Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, 1918 bis 1939, trägt verschiedene Namen. Die Engländer reden von den „Roaring Twenties“, die Franzosen von den „Années folles“ und die Deutschen von den „Goldenen Zwanziger Jahren“; ein moderner Historiker, Philipp Blom, hat von den „Zerrissenen Jahren“ gesprochen. Es war eine widersprüchliche Zeit, die sich nicht auf einen Nenner bringen lässt. Wissenschaften, Technik und Medizin ermöglichten die Fortschritte, auf denen der Lebensstandard der westlichen Welt von heute beruht. Eisenbahn, Schiff, Automobil und Flugzeug verkürzten die Distanzen, und das Ferngespräch hob sie ganz auf.
Die Grossstädte hielten ein riesiges Angebot an Vergnügungsmöglichkeiten bereit. Monumentale Kaufhäuser verlockten zum neuartigen Zeitvertreib des Shopping, Kinos und Sportveranstaltungen zogen ein breites Publikum an, und des Abends lockten die Cocktailbars der Hotels, die Tanzdielen der Spelunken und Nachtclubs aller Art. Doch dieses Angebot an Vergnügungsmöglichkeiten überzog wie ein schillernder Firnis eine Epoche, die im Innersten bedroht war. Der Erste Weltkrieg hatte nicht nur seine Opfer gefordert, sondern auch althergebrachte Traditionen, Ordnungen und Wertvorstellungen ins Wanken gebracht. Wirtschaftskrisen, soziale Unrast, Arbeitslosigkeit und die Armut des grossstädtischen Proletariats überschatteten das glamouröse Bild der Zwischenkriegszeit.
Kammerspiel
Wer sich ein Bild dieser widersprüchlichen Epoche machen will, die in mancher Hinsicht unserer Gegenwart gleicht, dem sei die Lektüre des Romans „Menschen im Hotel“ von Vicki Baum empfohlen. Die Autorin lässt sich vom äusseren Glanz der Epoche nicht täuschen. Sie blickt hinter die Kulissen, und die Figuren, die sie auftreten lässt, sind aus dem Leben gegriffen und wirken glaubwürdig. Der Roman spielt, wie der Titel sagt, in einem Hotel, einem der vornehmsten und teuersten in Berlin. Ein altbekannter Kunstgriff vieler Romanautoren: Man wählt einen bestimmten isolierten Schauplatz, ein Sanatorium, ein Hotel oder einen Eisenbahnzug, und lässt die Figuren, die dort zufällig aufeinandertreffen, zueinander in Beziehung treten. So verfuhren, um zwei berühmte Namen zu nennen, Thomas Mann im „Zauberberg“ und Graham Greene in „Stamboul Train“.
In Vicki Baums „Menschen im Hotel“ sind es lauter Menschen vom äussersten Rand der bürgerlichen Gesellschaft, gefährdete Existenzen einer Krisenzeit. Da ist der todkranke Buchhalter Otto Kringelein, der seine zänkische Frau verlassen hat, um in den ihm verbleibenden Wochen mit seinem Geld das Leben eines reichen Menschen zu führen und sich zu amüsieren. Da ist der verbitterte Doktor Otternschlag, der aus dem Krieg mit grässlich entstelltem Gesicht heimgekehrt ist, ein Dauergast, der sich jeden Tag an der Rezeption nach Post erkundigt, die nie eintrifft. Ein besonders auffälliger, zur Hysterie neigender Hotelgast ist die alternde russische Primaballerina Grusinskaja, die sich mit Drogen darüber hinwegzutäuschen sucht, dass ihre grosse Zeit vorbei ist. Zu ihr gesellt sich der verarmte Baron Gaigern, vordergründig ein eleganter und gewandter Mensch, in Wahrheit aber ein Betrüger und Trickdieb. Schliesslich treffen wir auf den Generaldirektor Preysing, den früheren Chef Kringeleins, ebenfalls ein fragwürdiger Charakter, der nach Berlin gereist ist, um Geschäftsgespräche zu führen, es dabei aber nicht bleiben lässt.
Erfrischende Authentizität, unterhaltsam erzählt
Diese Figuren lässt Vicki Baum nun aufeinandertreffen und sich entfalten. Kringelein amüsiert sich in der Stadt, geht fein essen, sieht sich im Kino einen Film über Sankt Moritz an und führt in der Hotelbar ein tiefsinniges Gespräch mit Doktor Otternschlag über die Sinnlosigkeit des Daseins. Vom Baron Gaigern lässt sich Kringelein in ein elegantes Herrenmodegeschäft führen. Er wird von Kopf bis Fuss neu eingekleidet und erkennt sich im Spiegel als ein besseres Selbst. „Zum ersten Mal“, schreibt die Autorin, „spürte Kringelein das taumelnde Leichtwerden, das zum Geldausgeben gehört.“ Gaigern, der in Kringelein ein Opfer wittert, nimmt ihn im Sportwagen zu einer Spritzfahrt auf der Avus-Autobahn mit, die eben erst eröffnet worden ist. Ein neuartiger Rauschzustand erfasst Kringelein, als der Tachometer gegen Hundert klettert: „Er schnappte aus zusammengepresster Brust nach Luft“, lesen wir, „das Auto riss unerkennbare Dinge an sich vorbei, rote, grüne, blaue, auch Bäume stürzten seinem Kneifer entgegen...“ Doch der Baron kümmert sich nicht nur um Kringelein; er stellt auch der Grusinskaja nach, von der man weiss, dass sie ihren Perlenschmuck im Zimmer herumliegen lässt. Gaigern dringt nächtens in ihr Hotelzimmer ein und hindert die Tänzerin daran, eine tödliche Dosis Veronal einzunehmen. Dann verbringt er mit ihr, statt ihre Perlen zu klauen, eine Liebesnacht. Prosaischer geht es bei den Geschäftsgesprächen von Direktor Preysing zu, des früheren Chefs von Kringelein, die im Konferenzzimmer des Hotels geführt werden. Mit einem billigen Trick hintergeht Preysing seine Geschäftspartner. Dann wendet er seine Aufmerksamkeit einer hübschen und leichtlebigen Sekretärin, genannt Flämmchen, zu, die ihn nach London begleiten soll.
Dies alles wird von Vicky Baum gewandt und unterhaltsam erzählt. Es gelingen ihr Momentaufnahmen von erfrischender Authentizität, so etwa, wenn sie beschreibt, wie die Hotelgäste den frisch aus den USA importierten Charleston tanzen. „Die Musik“, schreibt sie, „wurde erzeugt von sieben unbeschreiblich vergnügten Herren in weissen Hemden und engen Hosen, der berühmten Eastman-Jazzband. Sie war von einer tollen Lebendigkeit, sie trommelte unter die Sohlen, kitzelte in den Hüftmuskeln, sie hatte zwei Saxophone, die weinen konnten und zwei andere, die sich in der spitzigsten und hohnvollsten Weise darüber lustig machten. Sie sägte, knackte, stand Kopf, rasselte, legte gackernd Eier aus Melodie, die sie sogleich zertrampelte – und wer in den Umkreis dieser Musik geriet, der verfiel dem zuckenden Rhythmus des Saales, wie wenn er verhext sei.“ Auch die Schilderung der Liebesnacht ist in ihrer gewagten Delikatesse ein meisterhaftes Stück deutscher Prosa und meilenweit vom kruden sexuellen Exhibitionismus heutiger Bestsellerautorinnen entfernt.
Kolportage
Gegen den Schluss des Romans steht Vicki Baum vor der schwierigen Aufgabe, einen überzeugenden Schluss zu finden. Hier scheitert sie freilich auf spektakuläre Weise, und ihr Roman gerät nach einem literarisch bemerkenswerten ersten Teil zur Kolportage. Unglaubliches geschieht, und die Ereignisse überstürzen sich. Kringelein gewinnt eine grosse Summe im Spielsalon und beschimpft, keck geworden, seinen ehemaligen Vorgesetzten Preysing. Dieser vergnügt sich mit Flämmchen. Baron Gaiern wird von Preysing beim Diebstahl ertappt, bedroht diesen, wird aber von einem tödlichen Faustschlag des Fabrikdirektors niedergestreckt. Flämmchen, dürftig bekleidete Zeugin der Vorgänge, fällt in Ohnmacht und erwacht in den Armen eines überglücklichen Kringelein. Preysing wird von der Polizei abgeführt, die Leiche des Barons wird diskret über die Lieferantentreppe entsorgt, und es ist Kringelein, der mit Flämmchen nach London fährt. Zurück bleibt Doktor Otternschlag, der sich an der Rezeption nach Post erkundigt, die nie eintrifft.
Vicki Baum wurde 1888 als ungeliebtes Kind eines jüdischen Beamten in Wien geboren, wuchs dort auf und wurde am Konservatorium zur Harfenistin ausgebildet. Zwischen 1926 und 1931 war sie Angestellte im Berliner Ullstein-Verlag, entdeckte ihre Lust am Schreiben und verfasste ihr erstes Buch. Der Roman „Menschen im Hotel“, einer von vielen erfolgreichen Romanen Vicki Baums, entstand 1929 und wurde mehrmals fürs Theater überarbeitet und verfilmt, so 1932 in Hollywood unter dem Titel „Grand Hotel“ mit Greta Garbo. Als „Menschen im Hotel“ 1931 erfolgreich am Broadway aufgeführt wurde, reiste Vicki Baum nach Amerika und kehrte, nachdem Hitler an die Macht gekommen war, nicht mehr nach Deutschland zurück. Ihr Mann, der Dirigent Richard Lert, folgte ihr, und die Familie liess sich in Kalifornien nieder.
Vicki Baum hat ihr Leben in einer lesenswerten, leider unvollendeten Autobiografie unter dem Titel „Es war alles ganz anders“ geschildert. Man begegnet darin einer begabten, welterfahrenen und liebenswerten Autorin, einer Verehrerin Thomas Manns, die ihren literarischen Rang trotz dem Welterfolg ihrer Bücher realistisch einschätzt. „Ich weiss“, schreibt sie, „was ich wert bin; ich bin eine erstklassige Schriftstellerin zweiter Güte... Ich habe mir nie eingebildet, eine Schriftstellerin erster Güte zu sein und dass meine Bücher mich überleben werden.“ Mit dieser letzten Bemerkung täuschte sie sich freilich; denn manche ihrer Romane sind in verschiedenen Sprachen noch heute erhältlich.