Die Schweiz ist gemäss übereinstimmenden Ratings seit Jahren Innovationsweltmeister. Ein phantastisches Zeugnis schweizerischen Erfindergeistes! Jetzt muss dieser Funken auf die erstarrten politischen Strukturen überspringen. Bestehendes ist in Frage zu stellen. Kreative Zerstörung auf diesem geschützten Heimatmarkt ist angesagt. Wohin Reformunfähigkeit führt, macht uns Nachbar Frankreich vor. Die Zeichen stehen nicht schlecht, dass wir nächstens in der Rangliste der politischen Reformfähigkeit wieder aufsteigen werden.
Reformstau in der politischen Schweiz
Woran mag es liegen, dass unser Land in wirtschaftlicher Hinsicht in der Champions League mitspielt, um erstaunliche spielerische (innovative) Fähigkeiten beneidet wird, jedoch was politische Beweglichkeit und Strukturreformtalent betreffen, in der zweiten Amateurliga vom Abstieg bedroht ist? Punkte sammeln, um in die höhere Liga aufzusteigen, kann keine Mannschaft ohne starke Willenskraft und klare Zielvorgaben.
Beginnen wir bei uns selbst, der Zivilgesellschaft – diese hat es in der Hand, jene Politikerinnen und Politiker zu wählen, die Reformen anstreben. Fokussieren wir anschliessend auf das helvetische Lobbying-System und werfen wir einen Blick auf drei grosse Brocken anstehender Reformthemen. Zum Schluss dieser notwendigerweise drastisch verkürzten Übersicht landen wir einmal mehr beim „Piece de résistance“ der politischen Institutionen, dem Ständerat.
Mutlose Schweiz?
Seit bald 25 Jahren ist unsere Bevölkerung gespalten durch, nein, nicht den Röstigraben, sondern durch den Blochergraben. Ein Ideologe, dessen Kriegsvokabular aus Verteidigen, Reduit-Denken, Verherrlichung der Vergangenheit und Verteufelung ausländischer Institutionen besteht, hat es fertig gebracht, dass Angst statt Zuversicht im Land herrscht. Eurokraten, kriminelle Ausländer, fremde Richter, aber auch unsere eigenen Eliten und „die da oben“ – sie alle trachten darnach, unsere Schweizerwerte zu zerstören. Der Unsinn hat System und bewirkt, dass entscheidende Abstimmungen unser Land immer wieder in zwei Lager spalten. Zukunftsbewältigung geht anders. Statt Phantomgefahren mit mentalen Hellebarden zu bekämpfen, sollten wir jene tatsächlichen Herausforderungen definieren, deren Nichtbewältigung unser Land zurückzuwerfen droht. Wählerinnen und Wähler haben es in der Hand, jene politischen Kräfte zu stärken, deren Planungshorizont auch ausserhalb der Landesgrenzen und deren Zielbilder in der Zukunft liegen.
Fremdgesteuerte Politik
Ein verdeckter, aber gewichtiger Strukturfehler unseres politischen Alltags in Bern ist der Einfluss starker Lobbyisten-Kreise. In den Sitzungszimmern der eidgenössischen Milizkommissionen, wo die ausführenden Verordnungen zusammengebastelt werden, regieren die Verbände. Als Folge des Referendums- und Initiativrechts – hundertjährige Strukturen – „müssen die Erlasse vorweg gegenüber mächtigen Verbänden abtemperiert werden“, dies die dezidierte Meinung Beat Kappelers. Stellvertretend und symbolisch: Der Bauernverband lässt grüssen, er repräsentiert weniger als ein Prozent der Arbeitnehmenden und doch steuert er unser Land … in die Vergangenheit. Nur am Rande sei vermerkt, dass die notwendigen Unterschriftenzahlen für Referenden und Initiativen geradezu provokativ und lächerlich klein sind – sie basieren auf einer Schweiz des letzten Jahrhunderts mit weniger als halb so viel Einwohnern wie heute.
Überfälliges Reformprojekt
Seit rund 15 Jahren diskutieren wir im Land über die Reform unserer Altersvorsorge (heute genannt Rentenreform 2020). Relevante Abstimmungen 2004 und 2010 sind gescheitert. Obwohl dringender Handlungsbedarf eigentlich von fast niemandem bezweifelt wird, zeichnet sich keine ganzheitliche, erfolgversprechende Lösung ab. Um die Renten der 1. und 2. Säule langfristig zu finanzieren, hat Sozialminister Alain Berset ein umfassendes Reformpaket ausgearbeitet. Unter anderem soll das Rentenalter für Frauen von heute 64 Jahre auf 65 Jahre angehoben und somit dem Rentenalter der Männer angeglichen werden.
Längst ist offensichtlich, dass sich grosse Lücken in der Finanzierung versprochener Altersrenten (AHV, 2. Säule) öffnen, dennoch kommt das Projekt nicht voran und es wird wohl an der Urne ein weiteres Mal scheitern. Völlig unrealistische Rentenerhöhungen werden von links gefordert, um dem Paket zuzustimmen. Längere Lebensarbeitszeit über 65 hinaus verlangen rechte Kreise, obwohl sich das tatsächliche Pensionierungsverhalten der Wirtschaft in die gegenteilige Richtung bewegt. Vogel-Strauss-Politik in Reinkultur.
Deregulierung im Bundeshaus
Die schweizerische Wirtschaft kämpft grossartig, nicht zuletzt an der Währungsfront, um ihre Hauptstütze Export zu stärken. Sind diese Probleme schon gross genug, schaffen wir es, im Land selbst immer neue Hürden, Schikanen, Regulierungen (Bsp. Swissness-Vorlage), Verteuerungen zu produzieren. 69‘000 Seiten Bundeserlasse machen das Wirtschaften immer schwerer und unproduktiver. Dieser Regulierungswahn, ausgehend von äusseren Zwängen und theoretisierenden Politikern, kostet unser Land gemäss einer KPMG-Studie mittlerweile 60 Milliarden Franken oder 10 Prozent des BIP. Ob Lebensmittelhygiene, Hochbaubewilligungen, Unfallsicherheit – seit 30 Jahren wachsen neue Verordnungen wie Raps im Frühling aus dem Boden der Bundesverwaltung. Die Idee, für jede neue Regelung eine bestehende, überholte zu streichen ist chancenlos.
Eine unabhängige Prüfstelle könnte Remedur schaffen, eine Regulierungsbremse à la Ausgabenbremse etwas Luft verschaffen, oder – wenn alle Bemühungen im Sand verlaufen, wären doch diese neuen administrativen Belastungen mit einem Ablaufdatum zu versehen? Die Schweiz ist bezüglich Arbeitsplatzproduktivität mittlerweile weit nach unten gerutscht, ihren einstigen Spitzenplatz hat sie längst eingebüsst.
Explodierende Gesundheitskosten
Gemeinden, Kantone und der Bund, sie alle ächzen unter der steigenden Kostenlast im Gesundheitswesen. Treffend schrieb die NZZ dazu: „Wenn Gesundheit unsere Religion ist, dann sind Spitäler unsere Kathedralen. Und wie das mit Kathedralen so ist: Sie sind teuer.“ Explodierende Gesundheitskosten stehen seit Jahren auf der politischen Agenda. Stichwort: zu viele Spitäler am falschen Ort, Überkapazitäten und Fehlanreize, fehlende Kompetenzkonzentration. Natürlich ist die steigende Lebenserwartung Treiber dieser kostspieligen Entwicklung, doch ihr wäre mit (unpopulären) Massnahmen zu begegnen. An heiklen Fragen verbrennen sich die Politiker nicht gern die Finger und so bleiben diese Knackpunkte liegen, bis der Brandalarm losgeht. Löschen statt vorbeugen ist nicht besonders nachhaltig.
Erratischer Fels Ständerat
Der Ständerat wurde 1848 zum Schutz der unterlegenen Minderheit der mehrheitlich kleinen katholischen Kantone konstruiert, um diese vor der befürchteten Übermacht der siegreichen Reformierten (Sonderbundskrieg) zu schützen. Inzwischen gibt es mehr Katholiken als Protestanten im Land, dies ist zu Recht überhaupt kein Thema mehr. Doch die Auswirkungen der Macht des Ständerats sind grotesk: Die 1,4 Mio. Einwohner des Kantons Zürich haben zwei Standesstimmen, jene 1,4 Mio. Einwohner aus den 11 Kleinkantonen haben 10 Standesstimmen. Im Extremfall kann – dank Ständemehr – eine Minderheit von fünf Prozent der Bevölkerung in unserem Land bei einem Referendum die Mehrheit blockieren.
Die Auswirkungen sind nicht ermutigend: Die Wirtschaftsmetropole Zürich, eine der Hauptgaranten des Wohlstands in der Schweiz und Nettozahler im interkantonalen Finanzausgleich, dringend auf zukunftskompatible, liberale, neue Lösungen angewiesen, wird im Ständerat tendenziell zurückgebunden durch eine Mehrheit eher konservativer, landwirtschaftlich geprägter Kleinkantone, die zum Teil ihre Ressourcen über den oben erwähnten Finanzausgleich einkassieren.
2015 hat dieser Ständerat zwei schwache Leistungen erbracht, die zu denken geben. Einmal mehr schützte er die helvetische Vetterliwirtschaft, indem er das neue Korruptionsstrafrecht aufweichte; „Schmieren allenthalben“ im Privatbereich soll nur dann ein Offizialdelikt sein, wenn öffentliche Interessen tangiert sind. Diese Abschwächung einer sinnvollen, zeitgemässeren Rechtsauffassung ist symptomatisch. „Statt ein Zeichen für mehr Transparenz zu setzen und das durch Korruptionsskandale befleckte internationale Image der Schweiz zu korrigieren, hat sich die rechts-bürgerliche Mehrheit entschieden, die Schweizer Vetterliwirtschaft zu schützen“, ärgerte sich die NZZ.
Schon 2014 hatte der Ständerat gepatzt. Als Verfassungsbruch bezeichneten damals Rechtsprofessoren die Art und Weise der Behandlung der Zweitwohnungsinitiative – die rote Linie wurde überschritten. Zwei Jahre nach der Zustimmung des Souveräns zu dieser Initiative höhlte der Ständerat das Zweitwohnungsverbot weiter aus. Ginge es nach der Idee dieser „Volksvertreter“, hätten trotz Verbot touristisch bewirtschaftete Zweitwohnungen weiterhin gebaut werden dürfen. Eine Ohrfeige für die direkte Demokratie. Das Uminterpretieren von unbequemen Abstimmungsresultaten ist leider nichts Neues.
Eine Reform des Ständerats ist überfällig, doch da dieser der Ständerat zustimmen müsste, wohl auf absehbare Zeit eine Illusion.
Der unheilige Strukturerhalt in unserem Land ist kontraproduktiv. Die ideologische Zweiteilung blockiert einvernehmliche Lösungen. Kampf statt Kooperation ist unzeitgemäss. Der Verlust zur Reformfähigkeit ist gravierend. Es liegt an uns selbst, dies zu ändern.