In den letzten Jahren hat die griechische Regierung praktisch ohne Opposition regiert, was dem Land und der politischen Kultur nicht guttat. Nun knirscht es im Parteiensystem. Nebst dem Niedergang der Syriza steht der ehemalige Ministerpräsident Antonis Samaras im Zentrum.
Um das griechische Parteiensystem zu verstehen, muss man etwas ausholen. Vor etwa 25 Jahren sah ich im Flugzeug den ehemaligen Ministerpräsidenten Kostas Mitsotakis. Er reiste mit seiner behinderten Frau, um die er sich kümmerte. Zwei seiner Kinder sind seither in seine Fussstapfen getreten, die Tochter Dora Bakoyanni und der Sohn Kyriakos, der heutige Ministerpräsident.
Politik im Griff zweier Clans
Die zwei anderen mächtigen Politikerfamilien sind die Papandreous – Andreas Papandreou gründete die sozialdemokratische Pasok – und Karamanlis. Karamanlis der Ältere war von den 50er bis in den 90er Jahren in der griechischen Politik und mehrmals Ministerpräsident. Sein Neffe Kostas Karamanlis war 2004 bis 2009 Ministerpräsident. Unter seiner Ägide wurde das Land ruiniert und kurz nach seinem Abtritt war Hellas pleite.
Das Spezielle ist, dass sowohl die Karamanlis-Familie, wie auch die Mitsotakis-Dynastie mit der Partei Nea Dimokratia verbunden ist. Der Krimiautor Petros Markaris hat in einem seiner Bücher erklärt, dass die Premierminister, die nicht einer dieser mächtigen Familien angehören, nur deren Statthalter sind. So wäre Kostas Simitis, Pasok-Ministerpräsident 1995–2004 der Statthalter der Familie Papandreou und Antonis Samaras, um den es heute geht, der Statthalter der Familie Karamanlis.
In Griechenland sind die Parteichefs praktisch Alleinherrscher. Sie müssen lediglich Rücksicht nehmen auf gewisse andere Alphatiere, die eine grosse Gefolgschaft haben und – falls sie nicht zufrieden sind – dem Parteichef in den Rücken fallen können. Und da diese Gefolgschaft meist langlebig ist, bleiben solche Querschüsse meist folgenlos.
Die Karriere des Antonis Samaras
Eines dieser Alphatiere ist Samaras. Er gehörte 1989 der konservativ-kommunistischen Koalitionsregierung an, die mit dem alleinigen Zweck zustande kam, die langjährige Pasok-Herrschaft von Andreas Papandreou zu beenden.
1990 wurde er Aussenminister in der Minderheitsregierung von Kostas Mitsotakis. Das Programm von Mitsotakis war sehr verhalten liberal. Einige Privatisierungen, nicht zuviel, etwas Zurückhaltung bei den Lohnzuwächsen. Mitsotakis blies von Anfang an der Wind entgegen. Immer und immer wieder wurde ihm sein Verhalten vor der Diktatur vorgehalten. Dass er ein Demokrat war und sich nicht angepasst hatte – er war in Deutschland im Exil – das zählte nicht. Jeder auch noch so kleine Liberalisierungsversuch wurde mit erbittertem Widerstand bekämpft. Und jede noch so kleine Privatisierung wurde mit einem sofortigen Dauerstreik beantwortet.
Κώστα, μαλάκα, ήρθαμε για πλάκα! schrien die Demonstranten – Kostas, Du W*****, wir sind zum Spass gekommen!
Aussenpolitik hat gerade in der unruhigen aussenpolitischen Tektonik des Südbalkans eine unmittelbare ökonomische Wirkung. Aussenminister Samaras fiel mir sofort als humorlos und verbissen auf. Samaras wurde 1977 durch den damaligen Ministerpräsidenten Karamanlis ins Parlament geholt. Er war also der Statthalter der mächtigen Karamanlis-Familie während der Regentschaft von Mitsotakis. Durch jede grosse Partei Griechenlands geht ein Riss. Ein Riss zwischen dem byzantinisch-orientalischen und dem westlichen Denken, dessen Gedankenwelt bis in die Antike zurückreicht. Und dieser Riss ging mitten durch die Regierung Mitsotakis. Samaras verkörperte das byzantinisch-orientalische Denken, obwohl er in den USA studiert hat.
1993 lag ein Plan vor, wie das Mazedonienproblem hätte gelöst werden können. Dieses hätte von beiden Seiten Zugeständnisse verlangt, war aber in der Summe für alle Beteiligten akzeptabel. Anstatt diesen Plan zu akzeptieren, verwarf ihn Samaras. Er punktete. Die Volksseele kochte. Nie habe ich mich in Griechenland so unwohl gefühlt, auch nicht in den Krisentagen der Jahre 2011 und 2015.
Der Lösungsplan für das Mazedonienproblem wurde aufgrund der knappen Mehrheitsverhältnisse im Parlament abgelehnt, weil Samaras mit der Opposition stimmte und damit im Sommer 1993 auch die Regierung Mitsotakis stürzte. Nach vierjähriger Abwesenheit übernahm wieder Andreas Papandreou mit seiner alten, müde gewordenen Mannschaft aus den achtziger Jahren. Und jetzt bewegte sich eine Weile gar nichts mehr.
Eine verspätete Polit-Kultur
Ich sah die Politiker am Fernsehen streiten und argumentieren. Mir war klar, dass hier eine ganz andere politische Kultur vorherrschte: sehr aggressiv, sehr populistisch, sehr opportunistisch und gegenüber der westlichen Welt verspätet. Die Linksparteien Griechenlands hatten die ganze Achtundsechzigerbewegung verpasst, weil damals Diktatur herrschte. Sie waren damals populistisch und nationalistisch. Die Rechtsparteien haben hingegen die gesamte Entwicklung der Liberalisierung der Märkte verpasst. Sie waren genau so etatistisch orientiert wie die Linksparteien, mit einem Unterschied: Es ist die grotesk reiche Oberschicht, die den Staat ausnimmt und nicht die Mittel- und Unterschicht. Auch die Rechtsparteien wollen in Tat und Wahrheit nichts von Privatisierungen wissen, wenn es hart auf hart geht. Auch sie wollen keinen Wettbewerb. Der Traum jedes Griechen ist Arbeit beim Staat oder bei den hunderten von Staatsbetrieben.
2009, Griechenland war nun ohne die notwendigen strukturellen Reformen und mit dem praktisch gleichen politischen Personal Mitglied der Eurozone geworden, wurde Georgios Papandreou von der Pasok Ministerpräsident. Kostas Karamanlis von der Nea Dimokratia, der das Land mit seiner Politik zugrunde gerichtet hatte, musste nach verlorenen Wahlen zurücktreten. Seither schweigt er eisern und hat seinem Neffen Kostas A. Karamanlis das Feld überlassen. Dieser war 2023 Transportminister und trägt die politische Verantwortung für das schwere Eisenbahnunglück von Tempi.
Die Krise von 2010
An einem Sonntagmorgen im März 2010 schauten wir in der Schweiz das griechische Satellitenfernsehen. Ministerpräsident Papandreou erklärte in englischer Sprache, dass sein Land die Schulden nicht mehr bedienen könne und dass er, um an frisches Geld zu kommen, in ein Reformprogramm eingewilligt habe.
Das Programm brach praktisch alle Tabus der neuen griechischen Wirtschaftsgeschichte: Privatisierungen, Lohnkürzungen im öffentlichen Sektor, Liberalisierung der geschlossenen Berufsgruppen und Kampf gegen die Steuerhinterziehungen. Zusätzlich wurde einmal mehr kräftig an der Steuerschraube gedreht. Die Erklärungen waren transparent und klar.
Die griechische Öffentlichkeit reagierte zuerst mit einer Mischung aus Wut und Schockstarre. Die Parteiführer wurden einer nach dem anderen eingeblendet: Der neue Oppositionsführer Samaras – wütend wie immer – bezeichnete das Memorandum als das falsche Medikament. Mit einem gewissen Recht zeigte er auf, dass diese Sparmassnahmen das Land noch weiter in die Rezession treiben würden. Aber Alternativen hatte er nicht zur Hand.
Papandreou war schnell seines Amtes müde. Wer wurde Ministerpräsident? Samaras wurde Chef einer Koalitionsregierung von Nea Dimokratia und Pasok, weil bei den vorgezogenen Wahlen keine Partei die absolute Mehrheit errungen hatte. Für mich überraschend wurde Samaras kein schlechter Ministerpräsident. Vor allem regierte er nicht derart autoritär, wie es rechte Regierungen in Griechenland zu tun pflegen. Das hängt wohl mit dem Koalitionspartner Pasok zusammen, der ihn kontrollierte.
In die Geschichte eingegangen ist Samaras auch dadurch, dass er der staatlichen Radio- und Fernsehgesellschaft ERT den Stecker zog – von einem Tag auf den anderen. Sicher war ERT kein Muster an Effizienz und stark vergewerkschaftet. Aber es war der einzige Sender, der auch Qualitätsprogramme anbot.
Wirtschaftlich saniert wurde das Land dann von der Linksregierung von Alexis Tsipras von der Koalition der radikalen Linken (Syriza). In den Wirren des Jahres 2015 gewann diese früher kleine Partei zwei Parlamentswahlen und regierte recht umsichtig. Aussenpolitisch kann Tsipras auch die Lösung des Mazedonienproblems für sich verbuchen.
Autoritäre Regierung, schwache Opposition
Seit 2019 regiert nun der Mitsotakis-Sohn Kyriakos mit absoluter Mehrheit. Seine Regierungszeit war geprägt von einer weiteren wirtschaftlichen Erholung. Der zeitweisen hohen Inflation wegen geht das allerdings an der griechischen Mittelklasse vorbei. Zusätzlich hat unter Mitsotakis ein völliger Zerfall der Pressefreiheit und eine grosse Relativierung der Grundrechte stattgefunden. Seit der Diktatur hatte nie mehr eine Regierung derart autoritär regiert.
Das hat nicht nur mit den autoritären Tendenzen von Mitsotakis und seiner Partei zu tun, sondern auch mit der Schwäche der Opposition. In der Coronazeit wurde der griechische Staat in einer Art übergriffig und repressiv, wie ich es mir nie vorstellen konnte.
Seit seinem Abtritt wurde es still um den früher sehr angriffigen Oppositionspolitiker und brillanten Rhetoriker Tsipras. Und nach seinem Rücktritt von der Parteiführung im letzten Jahr zerfiel Syriza völlig. Als seinen Nachfolger pflanzte Tsipras den reichen Amerikagriechen und Investmentbanker Stefanos Kasselakis in die Partei ein. Von ihm sind Schriftstücke überliefert, in denen er Lohnkürzungen und Entlassungen forderte. Wie das zur radikalen Linken in Griechenland passt, ist unklar. Die erfahrenen Politiker und altgedienten Parteimitglieder hatten das Nachsehen. Damit waren für Kasselakis die Messer gewetzt. Der der LGBT-Gemeinschaft angehörende Neo-Politiker half der Regierung Mitsotakis, in Griechenland die Ehe für alle durchs Parlament zu bringen – ein Projekt, das an der griechischen Lebenswirklichkeit komplett vorbeigeht – anstatt sich um die realen Probleme des Landes zu kümmern. Die Partei zerfiel in ungefähr vier Teile und mittlerweile ist wieder die ebenfalls schwache Pasok offizielle Opposition.
Es ist der couragierte Chef der im Parlament vertretenen «Unabhängigen Griechen» Kyriakos Velopoulos, der inoffiziell die Rolle des Oppositionsführers spielt. Velopoulos interveniert im Parlament, stellt Fragen, formuliert Anträge – wie das ein Oppositionsführer tun sollte. Wenig davon ist erfolgreich, weil die anderen Oppositionsparteien – wie das Beispiel Syriza zeigt – entweder im Tiefschlaf versunken scheinen oder andere Sorgen haben, als der Regierung auf die Finger zu schauen.
In der Zwischenzeit kann Mitsotakis ruhig seine Kreise ziehen. Er macht das, was Brüssel und Washington ihm auftragen und die EU und die USA verschonen ihn mit Kritik an seiner Menschrechtsbilanz. Was er tut, ist nicht immer populär – die Etablierung einer neuen Nato-Basis in Alexandroupolis oder die Unterstützung der Ukraine mit Waffen, die Griechenland im Kriegsfall selber brauchen würde, sind zum Beispiel sehr unpopulär – oder stark umstritten wie die Einführung der Ehe für alle oder der obligatorischen gemeinsamen Obhut im Scheidungsfall – und zielen an den Problemen der auch dann besonders streitsüchtigen Griechen vorbei, wenn die Ehe zu Brüche geht. Bisher machte das nichts, weil die Opposition schläft oder mit sich selbst beschäftigt ist.
Ein Polit-Dinosaurier regt sich
Das könnte sich ändern und der Grund hat einen Namen: Antonis Samaras. Der seit 1977 praktisch ununterbrochen im Parlament sitzende Polit-Dinosaurier kritisiert in der letzten Zeit verstärkt die Regierung. Das begann bei der Ehe für alle, als er den Widerstand gegen das Projekt anführte. Hätte die Opposition nicht geholfen, wäre die Vorlage auf Grund der Abweichler innerhalb der Nea Dimokratia gescheitet. Es ging aber weiter: In letzter Zeit lässt Samaras vor allem an der griechischen Aussenpolitik kein gutes Haar. Das ging so weit, dass ihn Mitsotakis kürzlich aus der ND-Parlamentsfraktion ausschloss.
Sicher hat Mitsotakis der Ereignisse von 1993 wegen noch ein Hühnchen mit Samaras zu rupfen. Aber – um mit der Analogie des Krimischriftstellers Petros Markaris zu sprechen – Samaras ist der Statthalter der Familie Karamanlis, der sich ein grosser Teil der ND zugehörig fühlt. Verlässt er die ND mit seinen Anhängern und schart er die innerparteilichen Opposition um sich, dann kann es für Mitsotakis kritisch werden. Wird Samaras, nachdem er den Sturz von Mitsotakis Vater herbeigeführt hat, nun auch zum Stolperstein für den Sohn? Sicher ist: Es rumpelt im Jurassic Parc der Polit-Dinosaurier zu Athen.