Unternehmen wir eine Reise in die Verlorengegangenheit. Nicht als Idealisierung vermeintlich guter alter Zeiten. Sondern in der Erinnerung an Werte, die nicht nur im Finanzbereich nicht messbar, daher wertlos geworden sind.
Die Spielregeln
Jedes wirtschaftliche und arbeitsteilige Zusammenleben beruht auf Austausch. Jeder Austausch beruht darauf, dass ich etwas habe oder herstelle oder anbiete, das ein anderer braucht. Dass der Austausch zivilisierter als in Form eines Faustkampfs stattfindet, dafür sorgt ein Regelrahmen, gemeinhin Rechtsstaat genannt.
Ausgefeilte Mechanismen sollen zudem gewährleisten, dass dieser Austausch zwar so frei wie möglich stattfinden kann, es auch unbenommen ist, dass sich jemand aus Dummheit, Gier oder Tölpelhaftigkeit übers Ohr hauen lässt, also etwas Unbrauchbares zu einem lächerlich überhöhten Preis erwirbt. Aber es werden Grenzen gesetzt. Neben einer Unmenge von Artikeln in unseren Gesetzbüchern beruht das Ganze auf etwas genial Einfachem: auf Treu und Glauben.
Man lese nur die Einleitungen zum Schweizerischen Obligationenrecht und zum Zivilgesetzbuch nach: «Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.» Mehr braucht es eigentlich nicht. Ausser: dass niemandem, vor allem nicht in einer leitenden Position, erklärt werden muss, was das ist.
Die Spieler
Anstand, Ehre, Mannhaftigkeit, Behaftbarkeit, Verantwortlichkeit, sich morgens mit ruhigem Gewissen im Spiegel anschauen können, das grundsätzliche Wissen: «Das tut man nicht, das ist ungehörig.» Oder wie das Immanuel Kant voller «Bewunderung und Ehrfurcht» formulierte: «Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder im Überschwenglichen, ausser meinem Gesichtskreise, suchen und bloss vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz.»
Das hat man – oder man hat es nicht. Eigentlich sollte man das aus sich selbst heraus haben. Wenn das nicht der Fall ist, sorgen normalerweise gesellschaftliche Sanktionen dafür, dass sich auch derjenige daran halten muss, der es nicht hat. Ausser, die Gesellschaft fordert dieses Prinzip nicht unerbittlich ein. Dann verliert es sich auch immer mehr in den Menschen, die durch ihre herausragende Position sich unbedingt daran halten müssten, schon alleine, weil sie Vorbild für alle anderen, für ihre Untergebenen sein sollten. Es geht hier nicht um Schuldhaftigkeit, um den juristisch letztinstanzlich gefällten Schuldspruch. Es geht darum, dass das jeder Verantwortungsträger in sich haben müsste. Es geht darum, dass er sonst nicht wegen erwiesener Schuld, sondern wegen mangelnder charakterlicher Eignung zum Paria werden sollte. Zu jemandem, dem man nicht mehr die Hand gibt. Mit dem man nicht mehr handelt, nicht mehr verkehrt.
Nicht in Geld messbarer Schaden
Das hat überhaupt nichts mit Fehlern, Bussen, geschäftspolitischen Entscheidungen, falschen oder richtigen Signalen, beschmutzten oder weissen Westen zu tun. Der Schaden, der durch den Verzicht auf Moral, Anstand, Billigkeit, Verantwortlichkeit entsteht, ist nicht in Geld oder in Verlusten zu messen. Er ist schlichtweg unermesslich. Unermesslich gross.
Geld- oder Machtgier sind per se möglicherweise nicht wirklich sympathische, aber durchaus erlaubte Triebe. Reich werden, mächtig werden, grosse Räder drehen, befehlen, entscheiden, das ist das Salz in der Suppe der freien Marktwirtschaft. Sie wird dann versalzen und ungeniessbar, wenn weder der bestirnte Himmel noch moralische Gesetze in irgendeiner Form als existent, als nicht bezweifelbar vorausgesetzt werden können. Wenn diejenigen, denen es an Einsicht oder Haltung fehlt, nicht gesellschaftlich geächtet werden. Nicht bestraft oder beschimpft. Geächtet.
Reputationsrisiko
Aus dem angelsächsischen Banking kam nicht nur der Schlachtruf «greed is good», sondern auch der absolut widerliche Begriff Reputationsrisiko, verbunden mit den nicht minder abstossenden Begrifflichkeiten der «Corporate Social Responsability», «Good Governance» und «Code of Conduct» ins Schweizer Banking. Widerlich daran ist, dass man damit solche Werte berechenbar zu machen meint. Also man misst ein Reputationsrisiko mit einem Algorithmus und zieht Bilanz. Ist der so messbare Reputationsschaden grösser als ein potenzieller Gewinn, dann unterlässt man das Geschäft. Ist es umgekehrt, dann macht man’s.
Damit externalisiert man gleichzeitig das moralische Gesetz in einem selber, salviert sich von seinem Protest mit dem billigen Argument: Mag ja sein, dass mir das unbillig und als Verstoss gegen Treu und Glauben vorkommt. Gar als unanständig und verantwortungslos. Aber der Algorithmus kann das sicher besser berechnen als ich erspüren, und der sagt: machen!
Dieses schreibend (vielleicht begleiten bis hierher sogar noch ein paar Leser den Text) weiss man gleichzeitig um die Vergeblichkeit, Überflüssigkeit dieser Erwägungen. Diese Sache scheint verloren. Und Gesellschaften brauchen lange, sehr lange Zeit, um einen solchen Defekt zu reparieren. Wir alle werden das wohl nicht mehr erleben.