Die Brüder Reinhold, Erich, Werner und Gerhard (später: Gershom) Scholem, alle zwischen 1891 und 1897 in Berlin geboren, wurden durch ihre jüdischen Eltern Siegfried und Betty Scholem, Inhaber einer grossen Druckerei, geprägt. Und doch vertraten sie bereits in jungen Jahren höchst unterschiedliche politische Positionen. Der 1891 geborene Reinhold ist nationalliberal und ein deutscher Patriot. Erich versteht sich als Liberaldemokrat. Werner wird ein bekannter linksradikaler Politiker. Gerhard – der spätere Gershom – Scholem, ist der Jüngste. In Fachkreisen geniesst der Religionsgelehrte, der über 500 Werke hinterlassen hat, bis heute grosses Ansehen. Gershom rebelliert wie Werner gegen den autoritären Vater. Er versteht sich als zionistisch, tritt der Jugendgruppe Jung Juda bei.
Wortführer des Kulturzionismus
Gershom besucht regelmässig die Bibliothek der jüdischen Gemeinde und nimmt mit zwölf Jahren heimlich Hebräischunterricht. Der Zionismus wird zu seiner zentralen geistigen Orientierung, wobei er sich kritisch an zionistischen Persönlichkeiten abarbeitet: Seine Beziehungen zu Buber und Herzl bleiben ambivalent. Schon in jungen Jahren wird er ein Wortführer des Kulturzionismus.
Der Kosmopolit studiert zahlreiche Fächer: Mathematik, Philosophie, Orientalische Sprachen. Um sich für eine Lehrtätigkeit in Palästina vorzubereiten, legt er zusätzlich ein Staatsexamen in Mathematik ab. 1915 lernt er Walter Benjamin kennen, woraus sich eine lebenslange Freundschaft entwickelt. Mit 24 Jahren teilt er seinen Eltern mit, er beabsichtige, in Jerusalem Professor zu werden.
1923 macht der 25-jährige „Alija“, die dem Vorbild der biblischen Rückkehr der Juden aus dem babylonischen Exil folgende Auswanderung ins Gelobte Land. Gershom Scholem hat sich bestens auf ein Leben in Palästina vorbereitet und wird von Hugo Bergmann, Leiter der Jüdischen Nationalbibliothek in Jerusalem, empfangen. Bergmann bietet ihm eine Stelle in der Hebräisch-Abteilung seiner Bibliothek an.
Akademische Karriere und politischer Aussenseiter
Es folgt eine unvergleichliche akademischen Karriere: 1925 richtet der Jerusalemer Universitätskanzler Magnes für ihn eine Stelle als Dozent ein: „Er konnte mit original hebräischen Texten arbeiten und eigene Texte gleichsam muttersprachlich auf Hebräisch formulieren.“ Gershom lehrt jüdische Mystik.
Politisch bleibt er schwer einzuordnen: Er versteht sich als gläubig, links, jedoch nicht als orthodox. Nachdrücklich setzt er sich für eine Verständigung zwischen Juden und Arabern ein, ist einer der prominentesten Vertreter des von Arthur Ruppin 1925 gegründeten Brit Schalom (Friedensbund). Die politische Vereinigung zählt nie mehr als hundert Mitglieder und steht in scharfem Gegensatz zu den meisten zionistischen Strömungen. Die Verständigung mit den Arabern ist ein vorrangiges Ziel. Als 1929 die arabischen Aufstände und Übergriffe ausbrechen, verlässt Ruppin die Friedensinitiative.
Als die NSDAP 1930 bei der Reichstagswahl massiv zulegt, versucht sich seine Mutter in Zweckoptimismus: Dass deutsche Juden nun in Panik verfielen sei „eine fette Zeitungsente. Nicht eine einzige Ausschreitung ist vorgekommen. Wenn nur die Zeitungen mal ihre Lügen unterliessen!“
1933 wird Gershom Professor für jüdische Mystik in Jerusalem. Er wird nun weltweit gelesen. Nach dem Erscheinen seines Essays „Zur Frage der Entstehung der Kabbala“ folgen Gastvorträge in den USA. Seine Lust zum Widerspruch lässt nicht nach. In Briefen an Freunde übt er „ätzende Kritik an den deutschen Juden“. Der in Entstehung begriffene jüdische Staat benötige junge hebräischsprachige Einwanderer, keine „deutschsprachigen Drucker“.
1946 besucht er Deutschland, um geraubte jüdische Bibliotheken zu retten. Nach einer Europareise im Jahr 1952 ist er desillusioniert. Jüdisches Leben in Europa sei ausgelöscht, Europa habe ihm „einige der bittersten Monate meines Lebens“ eingebracht. 1958 erhält er den Israel-Preis, 1962 wird er Ehrenbürger von Jerusalem. Seine Autobiografie „Von Berlin nach Jerusalem“ widmet er seinem 1940 ermordeten Bruder Werner. 1982 stirbt Gershom Scholem in Jerusalem.
Der radikale Linke Werner Scholem
Werner Scholem versteht sich sehr früh als überzeugter Linker. 1914 schreibt er seinem Bruder Gershom: „Jeder denkende Jude wird Sozialist, was Du nun auch bist.“ Im Ersten Weltkrieg macht er Witze über das Eiserne Kreuz seines vier Jahre älteren, nationalliberal gesonnenen Bruders Reinhold. 1917 kommt es zur Spaltung der SPD; Werner schliesst sich der USPD an. Sein Leben kreist nur noch um die Parteiarbeit. 1920 der Wechsel zur KPD, ein Jahr später ist er das jüngste Mitglied des preussischen Landtags.
Die antisemitischen Angriffe innerhalb der KPD gegen ihn nehmen zu. Der KPD-Funktionär Eisenberger bezeichnet ihn als einen „frechen Judenfunktionär“. Seine wilden Reden machen ihn zu einem Enfant terrible. Goebbels erwähnt ihn namentlich bei seinen antisemitischen Tiraden. Walter Benjamin schreibt in einem Brief an Gershom Scholem: „Von dem Abgeordneten Scholem ist Europa voll. Mich stimmt sein Aufstieg zu Ruhm und Ehre ziemlich traurig.“
Gefängnis und KZ
1926 wird Werner gemeinsam mit Ruth Fischer auf Betreiben von Thälmann aus der KPD ausgeschlossen. Mittels eines Jurastudiums versucht er sich ein zweites Standbein zu sichern. 1933 wird er wegen Wehrkraftzersetzung angeklagt, es folgen mehrere Jahre Haftzeit. Gershom schreibt im April 1936 an Benjamin: „Goebbels braucht ein paar Juden dort, an denen er zeigen kann, dass er den Bolschewismus zertreten hat, und dazu ist anscheinend u. a. mein Bruder ausersehen.“
1937 kommt Werner Scholem ins KZ Dachau. Als jüdischer Antifaschist ist er auch von den stalinistischen Mitgefangenen bedroht. Zu seinem engen Umfeld gehört der Antifaschist Ernst Federn. 1938 werden beide in das intern von der kommunistischen „Häftlings-Selbstverwaltung“ beherrschte KZ Buchenwald gebracht. Dort wird Werner Scholem am 17. Juli1940 von dem SS-Mann erschossen. Federn vermutet in seinem vierzig Jahre später verfassten Nachruf eine politische Intrige der Stalinisten. Der Familienbiograf Geller hingegen bezeichnet ein abschliessendes Urteil über die Hintergründe von Werner Scholems Ermordung als weiterhin offen.
Werners Ehefrau Emmy, eine nicht-jüdische Kommunistin, war 1934 nach Prag geflohen. 1958 kehrt sie nach Deutschland zurück und konvertiert zum Judentum. Sie hat eine leitende Stellung im jüdischen Altersheim von Hannover.
Reinhold und Erich Scholem
Reinhold und Erich vertreten, anders als ihre Brüder, konservative sowie liberale Positionen: Reinhold wird ein Deutschnationaler. Erich wird Mitglied der liberalen Deutschen Demokratischen Partei. Die beiden Brüder etablieren sich als Druckereibesitzer.
Als nach dem Reichstagsbrand zahlreiche linke Politiker verhaftet werden, wird auch ihre Druckerei durchsucht. 1934 müssen sie diese verkaufen, und am 1. Juli1938 kommen Reinhold und Erich in Sydney an. Auch die Mutter Betty sucht verzweifelt nach Möglichkeiten, aus Nazideutschland zu fliehen. Im November 1938 schreibt sie an Gershom: „Mein Sohn, ich bin verzagt wie noch nie, aber die Hoffnung, eines Tages doch jenseits der Grenzen zu sein, hält mich aufrecht.“ Im Jahr darauf vermag sie nach Sydney zu emigrieren.
Erich und Reinhold schlagen sich in Australien durch. Betty wird ihr Emigrantenschicksal nie mehr los. 1940 schreibt sie an Gershom: „Da hat dieser Teufel Hitler uns verjagt, weil wir Juden sind, u. jetzt überall in der Welt sind wir Deutsche, auch hier in diesem weltabgelegenen Land.“
Jay Howard Geller: Die Scholems. Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie. Aus dem Englischen von Ruth Keen, Suhrkamp Verlag / Jüdischer Verlag, 462 S., 25 Euro