Letzthin empörte sich ein Kommentator im Tages-Anzeiger, dass Sans-papiers für ihre Krankenkassenprämien Zuschüsse vom Staat erhalten könnten. Wer illegal im Land sei müsse weggewiesen werden, konnte man lesen. Was auf den ersten Blick einleuchten mag, erweist sich bei näherer Prüfung als falsch oder jedenfalls unangemessen. Sans-papiers sind nämlich nicht ein neues Phänomen, das man auf jene Asylbewerber reduzieren kann, die nach Ablehnung ihres Asylgesuchs die Schweiz nicht verlassen und hier bleiben.
Im Kanton Zürich rund 8000 Sans-papiers als Haushalthilfen
Sans-papiers sind als Haushalthilfen im Kanton Zürich von „beträchtlicher Bedeutung“ heisst es in der Anfang Dezember veröffentlichten Studie der Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich; sie wurde im Auftrag der Sans-Papiers Anlaufstelle Zürich und des Denknetzes Schweiz ausgearbeitet. Aufgrund verschiedener Methoden schätzte die KOF das Gesamtvolumen der Hausarbeit, die von Dritten geleistet wird, und weiter ermittelte sie den Anteil der Sans-papier, der schätzungsweise einen Drittel beträgt. Weil ein Teil der Hausarbeit von Bekannten und Verwandten gratis ist, dürfte der Anteil der von Sans-papiers geleisteten bezahlten externen Hausarbeit noch um einiges höher als 33% sein. Im Kanton Zürich leben etwa 20 000 Sans-papiers, je zur Hälfte Männer und Frauen; im Haushaltsektor beschäftigt sind schätzungsweise 40% oder 8000 Frauen. Da nach einer Umfrage eine Sans-papiers in durchschnittlich über 4 Familien tätig ist, geht die KOF davon aus, dass in etwa 34'000 Haushalten im Kanton Zürich irreguläre Haushalthelferinnen arbeiten, also in jedem 17. Haushalt. Es wird aufschlussreich sein, wie Verwaltung und Politik auf die Untersuchung reagieren werden, die von einer angesehenen Forschungsstelle erstellt wurde.
Genf verlangte Regularisierung der Sans-papiers
Im Kanton Genf hat sich die Regierung auf Geheiss des Grossen Rats schon vor Jahren mit den Sans-papiers beschäftigt. In seinem Bericht vom Sommer 2005 schreibt der Staatsrat, dass aufgrund verschiedener Untersuchungen von rund 7000 Sans-papiers im Kanton Genf etwa 5000 in Hausalten arbeiteten. Für die Genfer Wirtschaft mit zahlreichen internationalen Organisationen und vielen diplomatischen Vertretungen seien Haushalthilfen von wesentlicher volkswirtschaftlicher Bedeutung. Durch die illegale Arbeit gingen dem Kanton pro Jahr Beiträge an Sozialversicherungen und Steuern im Betrag von 37 Millionen Franken verloren. Aus diesem Grund, aber auch um die Haushaltangestellten vor Ausbeutung zu schützen – eine Viertel verdient weniger als acht Franken pro Stunde -, forderte der Staatsrat mit einer Eingabe an den Bundesrat im Januar 2005, den irregulären Haushalthilfen seien Aufenthaltsbewilligungen zu erteilen. Es handle sich nämlich hier weder um abgewiesene Asylbewerber, noch um Kriminelle. Jeder Fall sei einzeln zu prüfen, die entsprechenden Dossiers stünden zur Verfügung. Als flankierende Massnahmen verlangte der Kanton Genf das Festsetzen eines Mindestlohns sowie die Verpflichtung, Sozialabgaben und Steuern zu bezahlen; wer eine Bewilligung erhalte, müsse während einer Anzahl Jahre weiterhin im Hausdienst arbeiten. Bundesrat Christoph Blocher empfing im April 2005 zwei Genfer Staatsräte zu einer Aussprache. Dabei wies der Justizminister auf die Schwierigkeiten des Begehrens hin; die Genfer erwiderten, es handle sich bei den Sans-papiers keineswegs um eine Genfer Besonderheit, sondern um ein schweizerisches Phänomen; inzwischen ist man einer Lösung nicht näher gekommen.
Wer sind die Sans-Papiers?
Noch unter Bundesrätin Ruth Metzler, Blochers Vorgängerin, hatte das Bundesamt für Migration das Institut gfs-Bern beautragt, Zahl und Situation der Sans-papiers abzuklären. Der 2005 veröffentlichte Bericht ergab, dass in der Schweiz etwa 90 000 Sans-papiers lebten. Die Schätzung stützte sich auf Fallstudien in sechs Kantonen (ZH, BS, TG, VD, GE, TI); Vertreter von Behörden und Hilfswerken wurden zweimal befragt und die Ergebnisse gegenseitig begutachtet und korrigiert. Andere, weniger aufwändig ermittelte Schätzungen, hatten deutlich höhere Zahlen ergeben.
Augrund der Studie sind Sans-papiers meistens erwerbstätig, vorwiegend 20 bis 40jährig, ungefähr je zur Hälfte Männer und Frauen. Frauen arbeiten vor allem in privaten Haushalten, wie die Fallstudien von Basel und Genf ergaben, Männer eher im Gastgewerbe, Reinigungsinstituten, teils auf dem Bau (die Gewerkschaft Unia zweifelt diesen Befund an) sowie in der Landwirtschaft. Sans-papiers gibt es nicht bloss in städtischen Gebieten, wo sie eher unerkannt bleiben, sondern auch in landwirtschaftlichen Gegenden. Sie wohnen oft in prekären Verhältnissen, vielfach bei Verwandten oder Bekannten, Haushalthilfen manchmal bei ihren Arbeitgebern.
Ein Teil der Sans-papier besass früher eine Bewilligung, die nicht erneuert wurde, oder sie arbeiteten als Saisonniers, erfüllten jedoch die Vorsausetzungen für die Umwandlung zu Jahresaufenthalter nicht, als das Saisonnier-Statut abgeschafft wurde. Andern wurde der Familiennachzug verweigert, doch die Frau oder der Mann kamen gleichwohl in die Schweiz. Infolge eines Bundesratsentscheids von 1992 erhalten Personen aus nicht EU-Staaten nur noch eine Bewilligung, wenn sie hochqualifiziert sind. Deshalb haben viele Menschen aus armen Ländern gar keine Chance mehr, legal in der Schweiz zu arbeiten: sie kamen und kommen mit einem Touristenvisum, andere illegal über die grüne Grenze oder als Asylbewerber. Entgegen den Erwartungen konnte im Jahr 2004 jedoch kein enger Zusammenhang zwischen der Zahl der Sans-papiers und den Asylbewerbern nachgewiesen werden. Augrund der Studie fürs Bundesamt für Migration hängt die Anwesenheit von Sans-papiers vor allem mit dem Arbeitsmarkt, d.h. der Nachfrage nach schlecht bezahlten Arbeitskräften zusammen. Herkunftsländer sind Lateinamerika, Osteuropa, die Türkei, aber auch Südostasien.
Sie haben auch Rechte
Auch für Menschen ohne gültige Aufenthaltsbewilligung gelten Grundrechte wie der Zugang zum Gesundheitswesen. In einer Weisung vom Dezember 2002 erinnert das Bundesamts für Sozialversicherung die Krankenkassen daran, dass sie verpflichtet sind, auch Personen aufzunehmen, die ohne Bewilligung in der Schweiz leben. Viele Sans-papiers wissen das nicht oder verdienen so wenig, dass sie die Krankenkassenprämien gar nicht bezahlen könnten; allerdings haben auch sie Anrecht auf Prämienverbilligungen, doch einzelne Kantone und Gemeinden würden sich nicht an die klaren Weisungen des Bundes halten, beanstandet Bea Schwager von der Sans-paiers Anlaufstelle Zürich. Ein Teil der Arbeitgeber melden ihre Sans-papiers-Angestellten bei der AHV an, sie zahlen Sozialabgaben, aber keine Steuern. Eindeutig ist zudem das Recht (und die Pflicht) aller Kinder, die Schule zu besuchen; in den grossen Kantonen bestehen kaum Schwierigkeiten, ob das auch in kleinen Kantonen reibungslos geht, bleibt offen. Es gibt jedoch Eltern, meistens sind es alleinerziehende Frauen, die aus Furcht entdeckt und weggewiesen zu werden, ihre Kinder nicht in die Schule schicken.
Sans-papiers sind praktisch unsichtbar, sie verhalten sich korrekt, denn sie wollen nicht auffallen. In der Öffentlichkeit war lange nicht bekannt, dass sich rund 100'000 Menschen in der Schweiz befinden, die praktisch keine Rechte haben, sich gegen schlechte Arbeitsbedingungen oder Vertragsbrüche nur wehren können, wenn sie in Kauf nehmen, von den Behörden nach erfolgter Klage weggewiesen zu werden. In den späten 90er Jahren bildeten sich mehrere Unterstützungskomitees und im Jahr 2001 gelangen die Sans-papiers mit spektakulären Kirchenbesetzungen in Lausanne und Freiburg an die Öffentlichkeit, um für reguläre Arbeitsbewilligungen zu werben. Das löste erstmals ein breite Diskussion aus, vor allem in der Westschweiz, doch die Debatte im Nationalrat im gleichen Jahr blieb erfolglos.
Die hier skizzierten Berichte zeigen, dass zahlreiche Betriebe und viele Haushalte ohne Sans-papiers kaum überleben könnten oder in grosse Schwierigkeiten gerieten. Viele Behörden kennen deren volkswirtschaftliche Bedeutung. Würde die Polizei sie systematisch suchen und wegweisen, käme es zu lauten Klagen und Protesten von vielen Kleinunternehmern und Familien. Angesichts dieser Tatsache ist es unfair, ihnen auch nach vielen Jahren nützlicher Arbeit in der Schweiz, die Aufenthaltsbewilligung zu verweigern. Behörden und auch die damalige Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf wiesen darauf hin, dass in Härtefällen um eine Bewilligung nachgesucht werden könne. Doch die Art und Weise wie Härtefallbewilligungen heute von Kanton zu Kanton unterschiedlich, aber stets nur tropfenweise erteilt werden – von 2002 bis 2007 in der ganzen Schweiz rund 2000 – ist unbefriedigend, ja skandalös.
In der heutigen Zeit, das ist unbestritten, braucht es von den Behörden Mut, einzugestehen, dass etwa 100 000 Menschen mit ausländischem Pass in der Schweiz arbeiten, die nicht registriert sind und denen eigentlich eine Bewilligung erteilt werden sollte. Würde den meisten dieser langjährigen Sans-papiers eine Aufenthaltsbewilligung erteilt, erhöhte sich die Zahl der Ausländer entsprechend, was auf Kritik stiesse. Doch wenn es so viele Unternehmer und Familien gibt, die Menschen beschäftigen, die sie auf dem regulären Arbeitsmarkt nicht finden, so können wir diesen Arbeitskräften doch nicht während vieler Jahre eine Bewilligung verweigern. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Genfer Regierung nicht nur eine Regularisierung der Sans-papiers forderte, sondern – danach – eine strengere Kontrolle der Arbeitgeber, die Schwarzarbeiter beschäftigen, sowie der Ausländer ohne Bewilligung. Die neue Justizministerin Simonetta Sommaruga wird nicht darum herum kommen, die heisse Kartoffel, an der sich weder Justizminister Bocher, noch seine Nachfolgerin Widmer-Schlumpf die Finger verbrennen wollten, anzufassen. Ihr ist zuzutrauen, dass sie einen Ausweg aus der Sackgasse finden wird. Weiter ist darauf hinzuweisen, dass ausser den Sans-papiers sich in der Schweiz noch zahlreiche papierlose Ausländer aufhalten, bei denen es sich vor allem um abgewiesene Asylbewerber handelt, welche die Schweiz nicht ordnungsgemäss verlassen haben und deren Wegweisung von den Kantonen, die vom unterstützt werden, nicht vollzogen wurde. Doch das ist ein anderes Kapitel.