Das Historische Museum Luzern zeigt zum 150-jährigen Jubiläum dieses Besuchs eine informative Ausstellung; gleichzeitig ist unter dem Titel „Queen Victoria in der Schweiz“ eine vom englischen Historiker Peter Arengo-Jones verfasste und von Christoph Lichtin herausgegebene Begleitpublikation erschienen.*)
Hauptgrund für Victorias Schweizer Reise war der schlechte Gesundheitszustand der Monarchin, die nach dem frühen Tod des geliebten Prinzgemahls Albert an schweren Depressionen litt. Die grösste Zeit ihres sorgfältig geplanten Aufenthalts verbrachte die Königin in der privaten Pension Wallis auf dem Gütsch oberhalb von Luzern. Sie war mit zahlreichem Gefolge unterwegs, dem drei ihrer Töchter, ihr bewährter schottischer Kammerdiener, ein Pastor, der Leibarzt und ein Schweizer Reiseführer angehörten. Victoria suchte Ruhe und Abgeschiedenheit; sie reiste unter einem freilich schwer zu wahrenden Inkognito und vermied öffentliche Auftritte.
Mit der mitgeführten Kutsche
Die wichtigste Quelle zu ihrem Schweizer Aufenthalt bildet das Tagebuch der Königin. Hinzu treten zahlreiche weitere Zeugnisse, die Peter Arengo-Jones, ein ausgewiesener Kenner ihrer Biografie, in zahlreichen Archiven und Privatsammlungen aufgespürt hat. Der Verfasser zitiert gern und mit einer gelegentlich ausufernden Ausführlichkeit, und so entsteht eine faktenreiche und anschauliche Darstellung, die es dem Leser gestattet, den Verlauf des Aufenthalts im Detail zu verfolgen. Das Buch ist reich und mit Kennerschaft illustriert; hervorgehoben seien die farbig wiedergegeben Aquarelle der Königin und ihrer Tochter Louise.
Victorias Schweizer Aufenthalt fällt in die Zeit, als englische Reisende massgeblich zum Aufschwung des Tourismus in der Schweiz beitrugen. Thomas Cook organisierte 1863 die ersten Gruppenreisen, und es erschienen Reiseführer im Druck, welche auf die Sehenswürdigkeiten hinwiesen, die es zu besichtigen galt. Auf ihrem Pony „Flora“, in der aus Schottland mitgeführten Kutsche „Sociable“ und auf dem für sie reservierten Dampfschiff „Winkelried“ erkundete die Königin zuerst Luzern und die nähere Umgebung der Stadt und besichtigte das Löwendenkmal, die Tellskapelle, die Hohle Gasse in Küssnacht. Der Anblick des Sees und der Berge stimmte sie glücklich: „Es ist wirklich das“, schrieb sie ins Tagebuch, „was ich erträumt hatte, aber kaum glauben konnte, es jetzt in Wirklichkeit zu sehen.“
„Gähnend fürchterliche Abgründe“
Die anhaltende Sommerhitze und der Föhn veranlassten Victoria zu einer für eine Dame in ihrer Stellung geradezu abenteuerlichen Exkursion ins Hochgebirge. Man blickte, notierte sie im Tagebuch, hinab in die „gähnenden und fürchterlichen Abgründe“ der Schöllenenschlucht, bestaunte die „berühmte Teufelsbrücke“, übernachtete in einer „elenden kleinen Schenke“ auf dem Furkapass und genoss die „unbeschreibliche Wirkung“ des noch von keiner Klimaerwärmung heimgesuchten Rhonegletschers. Gegen den Schluss ihres Aufenthalts liess sich die Queen von ihrem Pony auf die Rigi und den Pilatus tragen und besuchte das Kloster Engelberg.
Das Buch von Peter Arengo-Jones zeichnet das eindrückliche Porträt einer reisenden Aristokratin aus der Frühzeit des Tourismus. In ihren eigenen Aufzeichnungen und in den Aufzeichnungen ihrer Begleiter erscheint Victoria als eine wissbegierige, unternehmungslustige und humorvolle Frau, die sich rasch so wohl fühlte, dass sie ein anstrengendes Reiseprogramm bewältigen konnte. Im Umgang mit der Bevölkerung beeindruckte die „Frau Königin“ durch ihr schlichtes und freundliches Auftreten. Keine andere Touristin hat sich dem kollektiven Bewusstsein der Nation so tief eingeprägt wie Queen Victoria.
*) Peter Arengo-Jones, Christoph Lichtin: Queen Victoria in der Schweiz. Verlag Hier und Jetzt, Baden 2018.