Es herrscht viel Betrieb so gegen Feierabend um den Escher Wyss Platz herum. Ein paar junge Frauen kommen schnatternd und kichernd entgegen, zücken ihren Badge und verschwinden in einer Werkshalle. Niemand würde in ihnen Opernsängerinnen vermuten… Sie werden zur Abendprobe erwartet, denn die Halle ist die Probenbühne des Opernhauses. Einstudiert wird „La verità in cimento“, eine Oper von Antonio Vivaldi.
Drinnen in der Halle springt Jan Philipp Gloger, 33, hin und her zwischen dem rudimentär aufgebauten Bühnenbild und seinem Regiestuhl, Er blättert im Manuskript, begrüsst sein Ensemble, bespricht sich mit dem Musiker und hat alle Hände voll zu tun. Bis zur Premiere dauert‘s zu diesem Zeitpunkt noch rund vier Wochen. Gloger legt erst einmal die Grundzüge der Inszenierung fest.
Unverbraucht, aber verwinkelt
Und da kann er aus dem Vollen schöpfen. „La verità in cimento“, auf deutsch etwa: „Die Wahrheit auf dem Prüfstand“ gehört zu jenen Opern, die Vivaldi zwar geschrieben hat, von denen aber oft nur einzelne Arien aufgeführt wurden. Und jetzt also so eine Art Uraufführung. „Das reizt mich natürlich schon“, sagt Gloger. „Das Stück ist noch unverbraucht. Das gilt auch für die Zuschauer, die unvoreingenommen hineingehen und die Aufführung nicht mit anderen Inszenierungen vergleichen.“
Ist es also ein Vorteil, sich ganz frei von jeglichen Inszenierungs-Vorbildern, als Regisseur entfalten zu können? „Manchmal ist es auch schwieriger“, meint er. „Man kann nur vom Werk ausgehen und kann sich an nichts anderem orientieren. Die Schwierigkeit bei diesem Werk liegt darin, dass es ein sehr verwinkelter und diffuser Plot ist.“
Jetzt geht es aber erst einmal darum, wie Julie Fuchs – eine der Hauptdarstellerinnen - auf die Bühne kommt und wie sie auf dem Sessel sitzt. So? Oder anders? Oder doch so? „Wie jemand sitzt, oder geht oder steht, das charakterisiert ihn schon ein Stück weit“, so Gloger. „Ich lasse mich aber auch durch die Musik inspirieren. Musik ist wie ein Elixier, wie ein Trip fast, der eine ungeheure Inspirationsquelle ist. Dieser Musik liefere ich mich mit grosser Lust aus. Man spürt geradezu körperlich, wie einen die Musik mit Energie und Ideen versorgt.“
Das Medium des Jetzt
Vivaldi hat das Stück 1720 geschrieben, also vor fast dreihundert Jahren. Es war seine 13. Oper und aufgeführt wurde sie damals während der Karnevals in Venedig. Dann ist sie so ziemlich vom Theater verschwunden. Jan Philipp Gloger hat das Stück nun in unserer Zeit angesiedelt.
„Theater ist das Medium des Jetzt“, sagt Gloger. „Auch wenn die Darsteller historische Perücken tragen, sind es doch Menschen unserer Zeit. In unserem Fall haben wir uns dafür entschieden, diese Orient-Geschichte, die sich bei Vivaldi im märchenhaft Orientalischen abspielt, in eine sehr konkrete, heutige grossbürgerliche Gesellschafts-Schicht zu verlegen. Gerade die Reibung zwischen der alten Musik, dieser märchenhaften Handlung und der bürgerlichen Welt, die wir auf der Bühne sehen, das ist das Spannende.“ Wenn Vivaldi ein Porträt seiner Zeit geschrieben hätte, wäre vielleicht auch Glogers Inszenierung eine andere geworden. „Aber diese Oper blickt aus der Perspektive der damaligen Zeit auf den Orient zurück, wie er in einer Epoche vor Vivaldi war. Es ist der Blick des Barock auf ein Stück Früh-Orientalismus.“ Eine ziemlich komplizierte Perspektive also, die Gloger nun gleich in die Gegenwart verlegt hat. Als Verfremdung will er die zeitliche Umverpflanzung der Handlung nicht verstanden wissen. „Das Gegenteil einer Verfremdung soll damit bewirkt werden, nämlich ein Näherbringen.“
Lebenslüge und Doppelmoral
Trotz dieser nicht ganz geradlinig-einfachen Handlung ist die Geschichte gewissermassen zeitlos. „Im Mittelpunkt steht das Thema Lebenslüge“, sagt Gloger. Statt eines Sultans mit zwei Söhnen von zwei Müttern, ist es in Glogers Inszenierung ein Unternehmer, der nicht nur mit seiner Frau, sondern auch mit dem Dienstmädchen einen Sohn hat. „Das ist ein sozialkritisches Thema: eine Frau versucht, in ihrem verkorksten Leben sozial aufzusteigen, indem sie wenigstens ihren Sohn an die Macht bringt. Und da ist es doch interessant, die Frage zu stellen, was passiert, wenn Lebenslügen zu unserer sozialen Realität werden, und zu zeigen, wie eine Lüge, die aufgedeckt wird, Leben zerstören kann.“
Solche Themenkomplexe, so Gloger, seien bei Vivaldi schon vorgezeichnet. „Sie werden aber dann ganz deutlich, wenn man sich nicht von den Figuren distanzieren kann, wenn man also nicht einfach sagen kann, ach, die im Orient damals, die haben es wild getrieben… sondern wenn man sich fragt, wie es denn um unserer eigene Doppelmoral bestellt ist in unserer gemütlich eingerichteten, westlichen Wohlstandsgesellschaft.“
Dies sei der eine Aspekt, sagt Jan Philipp Gloger. Es komme aber noch etwas anders dazu. „La verità in cimento“ – die Wahrheit auf dem Prüfstand: „Was ist Wahrheit im persönlichen Umgang? Wir alle spielen täglich Rollen, und die Wirklichkeit ist das grösste Theater überhaupt. Und das ist das grosse Thema des Barock: Verstellung und Wirklichkeit. Manchmal vermischt sich das auch in den Figuren. Bei der Rosane, zum Beispiel. Sie ist eine Figur, die wirklich liebt, aber ihre Liebe blitzschnell den veränderten Interessensverhältnissen anpasst“.
Man merkt, Jan Philipp Gloger ist begeistert vom Thema und von dessen zeitloser Aktualität. Und beides wird verpackt in die elektrisierenden Klänge Vivaldis. Und das noch am Zürcher Opernhaus…
Freude in Zürich, Frust in Bayreuth
Mit Zürich verbindet Gloger nämlich mehr als nur eine Arbeitsbeziehung. Ursprünglich kommt er aus Westfalen und man darf ruhig sagen: aus der deutschen Provinz. Ein klassisches Musikstudium sollte es zunächst sein und im Laufe seiner Ausbildung kam er dank eines Stipendiums in die Schweiz an die Zürcher Hochschule der Künste. Hier studierte er Regie, unter anderem bei Stephan Müller. „Das war damals verrückt für mich, nach bestandener Aufnahmeprüfung zu wissen, ich komme für zwei Jahre in diese Stadt! Es war eine Zeit, die ich sehr genossen habe. Ich habe in der Enge gewohnt, zwischen See und Rieterpark, und ich hatte das Gefühl, ich bin in Oberitalien gelandet… also für jemanden aus dem Nordwesten Deutschlands fühlte sich das schon so an….“ Und ins Opernhaus ging er damals auch schon. Als Zuschauer. Eine Aufführung hatte ihn damals besonders beeindruckt: „Mein Highlight war ‚Lohengrin‘ von Robert Wilson, weil ich diese Formsprache sehr spannend fand und Wagners Musik verträgt das auch.“
Seither hat Gloger seinen Weg durch Schauspiel und Oper gemacht, hat international Erfahrungen gesammelt und vor drei Jahren in Bayreuth ein Erlebnis der besonderen Art gehabt: Ganz kurz vor der Premiere seiner Inszenierung des “Fliegenden Holländers“ gab es einen Eklat: wegen eines Hakenkreuz-Tattoos flog der Hauptdarsteller Evgeny Nikitin im hohen Bogen aus der Produktion hinaus. Sozusagen über Nacht musste Gloger einen anderen Sänger auf „Fliegenden Holländer“ trimmen. Kein Wunder, dass er anschliessend etwas frustriert war, weil dieses Hakenkreuz-Tattoo allgemeines Gesprächsthema blieb und die Inszenierung überschattete, obwohl der Sänger längst in stürmischer See verschwunden war…
„La verità in cimento“
Oper von Antonio Vivaldi
Opernhaus Zürich
Premiere: 25. Mai
Aber das ist inzwischen Vergangenheit. Jetzt freut sich Gloger, wieder in Zürich zu sein und den Mai hier zu verbringen, ganz in der Nähe des Sees. Und er freut sich, am Opernhaus das zeigen zu können, was er damals, während seiner zwei Jahre an der Hochschule für Künste, hier in Zürich gelernt hat.