
Es ist lange her, da war die Schweiz fast vollständig von Wald bedeckt. In diese Zeit versetzt eine Ausstellung des St. Galler Stiftsarchivs ihre Besucher. Sie zeigt, wie lebenswichtig der Wald damals für die Menschen war und wie viele Konflikte sich an ihm entzündet haben.
Wer auf dem Land lebt, kann sie in diesen Tagen hören: Die Kettensägen, mit denen am Übergang zum Frühling viele Wälder ausgelichtet werden. Forstarbeiter sind an der Arbeit, sie hegen und pflegen einen Wald, der uns als Erholungsraum lieb und teuer geworden ist. Was bedeutet Ihnen der Wald? Diese Frage wird im Eingang zum Zeughausflügel des St. Galler Regierungsgebäudes an die Besucherinnen und Besucher einer Ausstellung gerichtet, die sich um den Wald und seine Beziehung zum Kloster St. Gallen dreht, einstmals der mit Abstand grösste Landbesitzer in weiten Teilen der Ostschweiz. Wald, das ist für Jasmin «Medizin für die Seele», für Samuele ein Synonym für «Ruhe, Auftanken, Entspannung, Gedanken abschalten». Sandra denkt an «Pilze sammeln, Hütten bauen, Rehe beobachten, sich verstecken», Edith an «Freiheit».
Rechte auf Holzschlag und Weide
Dann tritt man ein ins geheimnisvolle Halbdunkel des Saals und stösst in der Ausstellung, die bis zum Januar kommenden Jahres dauert, schon bald auf eine prachtvolle Urkunde vom Königshof. Ludwig der Deutsche bestätigt am 1. April 861 ein Tauschgeschäft, das der St. Galler Abt mit dem Grafen Konrad vollzogen hat. Als Teil dieses Tausches erhält das Kloster teils bewirtschaftete Forstgebiete im Linzgau am Südufer des Bodensees, erwähnt werden auch die Rechte der dort lebenden Menschen auf Holzschlag und die Weide von Ochsen, Schafen, Schweinen und Ziegen. Konrad umgekehrt werden vom Kloster drei Höfe überschrieben.
Die Urkunde zeigt: Schon im 9.Jahrhundert waren die Verhältnisse kompliziert. Der König musste seine Einwilligung geben, weil alle Waldgebiete ausserhalb von Siedlungen ihm gehörten. Umgekehrt hatten nicht nur die eigentlichen Grundbesitzer Rechte an diesen Gebieten, sondern auch ihre Nutzer. Der Wald: Das war zum einen der Lieferant von Holz, dem unentbehrlichen Wärmespender und Baustoff für die Häuser. Er war der Ort, an dem Bauern ihre Tiere weiden liessen. Hier konnte gefischt und gejagt werden – wofür allerdings dann Abgaben fällig wurden.
Wichtige Einkommensquelle des Klosters
Angesichts dieser üppigen Mehrfachnutzung erstaunt es nicht, dass sich eine Menge von Konflikten am Wald entzündeten. Und dass sich deshalb auch viele Urkunden dieses ältesten Klosterarchivs mit diesen Konflikten beschäftigen. Da ist, zum Beispiel, eine prachtvolle, mit fünf Siegeln geschmückte Urkunde, in der im Juni 1502 auf Vermittlung der eidgenössischen Stände Zürich, Luzern, Schwyz und Glarus die Nutzung des Waldstücks Hätteren bei St. Gallen geregelt wurde, auf das sowohl die Fürstabtei wie die mit ihr konkurrierende Reichsstadt St. Gallen Besitzansprüche erhoben hatten.
Wälder waren eine wichtige Einkommensquelle des Klosters, das seine Besitzungen seit seiner Gründung im 8. Jahrhundert stetig ausgedehnt hatte bis weit in den süddeutschen Raum und ins Elsass hinein. Durch den Wald hatte sich auch im Jahr 612 der irische Mönch Gallus vom heutigen Arbon aus ins Hochtal der Steinach gequält. Das zeigt jene wertvolle Elfenbeintafel, mit der Abtbischof Salomon gegen Ende des 9. Jahrhunderts das so genannte «Evangelium Longum» einfassen liess. Sie stellt Gallus dar, wie er einem Bären ein Brot reicht – es ist der Dank für das Feuerholz, das der friedliche Bär auf Bitten des Heiligen herbeigeschleppt hat. Den Rahmen bilden zwei Laubbäume, «deren eleganter Schwung an die Obstbäume auf dem Klosterplan erinnert», beschreibt Stiftsarchivar Peter Erhart im Ausstellungsführer die Szene. «Dass es sich um Buchen handelt, lässt sich an der Form der Blätter erkennen.» Buchen bildeten auch das Material für jene Schreibtäfelchen, auf dessen Innenseite Wachs aufgetragen wurde.
Der Wald gibt Arbeit
Erhart stellt noch etwas fest: Dass es zu dieser Zeit «ein Eichhörnchen, wenn es nicht unterwegs gegessen wurde, von den Alpen über die Ardennen bis ans Ufer des britischen Ozeans schaffen konnte, ohne den Erdboden zu berühren.» Eine solche Waldesdichte können wir uns heute nicht mehr vorstellen.
Natürlich gibt der Wald auch Arbeit. Schon der Bau des frühen Klosters beschäftigte Waldarbeiter und Handwerker. Nur mithilfe von Förstern, Jägern und Harzern konnte sich die Fürstabtei als Wirtschaftsmacht etablieren. Die Schenkungen, die es von den Gläubigen aus nah und fern bekam – als Lohn winkte das Seelenheil im Jenseits –, umfassten in den allermeisten Fällen auch ein Stück Wald. Diesen Wald präzis zu kartografieren in Worten und in Zeichnungen, das stellte einen wichtigen Teil der Besitzsicherung dar.
Und schliesslich: Auch von spiritueller Bedeutung war der Wald. Das Mönchstum, entstanden im 3. Jahrhundert aus dem Rückzug von Menschengruppen in die Wüsten, sah in den Wäldern auch eine Art von Wüste. Sie bildeten eine Antithese zur zivilisierten Welt. Bis heute. So erzählt Peter Erhart denn im Ausstellungsführer auch vom Benediktinermönch Adalbert de Vogüé, der am 13.Oktober 2011 wie jeden Tag einen Morgenspaziergang in den Wäldern rund um die burgundische Abtei Saint-Marie de la Pierre-qui-Vire unternahm – und erst neun Tage später tot aufgefunden werden konnte, in der Wildnis gestorben an Erschöpfung. 1945 war er ins Kloster eingetreten und hatte bis 2009 in einer Einsiedelei in der Nähe des Klosters gelebt.
Mönche im Wald, Ausstellungssaal des Stiftsarchivs St. Gallen, bis 22. Januar 2026