Der Sturz des Assad-Clans verändert das gesamte Machtgefüge in der Levante. Iran und Russland sind aus dem Spiel, dafür gewinnen Israel und vor allem die Türkei neue Machtoptionen. Für Syrien winkt die Chance der Freiheit. Noch ist die Situation im Land fragil.
Der Umbruch in Syrien ist ein globales Ereignis. Der Sturz des 54-jährigen Regimes der Familie Assad bedeutet weit mehr als die Befreiung der Bevölkerung von einer mörderischen Diktatur. Das Assad-Regime war der letzte nahöstliche Erbe der Ordnung des Kalten Krieges, der es seine Macht verdankte. Seine enge Bindung an Russland ist die logische Fortsetzung der Bindung Syriens an die UdSSR seit 1946. Die UdSSR trug entscheidend zum Aufbau der Armee bei und überliess die Organisation der Polizei- und Sicherheitsdienste der DDR.
Mit Ausnahme der beiden Jemen überlebten die im Kalten Krieg entstandenen politischen Regime im Nahen Osten zwar den Fall der Berliner Mauer und behielten den diktatorischen Status, den sie im Kalten Krieg erlangt hatten. Doch zwanzig Jahre später brach ihre Ordnung im Zuge des Arabischen Frühlings zusammen. Nur das syrische Regime und seine Oligarchie überlebten, weil Assad seiner eigenen Bevölkerung den Krieg erklärte.
Dreizehn Jahre später hat der Arabische Frühling schliesslich dazu geführt, dass nun auch das Regime in Syrien innerhalb von elf Tagen erst wankte, dann zusammenbrach und am Ende verdampfte. Entscheidend waren nicht nur die neu aufgestellten und reorganisierten Milizen der drei wichtigsten Oppositionsbündnisse, sondern der Mobilisierungseffekt, den die Anfangserfolge westlich von Aleppo auslösten. Mit jedem Tag wuchs die Zahl der Städte und Dörfer, die sich bewaffneten und lokale Stellungen der regimetreuen Armee und ihrer Milizen übernahmen. Armeeangehörige ergaben sich und zogen Zivilkleidung an. Aus dem blutigen Beginn der Offensive wurde eine erstaunlich friedliche Machtübernahme.
Desaster für Iran und Russland
Am 8. Dezember um 5 Uhr morgens war das 54-jährige Assad-Regime Geschichte, der Diktator selbst nach Moskau geflohen. Der Umbruch bringt nun auch die bisherige Ordnung in der Konfliktlandschaft des Nahen Ostens ins Wanken. Die Achse des islamischen Widerstands, Kernstück der iranischen Interventionspolitik der letzten zwei Jahrzehnte, scheint zu zerbrechen und Geschichte zu werden.
Die Hisbollah hat mit ihrer Zustimmung zu einem Waffenstillstand mit Israel deutlich gemacht, dass ihr die nationale Politik derzeit wichtiger ist als die militante Solidarität mit der Hamas und die Rolle als Stellvertreter der iranischen Revolutionsgarden und als Vollstrecker ihrer Gewalt. Nun hat der Iran auch noch seine Bastion Syrien verloren, in die das Regime seit 2012 massiv militärisch investiert hatte. Es überrascht nicht, dass sich Teheran schnell auf die neuen Realitäten eingestellt hat. Die Schwächung des transnationalen al-Quds-Flügels der Revolutionsgarden dürfte Präsident Peseschkian nicht ungelegen kommen.
Noch härter trifft es Russland. Es verliert nicht nur seine Militärbasen in Syrien, die Hafiz al-Assad 1971 der UdSSR geschenkt hatte, sondern auch einen strategischen Pfeiler seiner noch aus Sowjetzeiten stammenden Nahostpolitik. Die Idee einer südlichen Einkreisung der Nato über Iran, Irak und Syrien, die schon zu Zeiten des Bagdad-Paktes grosse Bedeutung erlangt hatte, war innerhalb kürzester Zeit aufgelöst worden. Das militärische Desaster der russischen Truppen, die trotz Lufthoheit die Offensive nicht aufhalten konnten, ist mehr als eine Blamage. Die Atommacht scheint in Syrien zum Papiertiger geschrumpft zu sein.
Neue Hegemonialmächte in der Levante
Gewinner sind Israel und die Türkei, die sich künftig die Hegemonie in der Levante teilen werden. Mit der Besetzung des Hermon, eines über 2800 Meter hohen Bergmassivs an der syrisch-libanesischen Grenze im Bereich der 1974 vereinbarten Waffenstillstandszone zwischen Israel und Syrien, hat Israel ein Zeichen gesetzt. Sie soll nicht nur eine bessere Grenzsicherung ermöglichen, sondern auch das militärische Potenzial der syrischen Armee einschränken. Die Grenzsicherung wird damit begründet, dass man vom Hermon aus mit Radar weit ins libanesische und syrische Hinterland blicken und gegebenenfalls sogar Artillerie bis nach Damaskus einsetzen könne.
Mit dem neuen Regime hat sich die Türkei einen alten Traum erfüllt, nämlich wieder ein Machtfaktor in der Levante zu werden. Gestüzt auf einem islamisch fundierten, aktiven Bürgertum ähnlich den Trägergruppen der AKP in der Türkei soll Syrien mit der Türkei zu einer grossen Wirtschaftszone verschmelzen. Wie sich dies auf die Situation der kurdischen Gemeinschaften auswirken wird, ist nicht absehbar. Nordsyrische Milizen gehen mit türkischer Unterstützung vor allem gegen Stellungen der YPG (kurdische Miliz in Syrien), des syrischen Ablegers der PKK, vor. Sollten die SDF (Bündnis mehrerer Milizen in Syrien) im Nordosten Syriens auf Seiten der YPG verstärkt in die Kämpfe eingreifen, droht eine dramatische Ausweitung des Konflikts.
Der Umbruch in Syrien ist damit ein Ausläufer des Arabischen Frühlings. Mancher in der arabischen Welt hofft, dass mit dem Umbruch auch die Ideale des Arabischen Frühlings neue Wirkung entfalten und die Macht des neuen Autoritarismus gebrochen wird. Viel wird davon abhängen, ob der politische und gesellschaftliche Neuaufbau in Syrien gelingt oder ob sich das Land wieder zu einem autoritären ideologischen Staat entwickelt. Noch überwiegt auch in Syrien die Hoffnung, dass es diesmal gelingt und Syrien mit Verspätung das verwirklicht, wofür die Menschen im Arabischen Frühling gekämpft haben.