Abu Mohammed al-Jolani, der neue starke Mann in Syrien, könnte unruhige Zeiten vor sich haben. Es ist nicht anzunehmen, dass seine radikalen islamistischen Gegner ihn lange gewähren lassen. Al-Jolani hat mit seinen 42 Jahren schon ein aufregendes Leben hinter sich.
Am vergangenen Sonntag betrat er die Umayyaden-Moschee in Damaskus, eine der ältesten Moscheen der Welt. Er trug eine einfache grüne Militäruniform und lächelte. Die Männer, die sich versammelt hatten, standen auf. «Bleibt ruhig sitzen, meine Brüder, und denkt an Gott, den Allmächtigen», sagte er.
Viele der Anwesenden wussten gar nicht, wie der neue Führer nun wirklich heisst. Er bezeichnete den Sturz des Assad-Clans als «einen Sieg für die islamische Nation» und rief zum Nachdenken und Beten auf. «Ich habe dieses Land vor über zwanzig Jahren verlassen, und mein Herz hat sich nach diesem Moment gesehnt», sagte er.
Eigentlich heisst er Ahmed al-Sharaa und wurde 1982 in Riad in Saudi-Arabien geboren. Aufgewachsen war er in einem vornehmen Viertel von Damaskus. Schon früh legte er sich den Kampfnamen Abu Mohammed al-Jolani – auf Deutsch oft Abu Muhammad al-Dschaulani geschrieben. Diesen «nom de guerre» verwendet er seit zwanzig Jahren. Vieles ist geheimnisvoll in seinem Leben.
Fünf Jahre im Gefängnis
Er studierte Medizin und zwischen 2003 und 2006 kämpfte er an der Seite der jihadistischen Rebellen gegen die Amerikaner im Irak. Er wurde festgenommen und verbrachte fünf Jahre in Gefängnissen. 2011 kehrte er nach Syrien zurück und engagierte sich beim Islamischen Staat (IS) und später bei Al-Kaida, wo er eine führende Rolle spielte.
2017 begann sein wirklicher Aufstieg. Er übernahm die islamistische Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS, Komitee zur Befreiung der Levante), die von Idlib in Nordsyrien aus ihre Machtstellung ausbaute. Al-Jolani gelange es, seine Gegner an die Wand zu spielen und sich als einziger HTS-Führer zu profilieren. Zwei Millionen Menschen standen nun in der Region Idlib unter seiner Herrschaft.
Mitte November dann schritt er zur Tat und führte die die Kämpfer der von ihm dominierten Rebellenkoalition in einen Feldzug Richtung Süden. Zuerst fiel Aleppo, die stark zerstörte Millionenstadt im Norden. Die syrischen Machthaber und die Welt staunten. In schnellem Tempo zogen die Rebellen Richtung Damaskus: Hama fiel, Homs fiel, und am vergangenen Samstag erreichten die Aufständischen die Hauptstadt. Nur zwölf Tage dauerte der Feldzug. Zu Kämpfen kam es nur sporadisch.
«Verantwortungsvoller Umgang mit Chemiewaffen»
Was ist von al-Jolani zu erwarten? Die USA und Grossbritannien hatten ihn, wie alle Mitglieder des IS und Al-Kaidas auf die Terrorliste gesetzt und ein Kopfgeld von zehn Millionen Dollar ausgesetzt. Ist er nun ein Terrorist, oder will er einen gemässigten islamischen Staat aufbauen, wie es in seiner Umgebung heisst? Einmal hatte er signalisiert, dass er sich mit dem Westen arrangieren wolle.
Kurz nach der Machtübernahme in Damaskus erliess al-Jolani eine Generalamnestie für all jene Mitglieder der syrischen Armee, die nicht freiwillig, sondern aufgrund der Wehrdienstpflicht den syrischen Streitkräften beitraten. Als erstes befreite er Hunderte Gefangene im berüchtigten Foltergefängnis Saidnaja, in dem Zehntausende hingerichtet worden waren. al-Jolani erklärte, er wolle mit den Chemiewaffen, die das Regime al-Assad hinterliess, «verantwortungsvoll» umgehen und sie international überwachen lassen.
In der Umayyaden-Moschee in Damaskus sagte er am Sonntag: «Dieser neue Triumph, meine Brüder, markiert ein neues Kapitel in der Geschichte der Region.» Syrien sei ein «Tummelplatz für iranische Ambitionen, die Verbreitung von Sektierertum und Korruption» gewesen, doch nun werde «Syrien durch die Gnade Gottes des Allmächtigen und durch die Bemühungen der heldenhaften Mudschaheddin gereinigt». Iran und sein Stellvertreter, der Hisbollah, waren die wichtigsten Unterstützer von Assads Regierung. «Es gibt keinen einzigen Haushalt in Syrien, den der Krieg nicht betroffen hat. Gelobt sei Gott, heute erholt sich Syrien.»
Regierungschef al-Baschir
Der gut 40-jährige Mohammed al-Baschir hat sich am Mittwoch in einer Fernsehansprache dem Volk als amtierender Regierungschef Syriens vorgestellt. Er war am Montag von einem hochrangigesn HTS-Germium unter Führung von al-Jolani bestimmt worden, eine provisorische Regierung bis zum 1. März zu führen. Al-Baschir spielte bisher eine einflussreiche Rolle in der Rebellenhochburg Idlib im Norden des Landes, wo al-Jolani seinen kurzen Siegszug gestartet hatte. Vor seiner Ernennung war er Chef der so genannten Heilsregierung der Rebellen im Nordwesten Syriens und hatte zuvor das Amt des Entwicklungsministers inne. Die Heilsregierung mit eigenen Ministerien wurde 2017 in der Region Idlib eingerichtet, um den Menschen in dem von den Rebellen kontrollierten Gebiet zu helfen, die von staatlichen Dienstleistungen abgeschnitten waren. An dem Treffen am Montag sollen auch Minister der früheren Assad-treuen Regierung teilgenommen haben. Ziel sei eine reibungslose Übergabe der Regierungsgeschäfte. Starker Mann bleibt al-Jolani.
Neue Kämpfe?
Doch al-Jolani und al-Baschir sind nicht die Einzigen, die in Syrien einen Machtanspruch erheben. Sie sind allerdings im Moment die Prominentesten und vielleicht die Einflussreichsten. Doch der Islamische Staat und Al-Kaida sind noch immer da und verfügen in mehreren syrischen Regionen über erheblichen Einfluss. Einige streben eine Herrschaft à la Taliban an. Die US-Regierung war die erste, die befürchtete, dass der Sturz Assads ein Machtvakuum schaffen könnte, von dem die islamistischen Terroristen profitieren könnten. Amerikanische Beamte schliessen nicht aus, dass es demnächst in Syrien wieder zu Gewalt und zu Kämpfen kommen könnte.
Wird sich al-Jolani durchsetzen und für Ruhe sorgen können?
(Journal 21)