle Bürger die gleichen Rechte besitzen, unter ihnen auch das auf Freiheit der Religion und der mit ihr verbundenen Lebensformen.
Für die muslimischen Eliten von Milli Görüsh bedeutete dies, dass plötzlich die Gefahr heraufzog, die bisherigen Spielregeln, deren Vorzüge sie auch intern gegenüber ihren Gemeinden verteidigt hatten, könnten willkürlich geändert würden. Einige ihrer vor dem Bundesgericht erkämpften Urteile zu Gunsten der Anliegen ihrer Gemeinde (Schwimmunterricht für Mädchen, Kopftuch in den Schulen usw.) , wurden erneut auf Landesebene in Frage gestellt. Die Leute vom Verfassungsschutz äusserten den Verdacht, es könne sich ja bei den Loyalitätserklärungen gegenüber dem deutschen Grundrecht, um blosse taktische Verstellung handeln, dazu bestimmt, die Assimilation der türkischen Islamgemeinden in die deutsche Gesellschaft zu hintertreiben und heimlich gegen die Verfassung verstossende Aktivitäten durchzuführen.
Die Verfassung, so argwöhnten die Verfassungsschützer, werde von den der Verstellung Verdächtigen bloss angenommen, um sich ihrer für ihre eigenen heimlich gehegten Zwecke zu bedienen. Misstrauen griff um sich in der Gastgebergesellschaft. Die Arbeit der aufgeklärten Eliten der muslimischen Gemeinden wird dadurch gewaltig erschwert.
Aufklärung und Leitkultur - ein Gegensatz?
Der Beobachter, Werner Schiffhauer, muss neue Zweifel und Unsicherheiten registrieren. Die Führungsriege von Mille Görüsh sieht sich veränderten Spielregeln ausgesetzt. Die Gefahr scheint sich abzuzeichnen, dass die deutsche Gesellschaft plötzlich nicht mehr zu ihrem eigenen Grundgesetz steht, weil es als mehr der Aufklärung, denn der geforderten "Leitkultur" verbunden aufgefasst wird. Schiffauer selbst wird von mehr oder minder fanatischen Islamgegnern angeklagt, er sei seinen Freunden von Milli Görüsh auf den Leim gegangen.
Doch die grosse Entwicklungslinie, die aus der Studie hervorgeht, dürfte gesichert sein. "Es ist der Wert, den diese beiden grossen Geistestraditionen für einander haben können, der (...) ins Zentrum der geistigen Auseinandersetzung tritt. Die Alternative von Unterwerfung oder Selbstbehauptung wird gesprengt - möglich wird eine kritische Aneignung." So schliesst diese erste ausführliche und tiefgreifende Studie über den Postislamismus in Deutschland.
Zweiter Teil : Weiterführende Überlegungen zur Studie von Werner Schiffauer über Postislamismus.
Chancen des Postislamismus in der weiten islamischen Welt?
Die Studie von Werner Schiffauer über den "Postislamismus" im Falle von Milli Görüsh in Deutschland wirft Fragen auf, welche Schiffauer bewusst nicht beantworten will. Er beschränkt sich streng wissenschaftlich auf den fest umreissbaren Raum der türkischen Muslim-Gruppierung von Milli Görüsh und zeichnet ihre Entwicklung nach. Er betont, sicher zu recht, dass man eine solche Entwicklung nicht in der gleichen Art in der ganzen weiten muslimischen Welt zu erwarten habe.
Er weist aber auch darauf hin, das die Kenntnis von einem dieser Entwicklungswege mit seinen Rahmenbedingungen und Detailumständen, den analytischen Blick schärft, der auch auf andere Gruppen und Länder in der vielfältigen Weite der islamischen Welten fallen kann. Wenn man weiss, was konkret in einem der vielen Fälle geschehen ist, kann man leichter erkennen, welches die kritischen Wendepunkte und Entwicklungsansätze sind, die auch in anders gelagerten aber doch nicht ganz artfremden Fällen Beachtung zu finden haben.
Man könnte das deutsche Geschehen als einen Mikrokosmos ansehen und sich fragen, ob dergleichen oder entsprechendes auch in die weiten Kosmos der grossen islamischen Welt ablaufen könnte, oder - wenn nicht - wo die Haupthindernisse wohl liegen, die das erschweren oder gar verunmöglichen.
Das Vorbild einer funktionierenden Demokratie
In diesem Sinne und mit allen Reserven der ungesicherten Spekulation, die allen für Zukunftsprognosen gelten, darf man fragen: was bedeutet die geschilderte Entwicklung des Weges zum "Postislamismus" für die gesamte, weltweite Strömung des Islamismus im islamischen Raum und in der Diaspora? Kann man auch hier einen Postislamismus erwarten? Kann man schon ahnen, wie er aussehen wird?
Der Islamismus der türkischen Wanderarbeiter in Deutschland, die schliesslich zu deutschen Bürgern wurden, hat sich unter sehr spezifischen Voraussetzungen entwickelt und den Beginn eines Einstiegs in den Postislamismus erreicht, so kann man von Fischauer lernen. Besonderer Art war die Ausgangslage in der offiziell laizistischen Türkei, in der sich jedoch eine islamistische Opposition bemerkbar gemacht hatte. Besonderer Art war die Lage im Gastland, Deutschland, mit seiner um echte Demokratie und Meinungsfreiheit bemühten neugebildeten Eigendemokratie. Ausnehmend gut waren die Bildungschancen für eine landesfremde Unterschicht dank einer sozial orientierten, wohlhabenden Wohlstandsgesellschaft, wie sie in der übrigen Welt selten zu finden war.
Die Ausgangspositionen in der weiten islamischen Welt, so unterschiedlich sie im einzelnen sind, dürften selten gleich günstig liegen. Armut herrscht vor, wenn es sich nicht um Ölländer handelt. Der Druck einer gewaltigen jungen Bevölkerungshälfte und eines kaum zu bewältigenden Wachstums der Grosstädte durch wilde Zuwanderung vom Lande, lastet überall. Es fehlen die Arbeitsplätze vor allem die qualifizierten oberen Stellen für die oft arbeitslose, zahlreich aus den Mittel- und Oberschulen hervorquellende junge Bevölkerung. Weiter: es gibt keine Demokratie, bloss Scheindemokratien unter der Aufsicht von Alleinherrschern und ihren Klientelgruppen, die sich auf Sicherheitsschergen stützen. Die Schere von Reichtum und Armut öffnet sich immer weiter.
Das bedeutet, was in Deutschland mindestens Ansatzweise geschehen konnte, kann schwerlich in ähnlicher Form in der muslimischen Welt zustande kommen: durch die Erkenntnis einer neuen Führungselite, die in Kontakt mit der deutschen Kultur und Politik aufgewachsen war, dahingehend, dass ihr Gaststaat die besseren Chancen bot, eine Gerechte Gesellschaft zu entwickeln, als sie in allen real bestehenden und realistisch denkbaren muslimischen Staaten vorlag.
Das lebendige Vorbild einer funktionierenden Demokratie, die man am eigenen Leibe erlebt, gibt es in der islamischen Welt weit überwiegend nicht - höchstens vielleicht in Keimen, noch sehr jung und unausgegoren, in der heutigen Türkei oder in Indonesien, Malaysia? Insofern war die Entwicklung in Deutschland, durch Umstände gefördert, wie sie nur dort bestanden und ist sie nicht besonders relevant für die weitere muslimische Welt.
Doch dagegen steht: es gibt überall in der muslischen Welt ein Bewusstsein, dass "wir" Demokratie brauchen. Man sucht überall krampfhaft nach den Schuldigen, die man als dafür verantwortlich sieht, dass "wir" sie noch immer nicht bekommen haben - die Selbstkritischeren sagen: noch immer nicht haben erkämpfen können. Vielen unter den Einsichtigeren und Weitsichtigeren ist deutlich: die gegenwärtige Regierungsform ist nicht in der Lage, uns aus der wachsenden Krise zu retten.
Die Einmannherrscher und ihre Klientelgruppen können und werden "uns" nicht vor Unterbeschäftigung, steigender Armut der Armen und wachsendem Reichtum der Reichen, aussenpolitischer Schwäche, die mit vermuteter Ausbeutung durch die stärkeren Staaten einhergeht, Bildungs- und Ausbildungskrise, wissenschaftlicher und kultureller Stagnation bewahren. Sie sind vielmehr an diesen Missständen schuldig oder mindesten mitschuldig, möglicherweise sogar an ihrem Fortdauern interessiert..
Die Missstände fördern die Sache der Islamisten
Es waren und sind immernoch genau diese Missstände, die der islamistischen Utopie von der Rückkehr zum wahren Islam und seinem wirklichen Staat nach dem vermeintlichen Vorbild der Zeit des Propheten ihre Zugkraft verliehen und sie auch heute noch weiter antreiben. Allerdings, wo die Ideologen des Islamismus ihre Träume durchsetzten und die Macht ergriffen, haben sie die geschilderten Missstände nicht zu mildern vermocht, eher geschah das Gegenteil.
Iran ist das deutlichste Beispiel. Die dortige Jugend dürfte genau so unzufrieden mit ihren sich islamisch nennenden Machthabern sein, wenn nicht noch unzufriedener, wie die junge Bevölkerungshälfte und die nicht profitierenden immer stärker wachsenden Unterschichten in den "gemässigten" islamischen Ländern mit ihren Tyrannen.
Die islamistischen Protest-und Umsturzbewegungen in den verschiedenen Ländern sind nicht bereit, sich selbst in den wenig erfolgreichen Islamistengruppen zu erkennen, welche die Macht ausüben. In Iran sind es ja Schiiten, und je fundamentalistischer die Sunniten eingestellt sind, desto weniger schätzen sie diese. Aber auch sonst findet man leicht Ausflüchte. Die Islamisten, die der Macht nahe kommen und sie dann ganz oder weitgehend wieder verlieren, etwa im Sudan, in Algerien und wo es sonst noch in lokalen Teilbereichen geschah, werden von den Vertretern der reinen Ideologie nicht als echte Islamisten gesehen. "Wenn sie wirkliche gewesen wären, hätten sie ja die verheissene Gerechte Ordnung gebracht," raisonnieren sie.
Aufbruch aus dem Inneren der Gesellschaft
Doch gerade an diesem Punkt kann man sich auf die Erkenntnisse aus Deutschland beziehen. Der Aufbruch innerhalb von Milli Görüsh geschah nicht durch den Druck von aussen. Dieser stärkte mehr den "Regelfetischismus" ihres Glaubens, als dass er ihn hätte übersteigen helfen. Der Aufbruch kam von innen. Durch die Erkenntnis einer innerhab der Gruppierung erfolgreich und verdienstvoll aufgestiegenen Elite, die sich bewusst wurde und ihren Gruppenmitgliedern mindestens teilweise zu vermitteln vermochte, dass die Gesellschaft, in deren Schoss sie lebten, einer gerechten Gesellschaft näher kam, als die Realität in der islamischen Welt oder die Utopie der dort entwickelten islamistischen Thesen.
Ein solcher Aufbruch ist offensichtlich unendlich viel schwieriger und komplexer in der machthungrigen weltweiten islamischen Staatenwelt als im beschränkten Kreis der türkischen Diaspora in Deutschland. Doch er ist nicht undenkbar. Es gibt kritische Variabeln, die ihn fördern oder verhindern können.
Die wichtigste ist wohl: wie vorbildlich ist die reale Demokratie, die als Gegenideal zur islamistischen Utopie einen Durchbruch zu fördern hätte? Ist sie vergleichbar mit der Funktion, welche die real existierende deutsche Demokratie beim Umbruch in Milli Görüsch zu erfüllen vermochte? Diese Frage bringt den selbst verursachten Schaden ans Tageslicht, den sich die westlichen Demokratien unter amerikanischer Anführung durch die immer noch laufenden Kriege im Irak und in Afghanistan antun. Dies nicht nur im Bereich der menschlichen und materiellen Verluste und Schäden sondern auch in jenem der Glaubwürdigkeit.
Behinderte Ausstrahlung der westlichen Demokratie
Es braucht schon eine intime Kenntnis der politischen und sozialen Lage in Amerika, um zu erkennen, dass dort ein in vieler Hinsicht respektabler und immer noch zukunftsträchtiger weitgehend als gerecht ansprechbarer Staat besteht, der auch in mancher Hinsicht als Vorbild genommen werden kann. Wer nie in Amerika war und nur die Bomben kennen lernt, die dorther kommen, das ist natürlich die riesige Mehrheit der Muslime, kann immer schwerer zu dieser Erkenntnis gelangen. Besonders von ferne gesehen droht das Vorbild unglaubwürdig zu werden.
Weiter, die Bildungschancen: wer sich von der islamistischen Utopie befreien will und einen neuen Weg für seinen islamischen Glauben sucht, der ihm und seinen Gemeinden erlauben würde, nicht in Abschottung gegen die heutige Welt, so wie sie ist, sondern in konstruktiver Mitarbeit mit ihr zusammenzuleben, braucht Bildungsgrundlagen. Die Zusammenhänge der globalisierten Moderne sind höchst komplex und bloss noch als einigermassen rationaler und kontrollierbarer Vorgang zu erkennen, wenn man sie andeutungsweise übersieht. Je weniger man sie durchschauen kann, desto mehr erscheinen sie als blosse - fatale - Bedrohung, die einen aus seinen Angeln hebt und gegen die höchstens die Zuflucht zu einem Glauben zu helfen scheint, den man rettungssuchend umarmt.
Der "Regelfetischismus" blüht auf
Die frühen Stufen der "Verwestlichung", des Eindringens westlicher Ideen und Praxen in die islamischen Kulturen, war mit einem ausgeprägten Lernprozess verbunden. Von den Missionsschulen in Libanon ging im 19. Jahrhundert nicht weniger als die Erneuerung der arabischen Hochsprache aus, die damals die Fähigkeit erlangte, über Zusammenhänge der heutigen Welt mit westlichen Wurzeln, Prägung und Macht überhaupt mitzusprechen.
Doch dieser Lernprozess ist zerfallen, teilweise unter dem gewaltigen Druck der Massen, die in die neu gegründeten Staatsschulen und staatlichen Universitäten drängten und teilweise durch die Inflation, welche die Gehälter der Lehrer so stark reduzierte, dass sie bei Nachhilfestunden für die Kinder der Reichen ihre Zuflucht nehmen mussten. Teilweise auch durch den geringen Willen der autoritär geleiteten Staaten, Institutionen zu unterstützen, aus denen selbstständiges Denken hervorgehen kann. Dies hat sich besonders sichtbar im - staatlich gelenkten oder vom Staat kontrollierten - Pressewesen und Fernsehen gezeigt.
Das Bildungswesen liegt heute so sehr im Argen, dass in manchen Ländern die mittelalterlichen Theologieseminare (Madrasa, Plural: Madares), die "Taleban" hervorbringen, die maroden Staatsschulen ausstechen. Wo die Bildungsvoraussetzungen fehlen, ist eine Orientierung in der real bestehenden heutigen Welt und eine Erkenntnis, wo die wirklichen Vorteile und Nachteile liegen, schlechterdings unmöglich geworden. Als Ersatz wuchern die Mythen. Verglichen mit diesen Zuständen, ist ein deutsches Gymnasium ein Bildungsparadies, und dieses hat den Führungseliten der islamistischen Gruppe in Deutschland ihre Chance geboten, sich in der real existierenden heutigen Welt umzusehen und zurechtzufinden.
Islam unvereinbar mit Demokratie - ein Mythos
Trotz solchen und vielen weiteren Nachteilen, welche das heimische Milieu für die grosse Masse der Muslime aufweist, hat die Suche nach Demokratie in der Hoffnung auf einen Durchbruch, wenn nicht zur Gerechten so mindestens zur gerechteren Gesellschaft nicht aufgehört. Dass "der Islam" nicht mit Demokratie vereinbar sei, ist ein Mythos. Schon weil es "den Islam" als feststehende Grösse nicht gibt.
Der Mythos wird getragen von Islamisten, die im Falle eines gelungenen Umsturzes selbst zu regieren gedenken und auch von ihren erklärten Gegnern, Europäern und Amerikanern, die ein Feindbild benötigen, ohne das sie anscheinend nicht so recht prosperieren können. Zum Beispiel weil sich damit gute Geschäfte für die Waffenindustrie, und Hochkonjunktur für die Sicherheitsindustrie sowie soziales und politisches Prestige für die selbsternannten Islamexperten, Islam-Warner und Terrorismus-Fachleute erreichen lassen.
Der lange und gewundende Weg zur Demokratie
Doch zur Demokratie durchzudringen ist schwierig, wie es die Entstehungsgeschichte der westlichen Demokratien reichlich und blutig belegt. Die Hindernisse dabei sind im wesentlichen undemokratische Machtstrukturen, die ihre herrschende Position nicht aufgeben wollen. Nur wo der Islam, wie das vielen anderen Religionen auch immerwieder geschieht, von den Machthabern zur Festigung ihrer Machtstellung ausgenützt wird - und nur insoweit er sich dazu hergibt - wird er zum Hindernis der Demokratisierung.
Soviel kann man jedenfalls aus der deutschen Islamstudie lernen: wenn es zum Durchbruch kommt, den Schaffauer zu recht und sehr anschaulich darstellt als den Durchbruch von der Abgrenzung und Abkapselung zur Mitarbeit im politischen und sozialen Bereich, so geschieht dies aus der Entwicklung von innen heraus, von innen nach aussen - keineswegs durch äusseren Druck, der zum Gegenteil führt: Zu mehr Abkapselung und Absonderung - bis zur Selbstmordbombe.
Dies dürfte nicht nur für den kleinen Kreis der türkischen strengen Muslime in Deutschland gelten sondern auch für den weiten Kreis der islamischen Staatenwelt in ihrem Verhältnis zur globalen Moderne und zum politischen Regime der Demokratie (oder einer anderen noch zu erfindenden Form wirklichen Mitbestimmungsrechtes).