Der in Berkeley lehrende Philipp Lenhard legt eine Geschichte der Frankfurter Schule vor. Zu dieser philosophisch-sozialwissenschaftlichen Strömung zählen Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Jürgen Habermas und viele weitere klingende Namen.
1924 wurde in Frankfurt am Main das Institut für Sozialforschung eröffnet. Die auf einer Stiftung des Mäzens Hermann Weil und seines Sohnes Felix Weil beruhende wissenschaftliche Einrichtung wurde lose an die Frankfurter Universität angeschlossen und existiert dort – nach ihrem Exil während des Dritten Reichs – bis heute. In der philosophisch-sozialwissenschaftlichen Forschung des deutschen Sprachraums und darüber hinaus gibt es in den letzten hundert Jahren keine Institution von vergleichbarer Bedeutung.
Philipp Lenhard, Professor für Geschichte und Deutsch in Berkeley, hat dem bewegten Schicksal dieser Einrichtung eine grosse Monographie gewidmet. Das Buch erzählt von Menschen, die das Institut geprägt haben, berichtet von permanenten Disputen, aus denen die grossen Impulse resultierten, und es ist sich nicht zu schade, auch etwas von den Querelen und dem Klatsch zu rapportieren, die an keiner Stätte der Wissenschaft fehlen. Brillant geschrieben und wohldurchdacht aufbereitet, gibt Lenhards Institutsgeschichte Einblick in die epochale Arbeit einer Forschungseinrichtung sowie in deren von den historischen Dramen des 20. Jahrhunderts bestimmtes gesellschaftlich-politisches Umfeld. Das Ganze liest sich – das ist in diesem Fall keine Floskel – so flüssig und spannend wie ein raffinierter Roman.
Dem widerspricht nicht, dass der Verfasser seinen Lesern die Anstrengung des Mitdenkens der mitunter komplizierten theoretisch-philosophischen Diskurse keineswegs erspart. Indem er aber auch beim Blick in die Entstehung der oft bahnbrechenden Arbeiten den erzählenden Duktus beibehält, dürfte es Lenhard gelingen, sein Lesepublikum bei der Stange zu halten.
Im Bann des Marxismus
Die Anfänge des Frankfurter Instituts für Sozialforschung sind charakterisiert von der grossen Faszination des Marxismus. Vor allem das Marxsche Hauptwerk «Das Kapital» regte mit seiner radikalen Analyse des Wertbegriffs zu neuen sozialwissenschaftlichen und gesellschaftstheoretischen Sichtweisen an. Das Institut verstand sich denn auch als Forschungsstätte für wissenschaftlichen Marxismus. Felix Weil, der als Stifter auch an der inhaltlichen Entwicklung stark engagiert war, hatte aus taktischen Gründen versucht, die von ihm geteilte marxistische Ausrichtung des Hauses nach aussen möglichst zu kaschieren.
Um so lauter dröhnte der Paukenschlag, als der aus Wien geholte Institutsdirektor, der Staatsrechtler und Austromarxist Carl Grünberg, bei der Einweihung am 22. Juni 1924 umstandslos erklärte: «Auch ich gehöre zu den Gegnern der geschichtlich überkommenen Wirtschafts-, Gesellschafts- und Rechtsordnung und zu den Anhängern des Marxismus. (…) Es ist daher nur selbstverständlich, dass ich, sobald ich an wissenschaftliche Aufgaben meines Fachgebiets herantrete, dies tue, ausgerüstet mit der marxistischen Forschungsmethode. Sie soll auch am Institut für Sozialforschung, soweit dessen Arbeiten unmittelbar durch mich selbst oder unter meiner Leitung erfolgen werden, zur Anwendung gelangen.»
Damit nicht genug: Das Institut zog selbstverständlich nicht allein Interessierte an, die sich intellektuell mit marxistischer Analyse auseinandersetzen wollten, sondern auch kommunistische Aktivistinnen und Aktivisten, die in der Weimarer Republik den revolutionären Umsturz anstrebten. Kein Wunder, wurde das Institutsgebäude schon bald als «Café Marx» tituliert. Schon ein gutes Jahr nach der Gründung folgte der erste grosse Eklat: Das als Berliner Ableger des Frankfurter Instituts firmierende Sozialwissenschaftliche Archiv wurde polizeilich durchsucht und alle Angestellten in Haft genommen.
Doch eine Einrichtung der kommunistischen Propaganda war das Institut – entgegen zahlloser Gerüchte – schon in seinen marxistisch geprägten Anfängen durchaus nicht. Vielmehr etablierte es sich als ein Ort der offenen Auseinandersetzung. Hier trafen sich ein positives Interesse an Marxens Kapitalismuskritik und ein skeptischer Blick auf die sowjetische Wirklichkeit in engagierten Debatten. Innovativ war das Institut nicht zuletzt durch seine Zugänglichkeit auch für nichtakademische Interessierte.
Vertrieben aus dem NS-Staat
Mit der Direktion des Philosophen Max Horkheimer bewegte sich das Institut ab 1931 in Richtung der engen Verbindung von Sozialforschung und Gesellschaftstheorie, für die es berühmt geworden ist. Um die von Horkheimer gegründete Zeitschrift für Sozialforschung gruppierten sich die für die weitere Entwicklung des Instituts massgeblichen Persönlichkeiten, so insbesondere Leo Löwenthal, Friedrich Pollock, Erich Fromm, Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Herbert Marcuse.
Die wichtigsten Mitarbeitenden im und beim Institut waren zumeist Juden (oder, wie es bei den Nazis hiess, «jüdisch versippt»). Mit Hitlers Machtübernahme waren sie unmittelbar gefährdet. Das Institutsgebäude wurde von nationalsozialistischen Studenten wild beschlagnahmt und bereits im März 1933 offiziell geschlossen. Dank vorausschauender Planung konnte Horkheimer das Institut rasch in die bereits 1932 errichtete Zweigstelle bei der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf verlegen. Glücklicherweise gelang es Felix Weil, das Stiftungsvermögen rechtzeitig ins Ausland zu bringen und so vor Beschlagnahmung zu retten. Die Stiftung sicherte auch im Exil das Überleben des Instituts.
Die rigorose fremdenpolizeiliche Gesetzgebung der Schweiz veranlasste Horkheimer, schon kurz nach dem Wechsel nach Genf den Sitz des Instituts nach New York zu verlegen, wo sich eine Kooperation mit der Columbia University ergab. Bis Mitte der Dreissigerjahre kamen die meisten Mitarbeitenden in den USA an. Einige von ihnen folgten Horkheimer und Adorno 1940/41 nach Kalifornien.
Entwicklung der Kritischen Theorie
Im amerikanischen Exil entstanden eine Reihe wichtiger Publikationen und Forschungsarbeiten, die der bereits in Frankfurt begonnenen Ausarbeitung der «Kritischen Theorie» deutlichere Form verliehen. Entstanden ist ein Ensemble von philosophischen, soziologischen und psychoanalytischen Ansätzen zur ideologiekritischen Analyse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Herrschaftsmechanismen. Wegen des starken Einbezugs klassisch-marxistischer Sichtweisen gilt die Kritische Theorie auch als eine Form von Neomarxismus.
Mit ihrem gemeinsam im Exil geschriebenen Buch «Dialektik der Aufklärung» schufen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ein philosophisches Schlüsselwerk. Im Gegensatz zur oft kolportierten Meinung, das Buch laufe auf eine Absage an die Aufklärung hinaus, entwickelt es vielmehr eine schonungslose Analyse mit dem Ziel, die Aufklärung zu erweitern und zu stärken (Nachfahren von Horkheimer/Adorno sprechen mit Grund von einer «zweiten Aufklärung»).
Kaum weniger bedeutend war eine Reihe von sozialwissenschaftlichen Forschungsarbeiten, die im exilierten Institut entstanden, namentlich die grossen Untersuchungen zum Antisemitismus und zum Faschismus. Sie brachten wissenschaftliche Konzepte hervor, die das Verständnis dieser Phänomene auf eine neue Stufe der Verbindung von Empirie und Analyse hoben.
Die Frankfurter Schule und die Achtundsechziger
Im Oktober 1946 erging vom Frankfurter Oberbürgermeister und dem Rektor der Frankfurter Universität die formelle Einladung, das Institut wieder am ursprünglichen Ort zu errichten. Das war willkommen, aber nicht ganz einfach. Erst anderthalb Jahre nach der Einladung reiste Horkheimer nach Frankfurt, um Fragen des Eigentums am beschlagnahmten Institutsgebäude und weiteres zu klären und den Neustart vorzubereiten.
1951 wurde in Frankfurt ein neues Institutsgebäude errichtet, und in den Folgejahren nahm das Institut eine vielseitige und erfolgreiche Tätigkeit in der empirischen Sozialforschung auf. Horkheimer blieb Direktor bis zu seiner Emeritierung 1964 und übergab das Amt an den Kollegen Adorno, der das Institut von 1964 bis 1969 durch eine von schweren Unruhen geprägte Epoche steuern musste.
Die Bewegung der Achtundsechziger traf das Institut gerade deswegen besonders heftig, weil dieses mit dem marxistischen Erbe ein Wissenschaftsverständnis pflegte, das die revoltierenden Studenten für sich selbst reklamierten – es aber in der Praxis ganz anders lebten als dies unter der «Ordinarienherrschaft», wie sie den akademischen Betrieb nannten, Usus war. Unter den Auspizien von «68» galt es, die herrschaftskritischen Ansprüche der inzwischen so bezeichneten «Frankfurter Schule» zunächst einmal gegen den Institutsbetrieb selbst in Anschlag zu bringen.
Das war für die an autoritatives Auftreten gewöhnten Herren eine ziemliche Herausforderung. Da wurden laufend Vorlesungen gesprengt, Sit-Ins und endlose Vollversammlungen abgehalten, autonome Lehrveranstaltungen gefordert. Nicht selten ging’s laut und provokant zu und her. Jürgen Habermas, der inzwischen zum erweiterten Kreis des Instituts zählte, erntete einen Proteststurm, als er einen Vortrag Rudi Dutschkes auf dem Kongress des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds SDS in Berlin zum Thema Gewalt mit dem Etikett des «linken Faschismus» versah. Die «Basisgruppe Soziologie» verteilte in Frankfurt ein Flugblatt mit der Überschrift «Adorno als Institution ist tot!». Als der Totgesagte drohte, die Vorlesung ausfallen zu lassen, wurde er von drei Studentinnen umringt, die ihre Brüste entblössten und ihm Rosenblätter über den Kopf streuten.
Der in den USA gebliebene Institutsmitarbeiter Herbert Marcuse hatte sich in der Zwischenzeit zum radikalen Neomarxisten gewandelt und wurde zum Guru der Studentenbewegung. Er reiste eigens nach Frankfurt, um die Achtundsechziger in ihrem Furor gegen das von ihnen als reaktionär verschriene Institut zu unterstützen.
Obwohl es aussah, als sei die Kommunikation zwischen Lehrenden und Studierenden völlig zum Erliegen gekommen, gab es offenbar doch so etwas wie gegenseitigen Respekt. Als Adorno im August 1969 überraschend gestorben war, zirkulierte unter Studierenden der Plan, sein Begräbnis zu stören. Hans-Jürgen Krahl, einer der rabiatesten unter den Studenten (Adorno hatte ihn wegen seines wachen Intellekts trotz allem geschätzt), soll die Aktion persönlich verhindert haben, indem er drohte, er würde jeden, der den Traueranlass stören wolle, kräftig verprügeln. Das Argument verfing offensichtlich.
Nachhaltige Wirkungen
Die mit der jüngeren Geschichte des Instituts verbundenen Namen zeigen an, dass der marxistische Theorieansatz seine Dominanz verloren hat. Jürgen Habermas, um nur auf den wichtigsten Exponenten einzugehen, war nur vorübergehend mit dem Institut direkt verbunden. Er gilt aber dennoch als Hauptvertreter der späteren Kritischen Theorie. Habermas kommt vom Neomarxismus her, hat aber schon in seiner einflussreichen Habilitationsschrift «Strukturwandel der Öffentlichkeit» einer bürgerlich-liberal verfassten Gesellschaft das Wort geredet. In seinem Opus magnum «Theorie des kommunikativen Handelns» entwickelt er normative Vorstellungen, die sich auf dem Tableau der Ideologien als linksliberal einordnen liessen.
Der von 2001 bis 2018 als Institutsdirektor amtierende Axel Honneth ist wie Habermas ein Sozialphilosoph mit überdies ganz ähnlichen akademischen Prägungen wie Letzterer. Er hat die Kritische Theorie in der gleichen Richtung wie Habermas weiterentwickelt durch Analyse und Rekonstruktion ethischer Prinzipien, vermehrt aber auch mit Einbezug psychologischer und psychoanalytischer Aspekte. Seit 2021 steht das Institut unter der Leitung Stephan Lessenichs, eines Politologen und Soziologen. Es geht also weiter.
Das hier angezeigte Buch erzählt die Geschichte eines fulminanten wissenschaftlichen Aufbruchs, der die Energien des Forschungsdrangs und Erklärungswillens in einer Weise organisieren und bündeln konnte, dass er in Vertreibung und Exil nicht erlahmte, sondern sogar an Intensität und Qualität zulegte. Die so entstandene Frankfurter Schule mit ihrer Kritischen Theorie hat in Philosophie und Sozialwissenschaften gleich mehrere Generationen von Forschern inspiriert. Und auch wenn man heute von der Kritischen Theorie eher in historischer Perspektive spricht, sind deren Nachwirkungen doch äusserst vital. Dass dem so ist, zeigt sich nicht zuletzt an dem Umstand, dass eben jetzt die Zeit reif ist für eine erzählende Rückschau. Philipp Lenhard hat sie auf mustergültige Weise realisiert.
Philipp Lenhard: Café Marx. Das Institut für Sozialforschung von den Anfängen bis zur Frankfurter Schule, C. H. Beck 2024, 624 S.