Enrico Oliveri (Toni Servillo), Sekretär der italienischen linken Opposition, geht ungern zu seinem nächsten Auftritt. Gerade noch 17 % der Befragten würden seine Partei wählen, Tendenz sinkend. Man ist gespannt, und es eilt. Die Versammlung beginnt mit dem spektakulären Auftritt einer Kritikerin, der vermutlich von den Gegnern inszeniert worden ist – ein gefundenes Fressen für die Medien. Enrico, entnervt, verschwindet, zunächst spurlos.
Enricos Zwillingsbruder Giovanni ist ein extravaganter Professor der Philosophie. Kürzlich aus dem manicomio entlassen, soll er als Double einspringen. Andrea Bottini, Oliveris zuverlässiger, nachdenklicher Assistent, hat seine liebe Not mit dem Doppelgängerspiel und dem Management des irritierten politischen Sekretariats – Valerio Mastandrea füllt diese Rolle wunderbar aus, ebenso wie Toni Servillo, der die doch sehr verschiedenen Brüder mit Bravour verkörpert.
Danielle/Valeria Bruni-Tedeschi als Angelpunkt der Geschichte
Der Fluchtpunkt der komplexen und berührenden Geschichte von Politik und Zwischenmenschlichkeit liegt in Frankreich. In Paris lebt Danielle, die alte Liebe von Enrico – und, wie es sich herausstellt, auch von Giovanni. Bei ihr, die er seit 25 Jahren nicht mehr gesehen hat, will sich der geschundene Politiker einige Tage von den Zumutungen der Macht erholen. Danielle ist mittlerweile mit einem berühmten Filmemacher verheiratet, hat eine Tochter und arbeitet als Script Supervisor. Sie nimmt auch im Script von Andòs Film eine zentrale Stellung ein. Sie wird von der italienisch-französischen Schauspielerin und Filmemacherin Valeria Bruni-Tedeschi verkörpert. Manche Einzelheiten der Geschichte spielen auf ihre Person und ihren teilweise autobiographischen Film („Il est plus facile pour un chameau...“, Frankreich/Italien 2003) an, etwa Danielles Antwort auf die Frage ihres Kinds, ob Enrico ein so bekannter Politiker sei wie Hollande oder Sarkozy: „come Obama!“. Bruni-Tedeschi ist über ihre Halbschwester Carla Bruni, die sie in ihrem Film porträtiert hat, mit Nicolas Sarkozy verschwägert; möglich, dass der 93-jährige, seinerzeit namhafte Schauspieler Gianrico Tedeschi (*1920), der in „Viva la libertà“ als graue Eminenz der italienischen Linken nochmals auf die Leinwand kommt, ebenfalls mit der Filmerin verwandt ist.
Freiheit und Freundschaft
Giovanni, der unter dem Pseudonym Giovanni Ernani lebt, ist ein namhafter Philosoph, Dichter, Visionär, aber auch ein unberechenbarer mad man. Er fühlt sich in seiner Rolle als Politiker ausserordentlich frei; er amüsiert, erstaunt und erfreut mit seinen Auftritten Presse, Partei, Wählerschaft und Kinopublikum. Frei in der Wahl seiner Ausdrucksformen lächelt er die Leute oft nur an oder singt, fragt zurück oder zitiert und rezitiert Pascal, Shakespeare, Hegel oder ein Haiku. Zuweilen freilich äussert er sich, auch menschlich gebildet, witzig und weise über den Zustand der italienischen sowie der europäischen Politik (una miserabile bottega) und über Politiker, die nur noch Avatare ihrer selbst seien. Die Angst sei die Musik der Demokratie, erklärt er im Übrigen, auch die Linke nähre sich nur noch von der Katastrophe, und ihre einzig mögliche Allianz könne die mit dem Gewissen der Menschen sein.
Enrico seinerseits befreit sich allmählich von seiner zu eng gewordenen Politikerrolle. „Ein Politiker hat keine Freunde“, antwortet seine Gattin Anna (Michaela Cescon) in Rom auf Bottinis Frage, ob er bei Freunden untergetaucht sein könnte. In Paris aber findet Enrico nicht nur seine alte Freundin wieder. Auch mir deren Mann befreundet er sich. Es stellt sich heraus, dass dieser, Mung, der Filmer, sein Lieblingsregisseur ist – zwischen den beiden besteht ein tiefes Verständnis. Mung (Eric Trung Nguyen) arbeitet gerade an einem neuen Film. Daraus zeigt er Enrico eine Dokumentaraufnahme von Fellini, wie er gegenüber aufdringlichen Journalisten seine Würde verteidigt – als Geschichtenerzähler und als Mensch: wie kann man sich denn respektieren, wenn man ständig geschlagen, bespuckt und beleidigt wird? Fellini habe dafür gekämpft, kommentiert Mung, dass man sich an die Indezenz, an Schamlosigkeit gewöhne. Enrico, fügt er an, Sie haben mich berührt. „Vous êtes le témoin d’un échec qui nous concerne tous.“ Auch die vielleicht zehnjährige Hélène bietet dem Machtmüden ihre Freundschaft an.
Politik und Kunst
Der Film als Beispiel einer künstlerischen Gestaltung von Wahrgenommenem spielt eine zentrale Rolle in Andòs Geschichte. Vor 25 Jahren haben die Brüder und die von beiden geliebte Danielle zusammen das Filmfestival in Cannes besucht, und gerade seit jenem Ereignis haben die drei einander nicht mehr gesehen. Der Film bringt zwei davon jedoch auch wieder zusammen. Filmemachen und Politik seien einander ähnlich, meint Mung, beides brauche Bluff und Genie. Der Dritte, Giovanni, ist der geniale Darsteller seines Bruders und verkörpert die in Grunde gemeinsame Utopie der Freiheit angesichts der Zwänge von Machtausübung, die dem Politiker Enrico unerreichbar geworden scheint.
Dass Danielle als Script-Verantwortliche arbeitet, gewinnt eine besondere Bedeutung auf dem Hintergrund der Frage, ob und was die Kunst allenfalls zur Politik beitragen könne. Sie habe ihm geholfen, schreibt ihr Enrico, bevor er, entscheidend verändert, nach Italien und an seine Arbeit zurückkehrt, die Ordnung der Geschehnisse vor Sinnlosigkeit zu bewahren.
Integration und Integrität
Enrico und Giovanni können als zwei Seelen in der Brust eines Menschen gesehen werden, der sich leidenschaftlich für den Film, für eine produktive Politik und für Danielle interessiert. Ihren Zusammenhalt und Danielles Zuneigung scheinen die Zwillinge in jungen Jahren mit Verwechslungsspielen buchstäblich verspielt zu haben. Ihr Auseinanderdriften bedeutet für beide Teile sowohl Entwicklung als auch Verlust des halben Lebens: Enrico wird zum verantwortungsvollen Politiker, aber er verliert dabei seinen Humor, seine Visionen und seine Vitalität; Giovanni entwickelt sich zum Gelehrten, Kritiker und Narren, verliert aber den Kontakt zur Gemeinschaft und zur Praxis. Der eine überanstrengt sich, der andere wird verrückt.
„Viva la libertà“ fragt, wie und ob die beiden re-integriert werden könnten, ohne die Integrität des einen oder des anderen zu beschneiden. Er exemplifiziert dies unter anderem am Bild von Frisur und Haar. Enricos Haar ist zunächst dunkel. Sein grauhaariges Double Giovanni hingegen erklärt es zum Programm seiner Politik, ehrlicher zu werden – etwa zum Beispiel aufzuhören, das Haar zu färben. Dem braven Bottini rät Giovanni, etwas Wind in seine Frisur zu bringen, was dieser denn auch in Tat umsetzt. Enricos Haar verliert beim kühnen Sprung ins Wasser seine Farbe. Graues Haar stehe ihm aber gut, findet Danielle, er sehe so mehr wie ein Philosoph aus oder wie ein Dichter – unberechenbar, verrückt, visionär, fügt er bei – mehr wie sein Bruder: „buon giorno, Giovanni!“
Film und Buch
Mit „Viva la libertà“ hat Roberto Andò (*1959), Autor, Drehbuchautor, Theater- und Filmregisseur, ein eigenes Buch verfilmt: „Il trono vuoto“ (Bompiani, Mailand 2012), der leere Thron. In diesem Buch heisst Mungs Film „Il trono vuoto“ und ist von Enrico inspiriert [S. 187]. „Viva la libertà“ dagegen ist im Buch der Name eines Trios, welches seine Freiheit einem grossen Preis vorzieht, weil dieser es zu einer Tournee verpflichten würde [S. 166 –168]. So sehr der Film zum Erwerb des Buches anregt, so wenig wirkt er wie eine Verfilmung. Nicht nur am Beispiel Haar zeigt Roberto Andò, der unter anderem bei Federico Fellini gearbeitet hat, dass er die Filmsprache beherrscht. Er schafft es etwa, durch die leicht bewegte Aufnahme eines Treppenhauses im Zuschauer das leichte Schwindelgefühl herzustellen, das den angsterfüllten Andrea Bottini auf der Suche nach dem prominenten Schutzbefohlenen packt. Durchgehend verfolgt die Kamera Wege, Gänge und Gangarten. In fast militärischem Takt marschiert man eingangs zur Musik von Verdis „Macht des Schicksals“ über Marmor zum entscheidenden Auftritt vor den demoralisierten Delegierten der Partei, später zeigt sie Giovannis zwangshaft-spielerische Rücksicht auf die Fugen des Fliesenbodens, den Tango ohne Schuhwerk, schliesslich das Barfussgehen am Sandstrand.
Zügig geschnitten und von einer exquisiten Tonspur begleitet werden die Geschichten der Brüder im Lauf des Films wieder zu einer einzigen verwoben, einer gelösteren jedoch als es die alten Verstrickungen erlaubten.
Ein unterhaltender, geistreicher Film zum Zustand unserer politischen Psyche, der wohltut, wenn auch keineswegs beruhigt.