Aleppo, Hama, Homs und jetzt Damaskus: Es ging schneller, als es sich die meisten vorstellen konnten. Innert weniger Tage wurde die über ein halbes Jahrhundert lang herrschende und wütende Assad-Dynastie weggefegt. In ganz Syrien wird gejubelt.
An Hama, mittelgrosse syrische Stadt zwischen Homs und Aleppo, erinnern sich Syrien-Reisende gerne: riesige hölzerne Wasserräder, Noria genannt, drehten sich Tag und Nacht knarrend, bewegt vom Orontes, und beförderten das Wasser des Flusses auf eine höhere Ebene, für die Bewässerung der intensiv bearbeiteten Felder in der Nähe. Begleitet von diesem Knarren konnte man sich sanft in den Schlaf wiegen lassen. Wachte man wieder auf, war es immer noch da.
Doch schaute man von einer der über den Fluss führenden Brücken zur der Altstadt gegenüberliegenden Stadtseite, sah man einen kahlen, jahrzehntelang unbebauten Abhang. Warum diese Leere fast in der Stadtmitte? Weil Hafez al-Assad, der Vater des jetzt gestürzten Präsidenten, im Jahr 1982 die Panzer seiner Armee genau auf diesen Teil von Hama hatte richten lassen, den Feuerbefehl gab und das Viertel zertrümmern liess. 40’000 Menschen sollen ums Leben gekommen sein – für Hafez al-Assad nicht der Rede wert. Er, respektive seine Mitarbeiter, erklärten das Massaker für notwendig, um die damalige Rebellion einer Gruppe von Islamisten zu beenden und im ganzen Land Ruhe (Friedhofsruhe) und (Schein)-Ordnung herzustellen.
Verkörperung der arabisch-nationalistischen Baath-Ideologie
Der alte Assad, Hafez, gelangte 1970 an die Macht. Das heisst, die Familienherrschaft erstreckte sich über 54 Jahre. Hafez al-Assad wurde mit dem Übernamen Sphinx charakterisiert. Er regierte sein Land mit eiserner Hand, bei öffentlichen Auftritten und in Interviews jedoch immer lächelnd und mit einer irritierenden Art von väterlicher (Schein-)Güte. In der komplexen Welt des Nahen Ostens bewegte er sich tatsächlich wie eine «Sphinx»: Sein Regime nannte sich sozialistisch, präsentierte sich als Verkörperung der arabisch-nationalistischen Baath-Ideologie, beförderte im Alltag aber den Machtzuwachs von mafiaähnlichen, nicht einmal dem Namen nach noch sozialistischen Zirkeln. Seine Anhänger, mehrheitlich der alawitischen Gemeinschaft rund um Lattakia entstammend, profilierte sich durch das Skandieren von eingängigen Propaganda-Slogans wie «Haafez Assad, rams ath-thaura arabia», also «Hafez Assad, Symbol der arabischen Revolution», und bildeten bald einen Staat im Staate.
Die sunnitisch-muslimische Bevölkerungsmehrheit versuchte al-Assad ruhigzustellen, indem er landauf, landab grosse Moscheen errichten liess. Aussenpolitisch bewies er Geschick: Er akzeptierte nach dem Yom-Kippur-Krieg von 1973 den Amerikaner Henry Kissinger als Vermittler und den Verlust des Golan-Gebiets und sorgte dafür, dass bis zum Ende seiner Regierungs- und Lebenszeit (im Jahr 2000) nicht ein einziger Schuss gegen den Erzfeind Israel über die Grenze abgefeuert wurde.
«Damaszener Frühling»
Seine Nachfolge konnte er jedoch nicht wunschgemäss regeln: Jener Sohn, den er für eine Herrschaft mit eiserner Hand eigentlich ausersehen hatte, Basil, starb bei einem Autounfall, und so kam es, dass er den anderen Sohn, den politisch unerfahrenen Augenarzt Baschar, aus London zurückbeorderte.
Baschar al-Assad zeigte zunächst die Bereitschaft zu Reformen (man sprach schon von einem «Damaszener Frühling» – aber diese Versuchsphase dauerte nicht lange, dann fiel das Regime zurück in die brutale Repression, was die USA (damals unter der Präsidentschaft von George W. Bush) mit Sanktionen bestraften. 2011, als in Tunesien und Ägypten mit dem «Arabischen Frühling» Aufbruchstimmung aufkam, verbreitete Baschar al-Assad noch die Illusion eines reformfähigen Staats, aber den milden Worten folgte harte Unterdrückung jeglicher Opposition. Assad und seine Anhänger allerdings stellten das anders dar: Die US-Amerikaner hätten zielgerichtet am Sturz des Regimes in Damaskus gearbeitet, oppositionelle Kräfte mit Waffen und Geld ausgestattet und auf diese Weise den Ausbruch des internen Konflikts provoziert.
Elf Millionen auf der Flucht
Syrien schlidderte in einen Bürgerkrieg, der sich bald zu einem Krieg entwickelte, in dem verschiedene regionale Mächte blutig mitwirkten und in dessen Verlauf der terroristische Islamische Staat innert weniger Jahre an Macht gewann. Baschar al-Assad appellierte an Russland, Iran und an die libanesische Hisbollah-Miliz, und dank deren Hilfe konnte er den Krieg so lange durchstehen, bis die verschiedenen Gegner (Islamisten, Säkulare, pro-türkische Kräfte, Kurden) sich entweder geschlagen gaben oder sich in Teilgebiete auf dem Territorium des syrischen Staats zurückzogen.
Und bis das Volk, sein eigenes Volk, unter dem Druck des Faktischen und der mehr und mehr um sich greifenden Armut resignierte. Rund 80 Prozent der Bevölkerung waren schliesslich auf ausländische Hilfe für die Ernährung und die medizinische Versorgung angewiesen, etwa fünf Millionen flüchteten ins Ausland (hauptsächlich in die geografische Nachbarschaft, in die Türkei, den Libanon, nach Irak) und fünf bis sechs Millionen wurden zu Binnenflüchtlingen im eigenen Land.
Zumindest eine provisorische Erleichterung
Dass seine Herrschaft auf tönernen Füssen stand, wurde erkennbar, als er respektive seine Streitkräfte sich bei israelischen Luftangriffen verdächtig-konsequent in Schweigen hüllten: Die syrische Armee reagierte auf solche Attacken, auch wenn sie syrische Soldaten trafen und töteten, nicht mit einem einzigen Schuss (vrgl. Beitrag vom 19. August 2024: «Dröhnendes Schweigen in Damaskus»). Aber dass die syrische Armee dann, beim aktuellen, rasanten Vormarsch der Islamisten von Hayat Tahrir al-Sham, so schnell «die Flinte ins Korn» werfen würde, wie das in den letzten Tagen geschah, war dennoch überraschend.
Was nun? Der Anführer der islamistischen Miliz, Abu Mohammed al-Julani (mit bürgerlichem Namen Ahmed al-Sharaa) bekundet Bereitschaft, mit anderen Kräften zusammen zu arbeiten und Syrien neu zu gestalten. Welche Taten solchen Worten folgen werden, ist offen. Millionen von Syrerinnen und Syrern allerdings dürften die Zeitenwende mit zumindest provisorischer Erleichterung quittieren – schlimmer als es war, kann es wohl kaum kommen.