Die Jungfrau von Orléans: ein junges Mädchen, Tochter eines Bauern aus dem lothringischen Domrémy, vermutlich 1412 geboren und mit 19 Jahren am 30. Mai 1431 in den Wirren des Hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich auf dem Marktplatz von Rouen als Hexe auf dem Scheiterhaufen der Inquisition verbrannt. Sie beschäftigte Kirche und Staat der «Grande Nation» in allen darauf folgenden Epochen.
Beinah noch mehr aber wurde diese junge Frau, die von der Politik in den Stand der «Nationalheldin» und von der Kirche in jenen der «Märtyrerin und Heiligen Jungfrau» erhoben wurde, im Verlauf der Jahrhunderte zur Obsession von Schriftstellern. Sie sahen in dieser Gestalt eine Figur, deren Bedeutung in den Sprachen und Kulturen Europas dargestellt und geklärt zu werden verdiente.
Rätselhafte Faszination
Jeanne gilt als Visionärin, die jenseitige Stimmen hörte, die Hof und Haus verliess, um als eine vom Himmel berufene Streiterin dem französischen Thronerben zur Krönung zu verhelfen und das Land von der Besetzung und Eroberung durch die Engländer zu befreien. Ihr öffentliches Wirken dauerte insgesamt wenig mehr als zwei Jahre, und doch genügten diese, um aus ihr – wenn auch erst post mortem – eine weibliche Heldenfigur sondergleichen zu machen.
Der Hundertjährige Krieg endete 1453. Johannas Rehabilitierung von einer vom Teufel besessenen Hexe zur beispielhaften Kämpferin für den König und das französische Volk fand 1456 statt. Zur Heiligsprechung kam es zwar erst 1920 unter Benedikt XV., doch als Schutzpatronin der französischen Nation – neben einigen anderen Heiligen Frankreichs – galt sie schon längst.
Historiker kirchlicher und patriotischer Provenienz beschäftigten sich verständlicherweise zunächst mit den Prozessakten der Inquisition und deren Folgen für das aufgeklärte Frankreich. Die Dichter und Schriftsteller aber versuchten das rätselhafte Phänomen der Jeanne d’Arc jeweils aus den psychologischen Bedingungen und Wissensinteressen der eigenen Epoche zu erfassen. Die Wirkungsgeschichte dieser Frau ist reich an Meisterwerken dichterischer, dramatischer und erzählerischer Kunst. Diese erstrecken sich von hagiographischer Legendenbildung bis zu Voltaires respektlosem Spott-Epos in Alexandrinern, genannt «La pucelle d’Orléans» (1762), einer Kampfschrift gegen Kirche und Kleriker, so unverschämt und witzig, dass Voltaire selbst darüber lebenslang stolz war.
Im verehrenden Sinn für die Frau aus dem Nichts, die zur Retterin der Nation wurde, ging es später weiter mit Schillers Theaterstück (1801) zu jenen von George Bernard Shaw (1924), Claudel (1939) und Anouilh (1953). Brecht behandelte den Johanna-Stoff sogar zweimal: in «Die Heilige Johanna der Schlachthöfe» (1932) und in «Die Geschichte der Simone Machard» (1957), diesem jeweils sehr geschickt das eigene ideologische Gewand verpassend. Einen vergleichbaren europaweiten thematischen Bühnenerfolg wird man nicht so leicht finden!
Jeanne d’Arc in der Oper
Mehrere grossartige Vertonungen der Jeanne d’Arc-Thematik gibt es auch als Oper. Die bedeutendsten sind Verdis «Giovanna d’Arco» von 1845 und Tschaikowskis «Orleanskaja dewa» von 1881. Als Oratorium ist der Stoff in Arthur Honeggers «Jeanne d’Arc au bûcher» (1938) eingegangen, basierend auf dem Text von Paul Claudel. Die Jungfrau von Orléans ist längst auch zu einem beliebten Thema der Popkultur avanciert. Denn jede Zeit braucht Helden, zumal wenn die Geschichte diese zu einem rätselhaft attraktiven Wesen mit menschlich schwer deutbaren Handlungsimpulsen hat heranwachsen lassen.
Wir beschäftigen uns hier mit der Verdi-Variante der Johanna-Geschichte. Er holte sich als Textbearbeiter von Schillers Drama den begabten, aber auch beruflich rätselhaft wankelmütigen Temistocle Solera (1815–1878), der im romantischen Italien Aufsehen erregte als Librettist, Komponist, Dichter, Diplomat, Polizeichef und Antiquar – und trotz hoher Begabung am Ende enttäuscht und verarmt aus dem Leben schied. Dass er wusste, wie das Publikum Geschichte auf der Bühne erleben wollte, beweist vielleicht mehr noch als «Giovanna d’Arco» Verdis grosser Jugenderfolg «Nabucco» (1842), zu dem er – neben anderen Werken – für diesen Komponisten das Libretto schrieb.
Als «Giovanna d’Arco» 1845 an der Scala di Milano Premiere hatte, ging es weder dem Librettisten noch dem Komponisten um eine getreue Darstellung der französischen Geschichte, sondern um die wirksame Darbietung dieses unerhörten Mädchenschicksals. Hier stirbt Jeanne d’Arc nicht auf dem Scheiterhaufen, sondern sie, die in englische Gefangenschaft geraten ist, sorgt für einen zweiten Befreiungsschlag zugunsten des französischen Königs in einer Schlacht, bei welcher sie getötet wird, die Engländer aber in die Flucht geschlagen werden.
Nicht in einen Burgunder oder einen Engländer – wie in anderen Fassungen des Stoffes –, sondern in den französischen König selbst darf sich Giovanna in der Oper verlieben. Eine vollkommen unhistorische und neu erfundene Figur ist die ihres Vaters Giacomo, der seine Tochter vor König und Volk als die mit dem Teufel im Bunde stehende Hexe denunziert und verklagt. Die im Kampf tödlich verletzte Kämpferin erwacht im Finale auf der Totenbahre noch einmal zum Leben – ein echtes Wunder! – und erlaubt dem Komponisten jenen verklärenden Schluss, bei dem sich der Himmel öffnet, zu dem sich Giovannas Seele erhebt. Bei solch hymnischer Apotheose bleibt keine Menschenseele im Opernhaus unberührt.
Vergöttlichung und Verteufelung, kunstvoll gespiegelt
Verdi wurde von den Produktionsbedingungen der Scala so enttäuscht, dass er danach diesem Haus für 24 Jahre keine Premiere mehr anvertraute, nämlich bis zur zweiten Fassung seiner «La forza del destino» im Jahr 1869. Dennoch war diese Oper aufgrund der grossartigen Chor- und der Ensembleszenen – Duette und Terzette, diese gelegentlich auch ergänzt durch den Chor – eine wichtige Stufe in der Entwicklung seiner musikdramatischen Kunst. In diesem Werk ist besonders bemerkenswert, wie Verdi die Mächte des Himmels (Chor der Engel) und jene der Hölle (Chor der Dämonen) gegen- und miteinander einsetzt, um die schwer auseinanderzuhaltende Verherrlichung und Verteufelung der Heldin durch die handelnden Figuren zu charakterisieren. Wie nahe Vergöttlichung und Verteufelung im menschlichen Herzen beieinanderliegen, kann man in dieser Oper in verschiedenen Szenen erleben.
Ausgewählt ist hier die Schlussszene der Oper, in welcher Giovanna noch einmal auf der Bahre erwacht und ihre Mission als Retterin ihrer irdischen Heimat erfüllt sieht. Nun kann und darf sie in ihre himmlische Heimat zurückkehren. Im Spätmittelalter war das Wort «patria» noch kein Wort, das für die Italiener von emphatischer Bedeutung war. In der Lebenszeit Verdis wurde es hingegen zu einem Schlüsselbegriff des Risorgimento. Und Giovanna d’Arco zu seiner Schlüsselfigur des Kampfes für eine freie «patria».
Ein stimmliches Trio, gesungen von den drei zentralen Figuren: Giovannas Sopran, König Carlos Tenor, Vater Giacomos Bariton, und grundiert von einem geteilten Chor, jenem der Engel und jenem der Dämonen. Giovanna, sich in ihre Kriegsfahne hüllend, singt ihre letzten Worte: «Addio terra, addio gloria mortale.» Sie erblickt die sie bereits erwartende und ihr entgegenlächelnde Himmelskönigin. «Hoch hinaus fliege ich, schon sehe ich mich leuchten in der Sonne.»
Die hier gewählte Aufnahme stammt aus dem Jahr 2015 von der Eröffnungsvorstellung der Saison der Scala di Milano unter der neuen Leitung von Riccardo Chailly. Anna Netrebko sang die Giovanna, König Carlo war Francesco Meli, Vater Giacomo wurde interpretiert von Carlos Alvarez. Man kann – von RAI aufgezeichnet – auf Youtube auch die gesamte Oper sehen und erleben. Für Musikliebhaber, die sich nicht an verfälschter und arg heroisierender Geschichte ärgern, ein wunderbares Verdi-Erlebnis!