Es ist einer der berühmtesten Sätze im Journalismus, und umstritten ist er noch heute. Geschrieben hat ihn 1989 Janet Malcom als Einstieg in ihre zweiteilige Story «The Journalist and the Murderer» für das Magazin «The New Yorker». Die Geschichte beginnt wie folgt: «Jeder Journalist, der nicht zu blöd oder zu eingebildet ist, um zu merken, was abläuft, weiss, dass sein Tun moralisch unhaltbar ist.» Nicht weniger ätzend ist der Folgesatz: «Er (der Journalist) ist eine Art Betrüger, der die Eitelkeit, die Ignoranz oder die Einsamkeit der Leute ausnutzt, ihr Vertrauen gewinnt und sie ohne Gewissenbisse verrät.»
Die beiden Sätze gewinnen an Aktualität, weil deren Verfasserin, Janet Malcom, vergangene Woche in New York im Alter von 86 Jahren gestorben ist. «The Journalist and the Murderer» befasste sich mit Joe McGinniss, einem Bestseller-Autor, der ein Buch über Dr. Jeffrey MacDonald geschrieben hatte. Der Arzt war des Mordes an seiner schwangeren Frau und seinen beiden Töchtern angeklagt und wurde zu dreimal lebenslänglich verurteilt. Er klagte gegen den Schriftsteller und warf ihm vor, ihn im Glauben gelassen zu haben, er halte ihn für unschuldig, obwohl er von seiner Schuld längst überzeugt war.
In den zwei langen Artikeln, die später auch als Buch erschienen sind, fokussierte Janet Malcolm weniger auf die Morde als auf den folgenden Gerichtsprozess. Dabei unterliess sie es nicht, auch ihre eigene Rolle beim Zustandekommen der Story zu hinterfragen, so zum Beispiel, ob die Briefe, die sie McGinniss während der Recherche für ihr Werk geschrieben hatte, tatsächlich weniger anbiedernd waren als jene, die der Autor dem Angeklagten geschickt hatte. Sie schrieb von «befriedigter Eitelkeit», was ihre Recherche betraf, und von ihrer Erregung, wie in einer Liebesbeziehung, wenn ihr Schreibprojekt gut vorankam. Menschliche Schwäche, schrieb sie an anderer Stelle, sei die Währung, auf die Journalismus sich abstütze: «Bosheit bleibt sein belebender Impuls.»
Doch auch Janet Malcom selbst war nicht frei von Fehl und Tadel. 1983 hatte sie für den «»New Yorker» den umstrittenen Psychoanalytiker Jeffrey Masson porträtiert, der als Leiter des Freud-Archivs in New York vorgesehen war. Masson verklagte sie in der Folge wegen übler Nachrede und unbelegter Zitate zu zehn Millionen Dollar. Doch das Gericht sprach Malcolm nach einem über zehnjährigen Verfahren frei, weil es der Autorin nach amerikanischem Recht keine gezielte Bosheit nachweisen konnte.
Janet Malcolm hatte Aussagen aus 50 oder 60 Interviews mit dem redseligen Psychoanalytiker so erscheinen lassen, als wären sie alle während eines einzigen Gespräches beim Lunch entstanden. Eine Kritikerin der «New York Times» nannte dieses Vorgehen «völlig inakzeptabel». Es sei nicht Aufgabe einer Reporterin, das Leben geordneter oder dramatischer dazustellen, als es in Wirklichkeit sei. Malcolm sah sich aufgrund fehlerhafter Berichterstattung der «Times» über den Masson-Prozess als «eine Art gefallene Journalistin».
Im Zeitalter von Facebook, Twitter und YouTube, von Fake News, Propaganda und Verschwörungstheorien ist die damalige Aufregung innerhalb der schreibenden Zunft über Janet Malcolms fragwürdiges Vorgehen nur noch bedingt nachvollziehbar. Dies umso weniger, als die Journalistin im Laufe ihrer 55-jährigen Karriere zahlreiche Artikel publiziert hat, ohne dass ihr gravierende Fehler unterliefen. Heute gehört «The Journalist and the Murderer» laut einer Liste des amerikanischen Buchverlags Modern Library zu den 100 besten Sachbüchern des 20. Jahrhunderts.
Janet Malcom, die Tochter eines 1939 aus der Tschechoslowakei in die USA emigrierten Psychiaters, hatte 1963 für den «New Yorker» über sogenannte Frauenthemen und Fotografie zu schreiben begonnen. Es waren Sujets, von denen sie sich jedoch emanzipierte, um in der Folge über eine Reihe gewichtiger Themen zu schreiben. Dies auf eine Weise, die ihr «New Yorker»-Kollege Ian Frazier als «erstaunliche Prosa, von höchstem literarischem Anspruch und grösster Qualität» beschrieben hat.
Journalistinnen und Journalisten, schliesst Janet Malcolm in «The Journalist and the Murderer», würden den Betrug an ihrem Gegenüber je nach Temperament auf unterschiedliche Weise rechtfertigen: «Die Pompöseren erwähnen die Redefreiheit und ‘das Recht der Öffentlichkeit auf Information’; die Untalentiertesten sprechen von Kunst; die Propersten murmeln, sie müssten halt ihren Lebensunterhalt verdienen.» Es ist eine Art von Selbstreflexion, wie sie unter Schreibenden auch heute eher selten ist und, falls unvermeidlich, lieber oberflächlich bleibt.
Janet Malcolm erinnert daran, dass Objektivität im Journalismus zwar anzustreben, am Ende aber nicht konsequent zu erreichen ist. Dass alle Journalistinnen und Journalisten, selbst wenn sie sich dagegen wehren, persönliche Emotionen, Erfahrungen und Überzeugungen in ihre Artikel einfliessen lassen. Und dass ihre Motive, wie lauter sie auch sein mögen, nie frei sind von untergründigen Absichten, Wünschen und Verlangen. Wozu Journalismus diene, fragt Malcolm im Untertitel des Aufsehen erregenden «New Yorker»-Artikels und zitiert den britischen Politologen John Dunn, der in seinem Werk «Trust and Political Agency» schrieb, dass Menschen dank Vertrauen leben würden: «Aber der Zwilling des Vertrauens ist der Verrat.» Auch und nicht zuletzt im Journalismus.