Seit rund 15 Jahren diskutieren wir im Land über die Reform unserer Altersvorsorge. Relevante Abstimmungen 2004 und 2010 sind gescheitert. Obwohl dringender Handlungsbedarf eigentlich von fast niemandem bezweifelt wird, zeichnet sich keine ganzheitliche, erfolgversprechende Lösung ab. Oder doch?
Der bundesrätliche Reformentwurf
Die Kernpunkte der vorgeschlagenen Massnahmen wurden vom Bundesrat im November 2012 verabschiedet, der Reformentwurf Ende 2013 in die Vernehmlassung geschickt. Die finanzielle Konsolidierung des Altersvorsorgesystems (AHV, berufliche und private Vorsorge) soll u.a. mit diesen Massnahmen gesichert werden: Gleiches Referenzalter für Frauen und Männer 65 (Frauen bisher 64), Senkung des BVG-Mindestumwandlungssatzes, Erhöhung der Mehrwertsteuer, um den zusätzlichen Finanzbedarf zum Erhalt des Rentenniveaus zu sichern.
Bundesrat Alain Berset setzt – angesichts der desillusionierenden Erfahrungen mit früheren Teilrevisionen - auf eine Gesamtpaketlösung. Dieses Vorgehen darf als verständlich bezeichnet werden. Vor dem Hintergrund, dass der ursprüngliche Generationenvertrag (Arbeitende bezahlen für Pensionierte) schon seit 1963 in dieser Form nicht mehr funktioniert, wäre Handlungsbedarf angesagt. Zudem ist festzustellen, dass auch diese Paketlösung die Nachhaltigkeitslücke nur zur Hälfte zu decken vermag
Kritik von allen Seiten
Ganzheitliche Ideen – also das Gegenteil von Partikularinteressen – haben es seit jeher schwer in der Politik. Schliesslich kämpfen Parteien und Verbände für genau diese, ihre eigenen Interessen. Dass aus diesen unterschiedlichen Optiken viel Schelte vorgetragen wird, ist deshalb nicht verwunderlich.
Die Bürgerlichen möchten das Paket aufspalten und abspecken, die Linken sind vorerst vorsichtig positiv eingestellt. Sogleich muss das aber relativiert werden: Die SVP wehrt sich dezidiert gegen diese Paketlösung, die Gewerkschaften kritisieren ebenso scharf und plädieren gar für Rentenerhöhungen. Dabei beschwören alle Players die Notwendigkeit, die gesamte Altersvorsorge auf stabile finanzielle Grundlagen zu stellen sei zwingend und dringend.
Stellvertretend für dieses taktische „Pflöckeeinschlagen“ im Rahmen der Meinungsbildung seien zwei Aussagen zitiert, die 2014 von Martin Janssen (emerit. Professor für Finanzmarktökonomie) und Paul Rechsteiner (Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes) gemacht wurden: „Heute wird zu viel Geld versprochen, das wir in Zukunft nicht mehr bereitstellen können“ (Janssen). „Das Schweizer Vorsorgesystem ist ausgezeichnet aufgestellt“ (Rechsteiner).
Immer weniger zahlen für immer mehr
Heute leisten für jeden AHV-Bezüger drei aktive Arbeitnehmer Beiträge, im Jahr 2030 werden es jedoch nur noch zwei Zahlende pro Beziehenden sein. Zudem steigt die Lebenserwartung der Menschen vorläufig kontinuierlich, die längere Bezugsdauer verschärft das Problem. Da eine entsprechende Beitragserhöhung zulasten der arbeitenden Generation weder zumut-, noch verkraftbar ist, bleiben schwerpunktmässig die Erhöhung des Rentenalters um zwei bis drei Jahre oder/und der staatlichen Finanzierung über die Mehrwertsteuer.
Die vorgeschlagene Erhöhung des Rentenalters scheitert im Moment an den wirtschaftlichen Tatsachen: eher früher als später entlassen Unternehmen ihre Leute in Pension. Diese etwas zynische Haltung ist, auch angesichts der Problematik der Zuwanderung, nicht mehr zeitgemäss. Dennoch wird diese Automatik, die sich an der steigenden Lebenserwartung orientiert, von vielen Fachleuten und Wissenschaftlern, als gute Lösung präsentiert, doch die Gewerkschaften wehren sich vehement gegen diese Idee.
Auf der anderen Seite beurteilen Bürgerliche den Vorschlag zur kontinuierlichen Erhöhung der staatlichen Subventionen über die Mehrwertsteuer als zu einfach. Die SVP profiliert sich damit, eine solche allfällige Erhöhung strikt abzulehnen.
Schöne Sprüche
Seit die 11. AHV-Revision 2004 an der Urne gescheitert ist, hat sich die Langfristprognose zum Zustand des AHV-Fonds weiter verschlechtert. Viele Politiker gefallen sich nach wie vor im Aufschichten von „Bedingungen“, im Predigen von harten Sparmassnahmen oder im Schönreden des aktuellen Zustands. Offensichtlich haben sie sich noch nicht von der Dringlichkeit der Sache überzeugen lassen. Doch dieses Verschieben in die Zukunft (nach uns die Sintflut!) ist nicht lösungsorientiert. Einige Hochrechnungen – die wie immer mit Vorsicht zu konsumieren sind – rechnen mit einem impliziten Schuldenberg der AHV von 1000 Milliarden Franken. Da baut sich zulasten der jungen Generation ein gewaltiges Konfliktpotenzial auf.
Senkung des BVG-Umwandlungssatzes
Unter dem Umwandlungssatz (UWS) versteht man im schweizerischen Pensionskassensystem den Prozentsatz des angesparten Kapitals, der den Pensionierten als Rente jährlich ausbezahlt wird. Die Höhe des Umwandlungssatzes steht in engem Zusammenhang mit der Lebenserwartung der jeweiligen Rentnergeneration. Als Beispiel: ein Altersguthaben von CHF 400'000 bei der Pensionierung mit dem UWS von 6% eine jährliche Altersrente von CHF 24'000. Die vorgesehene Senkung von 6,8% auf 6% bewirkt also eine entsprechende Reduktion der Altersrente.
Schieflage der AHV
2014 ist das Umlageergebnis der AHV mit einem Minus von 320 Mio. Franken negativ ausgefallen (ohne Berücksichtigung des Anlageergebnisses). Wäre da nicht die Masseneinwanderung, hätte sich das Ergebnis schon früher und happiger rot gefärbt. Nur dank gut qualifizierter Personen, die aus dem Ausland zuwandern und neu in der Schweiz in die AHV-Kasse einzahlen, konnte bisher schlimmeres verhütet werden. (Diese Bemerkung soll nicht als ein Plädoyer zur Masseneinwanderung missverstanden werden, sondern lediglich gewisse Zusammenhänge aufzeigen).
Zu dieser Tatsache äussern sich die beiden Branchenverbände in typischer, einfach gestrickter Manier. Während der Schweizerische Arbeitgeberverband (SAV) feststellt, „das Reformpaket des Bundesrats gehe vollständig an der Realität vorbei“, war aus der Gewerkschaftsecke (SGB) zu hören, „die AHV stehe äusserst robust da“. Klar ist: sämtliche Prognosen über die Weiterentwicklung des Umlageergebnisses und dem Fondsbestand zeigen – je nach Modell – kontinuierlich nach unten.
Gemeinsame Interessen?
Auf bürgerlicher Seite wird argumentiert, Berset verpasse eine nachhaltige Strukturreform. Die budgetierten Mehreinnahmen (Mehrwertsteuererhöhung) verunmöglichten einen ausgewogenen Kompromiss. Stattdessen wird die Erhöhung des Rentenalters auf 66, resp. 67 Jahre gefordert. Ein redimensioniertes Paket müsse deshalb geschnürt werden. Auch das ist Taktik: wer würde es in diesem Land wagen, eine Reform mit dieser Zumutung an die Urne bringen? Wer Berset deshalb mangelnden Mut vorwirft, betreibt Abstimmungspropaganda. Zudem: wer wird in der Zwischenzeit den Unterschied zwischen redimensioniert and ausgewogen definieren?
Auf der gegenüberliegenden Seite des politischen Seilziehens fordert die SP gar eine Anhebung der von der AHV ausgerichteten Altersrenten und signalisiert damit ihre Unterstützung der Volksinitiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes «AHVplus», die eine Stärkung der AHV durch höhere Altersrenten vorsieht.
Inkrafttreten der Vorlage ist auf 2019 geplant. Es ist zu hoffen, dass sich beide Seiten aufeinander zu bewegen werden. Ein Scheitern der Rentenreform in Kauf zu nehmen, wäre unverantwortlich.
Kompromiss-Ideen
Aus verschiedenen Kreisen kommen Ideen zur Deblockierung der Situation. Eine schlägt vor, die Mehrwertsteuer erst dann in Zehntelprozentpunkten zu erhöhen, wenn der AHV-Fondbestand unter 50% der Jahresausgaben fällt und dann aber gleichzeitig das Rentenalter in Monatsschritten zu erhöhen.
Michael Hermann hat längst diagnostiziert, dass der unsägliche Links-Rechts-Gegensatz im Volk weit schwächer verbreitet ist als im Bundeshaus (NZZ 10.3.2015): „Die verhärteten Fronten bei den Parteieliten entsprechen nicht den gesellschaftlichen Realitäten“. Er plädiert deshalb für die Einführung von Fiskalregeln, also generalisierte Automatismen zum Ausgleich Haushalts. Seiner Meinung nach hat sich die direkte Demokratie in letzter Zeit schleichend zur Reformbremse entwickelt – wenn eine ausgewachsene Reformkrise vermieden werden soll, müssten neue Wege gefunden werden.
In diesem Fall wäre es deshalb sinnvoll, so meint Hermann, „das Prinzip der Schuldenbremse auf die Altersvorsorge anzuwenden, die Lebensarbeitszeit an die Lebenserwartung zu koppeln und den Umwandlungssatz ans Zinsniveau zu binden“.
Was sagt das Volk?
Gemäss einer repräsentativen Umfrage des GfS im Auftrag der Pro Senecute steht die Bevölkerung mehrheitlich hinter den Plänen des Bundesrates. Selbst Frauen stimmen einer Erhöhung ihres Rentenalters zu. Demnach ist die Ausgewogenheit des Vorschlags entscheidend. Auch die Erhöhung der Mehrwertsteuer um max. 1,5% findet knapp Zustimmung. Voraussetzung zur Zustimmung ist klar und deutlich: es darf keine Rentenkürzungen geben.
Die unterschiedlichsten Forderungen der politischen Parteien, die Totalopposition der SVP, die oft kleinliche Kritik (angesichts der Mammutaufgabe), dies alles steht offensichtlich im Kontrast zur Volksmeinung.
Sollte sich Bersets Reformpaket als Totgeburt erweisen, wäre das kein politisches Ruhmesblatt. Keine Kompromissbereitschaft zu zeigen, ist ein Zeichen der Schwäche. Im Hinblick auf die jungen Generationen ist zu hoffen, dass sich die Parteistrategen am Schluss auf den geringsten gemeinsamen Nenner einigen werden können. Und, wer weiss, vielleicht lassen sich auch die Jungen – die ja primär betroffen sein werden – gar zum Gang an die Urne bewegen?